Vortrag im Rahmen des ThomasForum - begegnen, bilden, glauben

  • 14.03.2018
  • Bischof i.R. Prof. Dr. Wolfgang Huber

Wolfgang Huber
Der Designermensch – kommt eine neue Ära der Gentechnik?
Vortrag im Thomasforum Leipzig am 14. März 2018

I.

Eine aktuelle Nachricht vorneweg: Die Gentechnik kommt im Koalitionsvertrag für die Arbeit der neuen Bundesregierung nicht vor. Zur Prüfung der Frage, ob geplante politische Entscheidungen in diesem Feld ethische Probleme aufwerfen, besteht also kein Anlass. Denn das Thema kommt nicht vor. Dort, wo von Innovationen im Feld der Medizin die Rede ist, steht die Digitalisierung in der Medizin und die Förderung der Telemedizin ganz im Vordergrund. Ein Nationale Dekade gegen den Krebs soll ausgerufen werden; globale Aspekte der Gesundheitsvorsorge stehen auf dem Programm wie Forschungen zu Lungen- und Immunerkrankungen, zu Demenz und psychischen Erkrankungen, zur Kinder- und Jugendmedizin. Überaus wichtige Themen. Doch keine der großen bioethischen Fragen, die uns in den letzten Jahren intensiv beschäftigt haben, taucht im Koalitionsvertrag auf: Embryonenforschung und Präna-Test, Gentechnologie und Genomchirurgie kommen nicht vor. Die Reproduktionsmedizin wird nur insoweit erwähnt, als das Abstammungsrecht an die neuen reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten angepasst werden soll. Das Wort „Sterben“ kommt nur im Zusammenhang mit dem „Insektensterben“ vor.
Nun nimmt niemand an, dass in den nächsten vier Jahren nur das passieren wird, was im Koalitionsvertrag steht. Die genetische Forschung und die Entwicklung neuer Formen der Genomchirurgie steht vor vergleichbar dramatischen Entwicklungen wie die Digitalisierung.
 „Was sind die nächsten Mauern, die fallen?“ Danach fragt Jahr für Jahr in Berlin, jeweils am 9. November, die Konferenzserie „Falling Walls“. Sie ergründet, welche Mauern heute fallen müssen oder niedergelegt werden können. Am 9. November 2015 berichtete Emanuelle Charpentier, Direktorin am Berliner Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie, über die Mauer, die durch die Entwicklung eines genomchirurgischen Verfahrens überwunden werden soll, das den sperrigen Namen CRISPR-Cas9 trägt. Sie berichtete über das atemberaubende Tempo, in dem aus der Selbstverteidigung von Bakterien gegen Viren eine Methode abgeleitet wurde, präzise in ein Genom einzugreifen und es zu verändern. Revolutionär, so war die These, ist diese Methode nicht nur im Blick auf das menschliche Genom, sondern von großer praktischer Bedeutung ist es auch im Blick auf Pflanzen und Tiere. 1
Das Kürzel CRISPR ist die Abkürzung für einen antiviralen Abwehrmechanismus von Bakterien. Die Abkürzung steht für "clustered regularly interspaced short palindromic repeats", also kurze palindromische Wiederholungssequenzen. Dieses anpassungsfähige Immunsystem kann sich die DNA-Sequenzen von viralen Erregern merken und bei einer neuen Infektion deren DNA zerschneiden. „Das CRISPR-System "erntet" virale DNA und integriert Stücke von ihr zwischen den Wiederholungssequenzen ins bakterielle Erbgut. Dadurch produziert die Zelle RNA-Gegenstücke zur VirusDNA, die sich mit den Cas-Proteinen zusammenfindet. Versucht ein Virus mit dieser