Vortrag im Rahmen des ThomasForums - begegnen, bilden, glauben
- 10.01.2018
- Landesbischof Dr. Carsten Rentzing
Gemeinschaft des Glaubens - Theologische Strömungen in der sächsischen Landeskirche
1 Vorbemerkungen
Titel und Thema dieses Vortrages stehen unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen der letzten Jahre, die vor allem zu ethischen Themen in der sächsischen Landeskirche geführt wurden. Diese Auseinandersetzungen haben große Leidenschaft hervorgerufen. Verwunderlich ist dies nicht. Die Fragen der Sexualethik bewegen die Menschen. Es gibt kaum ein anderes ethisches Thema, das dem einzelnen Menschen so nahe kommt. Hier kann und hier will jeder mitreden. Ganz gleich ob er glaubt oder nicht glaubt. In der Kirche war man darum bemüht, den aufbrechenden Dissens am unterschiedlichen Schriftverständnis festzumachen. Wie hat man die einzelnen Aussagen der Heiligen Schrift auszulegen? In der sächsischen Landeskirche wurde dazu ein dreijähriger Gesprächsprozess durchgeführt. Mehr oder weniger intensiv wurde dabei über das unterschiedliche Schriftverständnis debattiert und die Konsequenzen für die Einheit der Kirche bedacht. Diese Konzentration auf die sogenannten hermeneutischen Fragen birgt bei aller Berechtigung allerdings eine gewisse Gefahr in sich. Es könnte dabei verborgen bleiben, dass hinter den hermeneutischen Grundentscheidungen letztendlich theologische Grundentscheidungen stehen. Es geht um die Frage der Gottheit Gottes und was wir darunter verstehen und welche Konsequenzen sich für unser Leben daraus ergeben. Auf diese Fragen sind zu unterschiedlichen Zeiten in der Kirchengeschichte von unterschiedlichen Personen unterschiedliche Antworten gegeben worden. Daraus hat sich das entwickelt, was man theologische Strömungen in der Kirchengeschichte nennen könnte. Die Kirche ist dabei seit jeher von einer großen Vielfalt geprägt. Diese Vielfalt begegnet uns bereits umfänglich in den Texten des Neuen Testamentes. Vier Evangelien berichten in je eigener Weise von Christus. Gemeinsames und Unterschiedliches ist dabei jeweils inbegriffen. Und auch von Streitigkeiten in den frühen Gemeinden erfahren wir eindringlich: 1. Kor 1, 10 - 12!
Hinter den hier genannten Personen kann man theologische Positionen vermuten, die unter den Gläubigen in Wettstreit gerieten. Das bringt Paulus dazu, seine Position noch einmal zu verdeutlichen und klar zu machen, dass diese in nichts anderem besteht als in Christus. Christus ist deshalb für ihn auch der Riegel vor alle Spaltungen. So wie Christus eben auch das einigende Band der vier Evangelien ist. Die Vielfalt erwächst aus der gemeinsamen Wurzel oder Quelle, die nichts und niemand anderes ist als Christus! D. h. die Vielfalt bleibt verbunden!
2 Strömungen - keine Schubladen
Gewöhnlicherweise werden zwei gegenwärtige Hauptströmungen in der Kirche mit den Begriffen „liberal" und „pietistisch" („evangelikal") bezeichnet. Ich verwende diese Begriffe hier nicht als Schubladen und auch nicht plakativ. Mir ist wohl bewusst, dass theologische Haltungen in der Regel komplexer sind als dass man sie mit einem Begriff auf den Punkt bringen könnte. Und doch haben sie sich als Bezeichnungen eingebürgert. Bei aller Unzulänglichkeit sind sie eben auch nicht aussagelos.
Einerseits gelten diese Begriffe als Kontrapunkte, andererseits gehört es zu der Lebenswirklichkeit der sächsischen Kirche, dass das gemeinsame lutherische Bekenntnis eine einigende Verbindung darzustellen vermag.
Bevor ich auf das einigende Potential dieses Bekenntnisses zu sprechen komme, möchte ich noch kurz darauf eingehen, was eigentlich unter der liberalen und der pietistischen Strömung inhaltlich zu verstehen ist.