DNA die Zelle noch einmal zu infizieren, "erkennt" die RNA das VirenGenom: Die Cas-Proteine zerschneiden dann das virale Erbgut, so dass es keinen Schaden mehr anrichtet. Sind in diesem Augenblick nur die beiden getrennten Teile des Erbguts vorhanden, greift ein zellulärer Reparaturmechanismus, der sie wieder zusammenfügt – der aber ist oft unpräzise und produziert zufällig so genannte Indels, kleine DNA-Stücke, die an der Schnittstelle eingefügt oder ausgeschnitten werden und Gene unter Umständen unbrauchbar machen. Wenn in der Zelle aber ungebundene DNA mit losen Enden herumschwirrt, baut ein anderes, genaueres System (HDR, homology-directed repair) sie nahtlos an der geschnittenen Stelle ein und erzeugt so gezielte Veränderungen im Erbgut.“ Im Folgenden nehme ich die Darstellung im „Spektrum der Wissenschaft“ vom 24.03.2017 sowie 1 vom 01.03. 2018 auf. Ursprung des Gene Editing ist die Erkenntnis, dass die Cas-Proteine jede beliebige DNA zerschneiden, sofern man ihnen die passende Erkennungs-RNA mitgibt. Mehr macht CRISPR/Cas9 auch nicht: Nach dem Schnitt verlässt man sich auf die natürlichen Reparaturmechanismen der Zelle, die nun von selbst zum Tragen kommen. Diesen Abwehrmechanismus hat man entdeckt und sich auf die Suche nach Möglichkeiten gemacht, ihn therapeutisch einzusetzen. Mit diesem Mechanismus kann man an bestimmten angezielten Stellen DNA schneiden; deshalb spricht man von Genomchirurgie. Wenn es schädliche DNA ist, die man wegschneidet, hat man möglicherweise einen therapeutischen Effekt. Aber man muss bedenken: „Eigentlich eignet sich die Genschere nur zum Schneiden. Möchte man neues Erbgut einbauen, muss man sich dabei auf die Zelle verlassen. Die aber ist oft nur mäßig hilfreich, in vielen Fällen ist das Gene Editing nicht effektiv genug, um wie gewünscht gleich mehrere Gene auf einmal zu verändern. Zusätzlich schneidet CRISPR/Cas9 nicht an allen Stellen des Erbguts.“ Deshalb arbeiten Wissenschaftler nun an einer Weiterentwicklung mit dem Namen xCas9. „Erste Tests von xCas9 waren erfolgreich: Die Schere konnte sehr kleine Genabschnitte entfernen und arbeitete womöglich sogar so genau, dass nur eine einzelne Base punktgenau ausgeschnitten wurde. Zudem scheint sie zur Überraschung der Forscher seltener in so genannten Off-target-Regionen zu arbeiten als das Original-Cas9-Enzym, das Erbgut also an Stellen zu schädigen, die nicht Ziel des Einsatzes waren. Dies – der sehr wünschenswerte Eigenschaftenmix aus besserer Erkennung des Genabschnitts, um den es geht, bei gleichzeitig hoher Treffgenauigkeit – muss sich nun in weiteren Versuchen durch andere Forschergruppen bestätigen.“ Der Schritt vom Entfernen schädlicher Informationen zum Einfügen gewünschter genetischer Informationen scheint noch groß zu sein. Der Schritt zum Designerbaby oder zum Designermenschen ist noch nicht vollzogen, auch nicht in den problematischen Versuchen in China, bei denen eine große Zahl von Embryonen „verbraucht wird“. Nicht nur der mögliche Übergang zum Designermenschen, sondern auch das Überschreiten der ethischen Grenze zur verbrauchenden Embryonenforschung gehört also zu den ethischen Problemen, die mit dieser Methode verbunden sind oder verbunden sein können.

Man hat diese Neuerung bereits als „die medizinische Entdeckung des Jahrhunderts“ (also keineswegs nur seiner ersten fünfzehn Jahre) bezeichnet. 2 Von einer „neuen Ära“ ist die Rede, die sich mit dieser revolutionären Entdeckung verbinde. In populären Darstellungen wird sogar von einem „Gottes-Werkzeug“, in anderen von einer „Zauberschere“ gesprochen. Wo eine wissenschaftliche Entdeckung mit derartigen Worten beschrieben wird, gerät das ethische Urteil leicht in den Sog gegenläufiger Deutungen. Sie oszillieren zwischen Mauerfall und Dammbruch, zwischen dem Aufbruch in eine neue Freiheit mit ihren ungeahnten Möglichkeiten und dem Abrutschen auf einer schiefen Ebene, auf der es kein Halten gibt. Euphorische Betrachtungsweisen steigern die Chancen des Neuen bis hin zu Heilsversprechen; apokalyptische Sichtweisen betrachten die Risiken als unabwendbares Unheil. Was die einen als „Gottes-Werkzeug“ preisen, kritisieren die anderen als den vermessenen Versuch, „Gott zu spielen“. Im einen wie im andern Fall leitet dabei ein merkwürdiger Gottesbegriff die Deutung naturwissenschaftlicher Entdeckungen. Gott als Welt-Demiurgen zu verstehen, der mit dafür geeigneten Werkzeugen die Evolution kausal steuert, ist mit einem reflektierten Gottesverständnis kaum zu vereinbaren. Denn dieses zielt auf den Sinn der Welt als guter Schöpfung und auf die Bestimmung des Menschen, zu dieser Güte beizutragen. Die Mitgestaltung der Welt mit den Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis entweder als Entdeckung eines Gottes-Werkzeugs zu preisen oder umgekehrt deshalb zu begrenzen, weil der Mensch dadurch in eine kausal definierte Funktion Gottes eingreife, ist im einen wie im andern Fall verfehlt. Im einen Fall wird der euphorische, im andern der apokalyptische Zugang zu neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten religiös gesteigert; die kritische Auseinandersetzung mit solchen Zugängen wird dadurch gerade blockiert.
 Leitend ist für beide Zugänge das Fortschrittsparadigma, bei den Apokalyptikern allerdings mit negativem Vorzeichen. Euphoriker und Apokalyptiker eint eine Haltung des Alles oder Nichts. Ihre Energie speist sich aus der Leidenschaft, etwas ganz oder gar nicht zu wollen. Eine ethische Reflexion über die Verantwortbarkeit menschlichen Verhaltens ist demgegenüber gut beraten, den Weg des Abwägens zu gehen. Abzuwägen sind Chancen und Risiken; zu bedenken sind die intendierten Ziele ebenso wie die beabsichtigten oder nicht beabsichtigten Folgen möglichen Handelns.
 Verschiedene Beispiele für die Notwendigkeit ethischen Abwägens werden bereits diskutiert. Im Bereich der grünen Gentechnik können mit der neuen Methode Pflanzen entwickelt werden, die gegen Trockenheit, Schädlinge oder hohen Salzgehalt des Bodens immun sind oder sich besonders gut zur Energiegewinnung eignen. In Pflanzen oder Tieren kann das Erbmaterial auf dem Weg des „gene drive“ so verändert werden, dass auf Dauer Resistenzen gegen bestimmte Infektionserreger erzielt werden; damit beeinflusst man zugleich den Genpool im Ganzen. Schon dies ist auch für den Menschen von großer Bedeutung, wie das Beispiel der Gelbfiebermücke zeigt, die Zika-Viren auf Menschen überträgt. In solchen Fällen des „gene drive“, also der direkten Einwirkung auf das Erbmaterial, kann man derartige Genomveränderungen nicht ohne ihre Auswirkungen für die jeweilige Gattung und ohne ihre Umweltfolgen betrachten. Auch andere Formen der Anwendung auf Tiere wirken sich unmittelbar auf den humanmedizinischen Bereich aus: Wenn es beispielsweise gelänge, Gene aus dem Genom von Schweinen auszuschalten, die für den Menschen gefährlich sein können, rückte die Möglichkeit der Xenotransplantation von Tierorganen auf den Menschen in erreichbare Nähe. Die Komplexität der ethischen Fragen zeigt sich an solchen Beispielen eindrücklich.