Die Quellen der liberalen Theologie sind bereits in der frühen Kirche zu finden. Schon die sogenannten Apologeten des 2. Jahrhunderts waren darum bemüht, den Glauben mit der Vernunft der Welt zu versöhnen. Ihre Ansprechpartner waren die Gebildeten der damaligen Zeit. Und in der sogenannten alexandrinischen Theologie des 3. Jahrhunderts geht es darum, „das Christentum in seiner positiven Bestimmung für die geistige Welt zu entdecken und zu erschließen." (Beyschlag) Bildung und Gegenwartskultur der Welt stehen in keinem Gegensatz zum Glauben. Sie gehören vielmehr zusammen. Der Zeitgeist erscheint so nicht als diabolisches und bedrohliches Etwas sondern als Ausdruck des geschichtlichen Waltens Gottes. An diese Grunderkenntnisse knüpfen liberale Theologien zu allen Zeiten an. Indem sie in der Geschichte der Kirche wirksam wurden, haben sie die Kirche davor bewahrt, sich aus der Welt zurückzuziehen und damit ihre Welt-Bedeutung zu verlieren. Die Gefahr lag und liegt freilich darin, sich an die Welt zu verlieren. Und Bildung und Kultur vermögen den Gottesglauben derart zu gestalten, dass der Gedanke an Gott blutleer und tot wird. In seinem berühmten Wort aus dem memorial bringt es Blaise Pascal so zum Ausdruck: Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten. Genau hier setzt denn auch der pietistische Zweig an. Auch seine Quellen liegen weit zurück. Ich will hier den Kirchenvater Augustinus aus dem 5. Jahrhundert nennen. Mit seinen confessiones (Bekenntnissen) hat er die Bekehrungsliteratur erschaffen. „Inqietum est cor nostrum donec requiescat in te." Unruhig ist unser Herz bis es Ruhe findet in Dir: So heißen seine berühmten Worte auf den ersten Seiten der Bekenntnisse. Es geht im Glauben nicht um die Befriedigung intellektueller oder auch kultureller Bedürfnisse. Es geht um eine praxis pietatis, die dem Einzelnen im Herzen Frieden bringt. Die persönliche Gottesbeziehung schafft einen neuen Lebenswandel, der sich im Zweifel vom Wandel der Welt erheblich abhebt. Das bedrohliche Potential der Welt wird bei Augustinus wieder stärker empfunden. Die Gnadenabhängigkeit des Menschen wird größer. Pietistische Strömungen haben daran immer wieder angeknüpft und insofern sie in der Kirche wirksam wurden, die Kirche davor bewahrt, sich in eine kulturelle Funktion der Gesellschaft und Welt hinein zu verflüchtigen.
Beide Strömungen sind also produktiv gewesen und die Frage ist schon, ob diese Produktivität nicht in einem komplementären Verhältnis, einer komplementären Zuordnung nutzbar zu machen ist. Komplementär heißt ja, dass scheinbar Gegensätzliches doch in eine Beziehung zueinander tritt und zu etwas Konstruktivem führt. Entscheidend ist nur, dass es ein Bezugssystem gibt, in dem das funktioniert. Und wie ich bereits andeutete, sehe ich im lutherischen Bekenntnis für unsere sächsische Kirche genau dieses Bezugssystem.
3. Die Gemeinschaft des Glaubens: Lutherisch
Wenn man danach fragt, was lutherisch sei, landet man bei Kernbegriffen und Aussagen der Reformationsgeschichte. Und so möchte auch ich anhand einiger Begriffe die integrative Kraft des lutherischen Bekenntnisses hervorheben.
Der Glaubensartikel, mit dem alles steht und fällt, der Glaube, die Kirche, die ganze Welt, ist der Rechtfertigungsartikel. Das hat die lutherische Theologie sehr früh betont. Nun ist es nicht gerade leicht, in einer Zeit, in der es vielmehr um Rechthaben geht von Rechtfertigung zu sprechen. Über diesen Sachverhalt hat Martin Walser ein bemerkenswertes Büchlein geschrieben: Rechthaberei statt Rechtfertigung als Geist der Zeit. Und doch ist die Rede von der Rechtfertigung bis auf den heutigen Tag evangelisches Urgeschehen. Nicht nur für die lutherische Seite, sondern für alle, die sich evangelisch fühlen. Die Frage ist nur, ob wir noch recht verstehen, wovon wir da eigentlich reden. Da die Rechtfertigungslehre in ihren ursprünglichen Formulierungen aus der Bibel und aus der Theologiegeschichte schwer verständlich erscheint, war und ist man bemüht, den Inhalt dieser Lehre so umzusprechen, dass er verstanden werden kann. „Gott liebt Dich", heißt es dann. Oder auch: „Gott liebt Dich so, wie du bist." In solchen liberalen Auslegungen konzentriert man sich auf die Gerechtsprechung des Gerechtfertigten, während pietistische Theologien demgegenüber die Verlorenheit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen betonen. Beides aber tritt zueinander im lutherischen Rechtfertigungsverständnis. Danach liebt uns Gott nicht so, wie wir sind. Gott liebt uns vielmehr, obwohl wir so sind wie wir sind. Er macht den Sünder gerecht. Er rettet den Verlorenen. Wir können von der Gerechtigkeit nicht reden ohne die Sünde. Und wir können von der Sünde nicht reden ohne die Gerechtigkeit. Der bußfertige Sünder wird um des Glaubens an Jesus Christus willen gerechtfertigt vor Gott: Wie es klassisch dazu heißt.