Erst recht gilt das für die unmittelbare Anwendung der neuen Möglichkeiten auf den Menschen. Dabei ist grundsätzlich zwischen der Genomchirurgie an Körperzellen und an Keimzellen zu unterscheiden. Genomchirurgie an somatischen Zellen ist in ihren Auswirkungen auf das jeweilige Individuum beschränkt; Eingriffe in die Keimbahn haben, wenn sich daraus Individuen entwickeln, Konsequenzen für alle Nachkommen dieser Individuen. Die lebensgeschichtlichen Implikationen von Keimbahneingriffen für die einzelne davon betroffene Person wie für ihre möglichen Nachkommen greifen unvergleichlich viel weiter, als dies bei genomchirurgischen Eingriffen in die somatischen Zellen eines Menschen der Fall ist. Ebenso notwendig wie die Unterscheidung zwischen Eingriffen in Körperzellen und in Keimbahnzellen ist die Unterscheidung zwischen therapeutischen Zielen und Zielen der Perfektionierung bei solchen Eingriffen. Freilich sind solche Unterscheidungen angesichts der dynamischen Forschungsentwicklung keineswegs immer so eindeutig anzuwenden, wie man dies aus ethischer Perspektive für nötig hält.
Eine Momentaufnahme der Problemlage reicht für das ethische Urteil nicht zu. Vielmehr muss man nach Entwicklungstendenzen fragen, die sich aus dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik ergeben können. Jürgen Habermas hat bereits im Jahr 2001, also vor inzwischen fünfzehn Jahren, ein Szenario der mittelfristigen Entwicklung vorgetragen, das er schon damals für wahrscheinlich hielt. Er rechnete zunächst mit einer moralischen und rechtlichen Anerkennung der Präimplantationsdiagnostik (PID) für diejenigen Fälle, in denen auf Grund einer genetischen Vorbelastung eine schwere, für die Eltern und das betroffene Kind nicht zumutbare Erbkrankheit befürchtet werden muss. Die rechtliche Anerkennung der PID erfolgte tatsächlich im Jahr 2011. Daran schloss Habermas 2001 die weitere Prognose an, dass im Rahmen der weiteren Entwicklung der Biotechnik entsprechende gentechnische Eingriffe in Körperzellen oder gar Keimbahnen folgen würden, um vergleichbare Erbkrankheiten zu verhüten. Damit verbinde sich die Aufgabe, die somit gerechtfertigte ,negative‘ Eugenik von einer - zunächst als ungerechtfertigt betrachteten - ,positiven‘ Eugenik abzugrenzen. Doch diese Grenzen seien im Zuge der wissenschaftlichen Entwicklung fließend. Folglich sollen wir „genau in den Dimensionen, wo die Grenzen fließend sind, besonders präzise Grenzen ziehen und durchsetzen. Dieses Argument dient heute schon (sc. 2001) zur Verteidigung einer liberalen Eugenik, die eine Grenze zwischen therapeutischen und verbessernden Eingriffen nicht anerkennt, aber die Auswahl der Ziele merkmalsverändernder Eingriffe den individuellen Präferenzen von Marktteilnehmern überlässt“.
Noch nach fünfzehn Jahren beschreibt dieses Szenario die Lage mit einer geradezu erschreckenden Genauigkeit. Die begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik hat 2011 den Rahmen bestimmt, innerhalb dessen nun weitergehende genomchirurgische Interventionen in Körperzellen und Keimzellen diskutiert werden. Ob dabei mit ausreichender Trennschärfe zwischen solchen Interventionen, die auf die Vermeidung oder Heilung von Krankheiten gerichtet sind, und anderen, die auf die Verbesserung der genetischen Ausstattung zielen, unterschieden werden kann, zeichnet sich schon jetzt als eine Schlüsselfrage der anstehenden Debatten ab. In der ethischen Diskussion über neue medizinische Herausforderungen haben vier medizinethische Prinzipien eine herausragende Bedeutung gewonnen: Fürsorge, Schadensvermeidung, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit. An diesen vier Prinzipien sollen im Folgenden die moralisch-ethischen Grundprobleme der Genomchirurgie erörtert werden.

1. Das Prinzip der Fürsorge wird treffender mit dem Wort „Wohltun“ (,beneficence‘) bezeichnet. Die Aufgabe, anderen Gutes zu tun, also ihrer Verletzlichkeit mit Empathie zu begegnen, der Gefährdung ihres Lebens Einhalt zu gebieten, Leid zu vermeiden, zu überwinden oder doch wenigstens zu lindern - kurzum: die Solidarität mit den Leidenden gebietet, Möglichkeiten des Heilens zu entwickeln und zu nutzen. Gentechnische  Verfahren sind dabei nicht ausgeschlossen; von ihnen wird im Bereich der Humanmedizin bereits vielfältig Gebrauch gemacht. Wie wahrscheinlich es ist, dass genomchirurgische Verfahren vom Typ CRISPR-Cas9 an Körperzellen zu verlässlichen, treffgenauen, von unbeabsichtigten Nebenwirkungen freien Therapien bisher nicht ausreichend behandelbarer Krankheiten führen, ist noch nicht geklärt. Doch wenn diese Verfahren an somatischen Zellen solche Ergebnisse zeitigen, ohne mit negativen Folgewirkungen verbunden zu sein, wird das Prinzip der beneficence, der Solidarität mit den Leidenden dafür sprechen, solche therapeutischen Möglichkeiten zu entwickeln und einzusetzen.
 Isoliert unter dem Gesichtspunkt der beneficence betrachtet, ist auch die Genomkorrektur an Keimzellen eine mögliche Wohltat. Wenn sie eine genetische Abweichung korrigiert, die vielleicht eine Erkrankung im Lebensverlauf zur Folge hat, dient sie der Vermeidung möglichen Leidens, verhindert gegebenenfalls den Ausbruch der Krankheit und macht darüber hinaus aufwändige und lästige Kontrolluntersuchungen sowie gegebenenfalls Therapien unnötig, fördert also die Lebensqualität. Der Einwand, dass es sich um eine „künstliche“, „unnatürliche“ Beseitigung einer genetischen Fehlentwicklung handelt, wird in der aktuellen Diskussion zu Recht zurückgewiesen. Denn allen heilenden Eingriffen – sogar solchen der „Naturheilkunde“ – ist gemeinsam, dass sie planmäßige Interventionen sind, die nicht einfach der Natur ihren Lauf lassen. Deswegen gibt es – im Unterschied zu naturwüchsigen Vorgängen – für all diese Prozesse auch personal identifizierbare Urheber, die zu verantworten haben, was sie durch ihre Intervention in Gang setzen. Auch Keimbahninterventionen gehören deshalb in den Horizont einer Ethik der Verantwortung. Der mögliche Patientennutzen ist nur einer der Gesichtspunkte, unter denen die Keimbahnintervention zu betrachten ist. Über ihn hinaus ist zu fragen, ob eine Prüfung an anderen Prinzipien als dem der beneficence zu einem vergleichbar positiven Ergebnis führt.

2. Neben die beneficence tritt die nonmaleficence, die Aufgabe der Schadensvermeidung. Die Vermeidung von Nebenwirkungen und negativen Folgewirkungen bei Eingriffen in Körperzellen wurde schon hingewiesen. Deshalb soll hier nur erörtert werden, was sich aus dem Prinzip der Schadensvermeidung für Eingriffe in die Keimbahn ergibt. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden. Der eine Aspekt bezieht sich auf unbeabsichtigte Mutationen an anderen Stellen im Genom (off-target-Wirkungen), auf unbeabsichtigte Nebenwirkungen der gezielten Beseitigung eines genetischen Defekts oder auf epigenetische Effekte, die sich aus der Wechselwirkung zwischen Genen und Umweltfaktoren ergeben. Doch solche Auswirkungen – das ist der andere Aspekt – betreffen nicht nur das Individuum, an dem im embryonalen Entwicklungsstadium die betreffenden Interventionen vorgenommen wurden; sie betreffen ebenso dessen Nachkommen – und zwar über die Abfolge der Generationen hinweg in einer zeitlich nicht abgrenzbaren Weise. Welchen Zeithorizont muss man für die zureichende Beantwortung dieser sowohl die gesamte Lebensgeschichte des Einzelnen als auch die Abfolge der Generationen betreffenden Fragen ansetzen? Wann können die entsprechenden Fragen – negativ oder positiv – als beantwortet gelten? Das ist völlig offen. Deshalb ist der Weg eines Moratoriums – mit dem sich ja immer die Vorstellung einer zeitlichen Befristung verbindet – durchaus fragwürdig. Die Frage heißt: Reicht ein Moratorium aus?