Auch in der Rede von Gesetz und Evangelium können pietistische und liberale Ansätze im lutherischen Bekenntnis zueinander finden. Bemerkenswerterweise hat man beiden Ansätzen in je eigener Weise Gesetzlichkeit vorgeworfen, also eine Auflösung des Evangeliums in das Gesetz. Während im liberalen Engagement für die Welt und ihre Verbesserung das Evangelium als Frohe Botschaft an die Verlorenen zu verblassen droht, führt die pietistische Erfüllung des Evangeliums in der persönlichen Heiligung ebenfalls zu einer Vergesetzlichung und Nihilierung des Evangeliums. Die im Gesetz liegende Forderung Gottes an unser Leben wird nicht mehr zum Indikator unseres Scheiterns und unserer Erlösungsbedürftigkeit. Sie treibt uns nicht mehr in die Arme des Evangeliums und des Herrn Jesus Christus. Sie droht vielmehr zum eigentlichen Grund und Ziel des Glaubens zu werden. So aber entfernen wir uns von der reformatorischen Rede von Gesetz und Evangelium. Die Freisprechung des Sünders ist die eigentliche Botschaft des christlichen Glaubens. Nicht der moralische Appell an deine persönliche Lebensführung und an die Welt. Nicht von ungefähr setzt genau hier eine gegenwärtige Hauptkritik an kirchlichen Verlautbarungen an. Die Welt ahnt, dass ihr damit etwas verloren geht! Sie ahnt, dass die Kirche der Welt so etwas schuldig bleibt.
Und schließlich die Realpräsenz Christi. Das Wort von der Realpräsenz ist erst später aufgekommen. Gemeint ist damit das, was Luther bei der Feier des Heiligen Abendmahls angenommen hat. Christus ist mit seinem Leib und Blut nicht nur im abgeleiteten Sinne, nicht nur im Geiste anwesend, sondern leiblich und real. In den Bekenntnissen der lutherischen Kirche heißt es: „wahrhaftig".
Ausgangspunkt dieser Vorstellung ist die Menschwerdung Christi. Auch in der Geburt des Kindes im Stall von Bethlehem kommt Gott real als Kind zur Welt. Während liberalen Ansätzen dabei die Menschheit Gottes besonders wichtig war und ist, ist pietistischen Ansätzen vor allem die Gottheit des Menschen entscheidend. Der Clou aber besteht gerade darin, dass beides stimmt. Gottheit und Menschheit treten zusammen. Leib und Blut und Brot und Wein treten zusammen. Unser Glaube spielt sich nicht in irgendwelchen höheren Sphären ab sondern hier und jetzt in der Materie, die uns umgibt. Zu dieser Materie aber tritt eine neue Realität hinzu, die auch neue Realitäten schafft.
In der Realpräsenz sind Gott und Welt vereint. Liberal an dieser lutherischen Sicht ist, dass es um diese Welt und dieses Leben dabei geht. Pietistisch daran ist, dass Gott persönlich und existentiell in dein Leben tritt. Für Luther waren bei der Feier des Heiligen Abendmahls zwei Worte besonders wichtig: „Für Dich". Für Dich ist Christus gekommen. Für Dich ist Er gestorben. Für Dich wird Er unter Brot und Wein ausgeteilt. Die Realität Gottes bleibt kein abstraktes Weltereignis. Sie wird zur persönlichen Realität des Gläubigen, die in die Welt zurückwirkt.
Wo so liberale und pietistische Ansätze miteinander in ein konstruktives Verhältnis gesetzt werden und sich vom gemeinsamen lutherischen Bekenntnis auf Maß und Mitte bringen lassen, werden sie sich als kirchlich fruchtbar erweisen und ihren Dienst an der Kirche weiter übernehmen. Darin liegt die These dieses Vortrages. Und darüber komme ich jetzt gerne mit Ihnen ins Gespräch.