 Ethisch betrachtet, handelt es sich um einen klassischen Fall für das Prinzip der Schadensvermeidung in einer spezifischen Fassung, nämlich als Vorsichtsprinzip, als precautionary principle. In aller Kürze lässt sich der Sinn dieses Prinzips aus der Fassung herleiten, die Hans Jonas dem Kategorischen Imperativ als Grundprinzip der Moral gegeben hat: „Handle so, dass die Folgen deines Handelns vereinbar sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ (Jonas 2015: 40). Der Imperativ formuliert den Anspruch auf eine Permanenz der Menschheit.
Die Autonomie des Menschen schließt die Selbstaufhebung der Gattung nicht ein. Denn das Recht der Menschen, in kommunikativen Prozessen Entscheidungen zu treffen, schließt nicht das Recht ein, künftigen Generationen die Möglichkeit zu verweigern, eigene kommunikative Verständigungen überhaupt herbeizuführen. Deshalb bildet das Vorsichtsprinzip (wie man besser statt „Vorsorgeprinzip“ sagen sollte) eine Grenze für mögliche Entscheidungen über die Zukunft.
 Das religiöse Motiv der Schöpfung wird bei Jonas in den ethischen Grundsatz umgeformt, dass uns die Welt nach uns und mit ihr die Menschheit nach uns ethisch angeht. Je präziser wir die künftigen Wirkungen möglichen Handelns einschätzen und eingrenzen können, desto klarer können wir dessen Verantwortbarkeit beurteilen. Je undeutlicher diese künftigen Wirkungen sind, desto mehr ist Vorsicht geboten. Im Blick auf die neuen Methoden der Genomchirurgie werden deshalb auch bei Anwendung dieses Prinzips fehlerarme Eingriffe zur Heilung oder Vermeidung von Krankheiten in Körperzellen moralisch zu rechtfertigen sein. Mit der Anwendung auf die menschliche Keimbahn dagegen können sich langfristige Auswirkungen ungewisser Art und ungewisser Reichweite verbinden. Nun mag man argumentieren, dass das Ausmaß des Nutzens genomchirurgischer Eingriffe in die Keimbahn ein erhöhtes Risiko rechtfertigt. Damit können jedoch auf keinen Fall Risiken gemeint sein, deren Ausmaß und deren Eintrittswahrscheinlichkeit sich gegenwärtig gar nicht einschätzen lassen und von denen man nicht weiß, ob sie die Adressaten der therapeutischen Strategie oder andere treffen. So lange solche Risiken weder ausgeschlossen noch in ihrem Ausmaß beschrieben werden können, ist ein international vereinbartes Verbot gentechnischer Eingriffe in die Keimbahn in einer moralischen Perspektive vergleichbar plausibel wie ein Verbot des Klonens.

3. Als drittes Prinzip ist die Selbstbestimmung, allgemeiner gesagt der Respekt vor der menschlichen Person oder das Personalitätsprinzip zu betrachten. Ein egalitärer Universalismus der gleichen Würde kann sich mit unterschiedlich akzentuierten Vorstellungen von der menschlichen Person verbinden. Für den durch Christentum und Aufklärung geprägten Kulturkreis ist die Vorstellung von einer unverwechselbaren, zur Freiheit bestimmten und zur Verantwortung befähigten Person leitend geworden. Begründungen aus dem Schöpfungsgedanken und der mit ihm verbundenen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen sowie aus der Vernunftnatur des Menschen und der daraus abgeleiteten Autonomie stehen für diesen Personbegriff Pate. Im Vergleich zu Sachen sind Personen durch Unverwechselbarkeit bestimmt. Zur Würde des Menschen gehört es, dass er als Person nicht austauschbar ist. Das bleibt er nur, so lange er nicht einem von anderen entworfenen Bauplan gemäß konstruiert und produziert wird. Seine Freiheit hat mit der Unverfügbarkeit der Bedingungen wie der Gelegenheiten seines Lebens zu tun; Freiheit zeigt sich als Gestaltung von Kontingenz. Aus diesen Gründen spielt die Grenze zwischen Heilung und Enhancement, zwischen Leidvermeidung und Glückskonstruktion, zwischen Bewahrung und Verfertigung, zwischen Therapie und Perfektion eine entscheidende Rolle. Autonomie und Unverfügbarkeit der Person gehören unlöslich zusammen. Von Anfang an hat dieser Gesichtspunkt in der Diskussion über die Gentechnik eine große Rolle gespielt. Die Grenze, auf die es hier ankommt, wurde aus unterschiedlichen Perspektiven markiert. Ronald Dworkin formulierte: »Wir fürchten die Aussicht, dass Menschen andere Menschen entwerfen, weil diese Möglichkeit die Grenze zwischen Zufall und Entscheidung verschiebt, die unseren Wertmaßstäben zu Grunde liegt« (Dworkin 1999). Jürgen Habermas fragte beispielsweise, „ob die Technisierung der Menschennatur das gattungsethische Selbstverständnis in der Weise verändert, dass wir uns nicht länger als ethisch freie und moralisch gleiche, an Normen und Gründen orientierte Lebewesen verstehen können“ Der amerikanische Philosoph Michael Sandel verdeutliche diese Grenze an der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, also an eben der Lebensbeziehung, die am stärksten von der Vorstellung geprägt ist, der eine habe das Recht, ja sogar die Pflicht, das Beste zum Wohl des andern zu planen und zu tun. Mögen die Ziele einer genetischen Verbesserung des Kindes noch so begrüßenswert sein – beispielsweise musikalische Begabung oder sportliches Können –, so ist der Versuch, die eigenen Kinder genetisch zu verbessern, dennoch unvereinbar mit dem ethischen Paradigma der „bedingungslosen“ elterlichen Liebe. Während das Vorsichtsprinzip eine universale moralische Norm darstellt, ist der Personbegriff, mit dem hier argumentiert wird, ein ethischer Wert, für den religiöse und kulturelle Prägungen geltend gemacht werden. Aber er verträgt sich ohne Zweifel besser als andere Menschenbilder mit dem Gedanken einer Menschenwürde, die für jeden, unbeschadet aller Unterschiede, in gleicher Weise gelten soll. Er führt mit einer inneren Notwendigkeit zu einer Haltung gegenüber neuen gentechnischen Möglichkeiten, in der diese auf therapeutische Ziele beschränkt und nicht für Maßnahmen des Enhancement eingesetzt, in den Dienst des Heilens und nicht der Perfektion gestellt, also allein der negativen und nicht der positiven Eugenik dienstbar gemacht werden.
 Die praktische Anwendung dieser Unterscheidung verlangt Weisheit. Wissenschaft und Weisheit sind ohnehin näher miteinander verwandt, als bisweilen im Bewusstsein ist. Auch die Rasanz ihrer eigenen Entdeckungen sollte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht davon abhalten, nach dem Bild vom Menschen zu fragen, an dem sie sich orientieren, und die Ziele zu reflektieren, für die ihre Entdeckungen eingesetzt werden sollen – oder eben nicht. Auch die Möglichkeiten der Genchirurgie sollten die Einsicht nicht verstellen, dass der Mensch sich nicht „machen“ lässt. Es wäre genetischer Determinismus, wenn man aus den neuen Möglichkeiten eine Gewissheit darüber ableiten wollte, dass ein Menschenleben leidfrei verläuft. Jeder weitere Fortschritt birgt auch neue Ungewissheiten und offene Fragen in sich. Auch in Zukunft werden Menschen lernen müssen, mit ihrer Verletzlichkeit umzugehen und ihre Schwäche einzugestehen. Demut bleibt nötig, allen „Zauberscheren“ zum Trotz.
Die Aussagen darüber, ob und wie lange genchirurgische Maßnahmen vor der Grenze der positiven Eugenik Halt machen werden, sind in der aktuellen Diskussion breit gestreut. Eine Voraussetzung dafür, dass diese Grenze klar bestimmt und eingehalten wird, liegt in einer öffentlichen Diskussion darüber, ob dem Prinzip der Personalität eine begrenzende Bedeutung gegenüber den Versuchungen genetischer Veränderungen zuerkannt wird.

4. Als viertes und letztes Prinzip ist das Gerechtigkeitsprinzip zu nennen. Die Frage, wie sich zwischen negativer und positiver Eugenik unterscheiden lässt, wird spätestens dann gestellt werden, wenn es um die Finanzierung genomchirurgischer Behandlungen gehen wird. So fließend die Grenze auch sein mag, so wird man sie doch ziehen, wenn es um Geld geht. Der Gemeinschaft der Versicherten wird man nur die Finanzierung von Behandlungen zumuten, die zur Behebung von Krankheiten notwendig, medizinisch effektiv und in ihren Kosten vertretbar sind. Maßnahmen des Enhancement würden, wenn sie überhaupt zugelassen würden, auf absehbare Zeit von der Kassenfinanzierung ausgenommen sein. Sie wären demnach nur für Menschen erschwinglich, die sich diese zusätzlichen Kosten leisten könnten und wollten. Nehmen wir an, die Förderung von musikalischer Begabung, sportlichem Vermögen, wissenschaftlicher Exzellenz oder beruflicher Leistungsfähigkeit wäre tatsächlich durch positive Eugenik zu erreichen, dann würde gesellschaftliche Ungleichheit durch gentechnische Mittel verschärft. Befähigungsgerechtigkeit und daraus folgend Beteiligungsgerechtigkeit würden, zusätzlich zu ohnehin bestehenden sozialen Unterschieden, auch noch durch den ungleichen Zugang zu Möglichkeiten des Enhancement beeinträchtigt.
 Zusätzlich ist auf einen rechtsethischen Aspekt der aktuellen Diskussion hinzuweisen. Wie Experimente in China zeigen, sollen derzeit die Forschungen an der menschlichen Keimbahn durch die Nutzung von Embryonen vorangetrieben werden, die nicht zur Implantation bestimmt sind.
Damit wird eine weitere Tür zur Embryonenforschung geöffnet, die für Deutschland mit dem Embryonenschutzgesetz von 1990 verhindert werden sollte. Unabhängig davon, ob dieses Gesetz wegen unvollständiger oder überholter Regelungen einer Revision bedarf, ist zu fordern, dass der Grundsatz, menschliche Embryonen nur zu Zwecken der Reproduktion herzustellen, nicht durch die Forschung zur Genomchirurgie noch weitergehend als bisher schon ins Wanken gerät und schließlich fällt. Die Genomchirurgie erweist sich als ein herausgehobenes Beispiel für eine Ethik der Verantwortung, die sich rechtzeitig mit den langfristigen individuellen wie gattungsgeschichtlichen Auswirkungen heute möglicher Handlungen beschäftigt. Es nötigt zu einer klaren Grenzziehung zwischen therapeutischen Zielen und Perfektionierungszielen in der Humanmedizin. Moralische und ethische Gesichtspunkte sprechen nach der hier dargelegten Auffassung dafür, mögliche Eingriffe zu therapeutischen Zwecken an Körperzellen weiter zu erforschen und zu fördern, von weitergehenden Eingriffen in die menschliche Keimbahn dagegen abzusehen, so lange es für moralische und ethische Einwände der vorgetragenen Art triftige Gründe gibt.

 

1 Im Folgenden nehme ich die Darstellung im „Spektrum der Wissenschaft“ vom 24.03.2017 sowie vom 01.03. 2018 auf. 2 Im Folgenden knüpfe ich an meine Darstellung in zwei früheren Aufsätzen an: Wolfgang Huber: Eine neue Ära?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.September 2016, 6; ders.: Eine neue Ära? Ethische Fragen zur Genomchirurgie, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 60 (2016), 272-281.