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  • 12.08.2020
  • Landesbischof i.R. Christoph Kähler

Der lange Weg zur Einigung. Die Entstehung des Neuen Testaments

Etwas trockene Thesen

Die Bibel aus Altem und Neuem Testament besteht aus Sammlungen von Schriften oft unbekannter Autoren. Ihre Texte und Schriften entstanden in längeren Prozessen und wurden jeweils in einer zweiten langen Phase zu einem „Kanon“ zusammengefügt, einer verbindlichen „Heiligen Schrift“. Das unterscheidet sie von Religionsstiftern, die bewusst abgeschlossene schriftliche Offenbarungen hinterließen wie Mani (216-277 n.Chr.), der Begründer des Manichäismus, oder Mohammed (570/73-632 n.Chr.).

1.       Aus der Vorgeschichte des Neuen Testaments

1.1   Die „Heiligen Schriften“ (Röm 1,2) oder „Mose und die Propheten“ (Luk 16,31) oder „Mose, die Propheten und die Psalmen“ (Luk 24,44) waren für antike Juden und Christen nicht in einem einzigen Buch enthalten, das man zur Hand nehmen konnte. Denn lange Zeit wurde der gesamte biblische Text auf mehrere lange Rollen geschrieben, die in einzelne Kolumnen aufgeteilt waren.
Erst die beidseitige Beschreibung von Pergament- oder Papyrusblättern und ihre Bindung in einem Buchblock ermöglichte größere Kodizes (Bücher). Die Papierherstellung und der Buchdruck Mitte des 15. Jahrhunderts erleichterte die Herstellung von Bibeln, in denen das Alte Testament, oft auch die Apokryphen/Deuterokanonischen Bücher und das Neue Testament in einem Buch vereinigt sind.
Nur große, vermögendere Gemeinden konnten sich eine vollständige Sammlung aller Schriftrollen leisten, kleinere mussten sich mit Abschriften der Thora (=„Pentateuch“ bzw. „Fünf Bücher Mose“) und einzelner anderer „Bücher“ wie etwa einer Jesaja-Rolle begnügen (vgl. Apg 8,27-39).

1.2   Jesus und seine ersten Anhänger kannten als „Heilige Schrift“ bzw. „Heilige Schriften“ drei Gruppen: „die Thora“, „die Propheten“ und „die Schriften“. Doch in ihrer Zeit war der Prozess der Klärung, welche Schriften zur Hebräischen Bibel (Altes Testament) gehörten, noch nicht ganz abgeschlossen. Der Pentateuch, (= Thora bzw. fünf Bücher Mose), die sogenannten „Geschichtsbücher“ (jüdisch: „vordere Propheten“) und die Propheten (jüdisch: „hintere Propheten“) gehörten aber bereits dazu. Der Umfang der Hebräischen Bibel stand für die jüdischen Autoritäten erst nach einem langen Prozess um 100 n.Chr. fest. Dabei wurden griechisch-jüdische Schriften, die bei Christen sehr geschätzt wurden, ausgeschieden (z.B. Jesus Sirach, Judith, Tobit). Die ersten christlichen Gemeinden kannten und nutzten die hebräischen Schriften oder ihre griechischen Übersetzungen als Grundlage für ihren Glauben und ihre Verkündigung.

2.       Die erste Phase: Die Entstehung von neuen Texten in den frühen christlichen Gemeinden

2.1   Jesusworte (Worte des Herrn), Kurzbekenntnisse und gottesdienstliche Formulierungen (etwa für das Abendmahl) wurden aufgenommen und in der Verkündigung und der Lehre weitergegeben. Z.B. berief sich Paulus in 1Kor 15,3-7 auf eine alte Tradition über die Ostererscheinungen. Dazu wurden Worte, Gleichnisse, Jesusgeschichten wie die Wunderzählungen lange mündlich tradiert.

2.2   Christliche Schriften setzten nach unserer Kenntnis erst mit den Gemeindebriefen des Paulus ein, dessen erster erhaltener Brief an die Thessalonicher um das Jahr 50 geschrieben wurde.

2.3   Wahrscheinlich gab es zwischen 50 und 70 n.Chr. auch erste Notizbücher mit Jesusworten und Erzählungen, die christliche Wanderprediger für ihre Verkündigung brauchten. Zwar ist kein Exemplar von ihnen erhalten, aber ihr Inhalt kann aus den Texten erschlossen werden, die das Matthäusevangelium bzw. das Lukasevangelium gleichlautend über den Wortlaut des Markusevangeliums hinaus bieten (z.B. weite Teile der Bergpredigt).

2.4   Frühestens um das Jahr 70 n.Chr. entstand als Niederschlag christlicher Predigten das erste schriftliche Evangelium, dessen Autor unbekannt ist und das später „Markusevangelium“ genannt wurde. Es verband erstmalig Worte, Geschichten und die ausführliche Passionsgeschichte Jesu zu einem Werk. Dieses wollte offensichtlich eine geschlossene Grundlage für Predigt und Unterricht bieten.

2.5   Die ebenfalls unbekannten Verfasser der Evangelien nach Matthäus und nach Lukas nahmen wohl nach 80 n.Chr. die Arbeit des Markus auf und passten sie für ihre eigenen Gemeinden an, d.h. vermehrten sie und gliederten sie neu (vgl. Luk 1,1-4). „Lukas“ stellte in einem zweiten Werk, seiner Apostelgeschichte, die erstaunliche Entwicklung der frühen Gemeinden dar.
Wahrscheinlich entstand einige Zeit danach das Evangelium nach Johannes, das noch unmittelbarer als die drei anderen bekenntnishafte Formulierungen in Erzählungen umformuliert („Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben…“).

2.6   Neben die Briefe des Paulus, die der Apostel selbst geschrieben bzw. diktiert hat (Röm 16,22), traten weitere Briefe und Schreiben, die nach dem Tod des Paulus und anderer Apostel von ihren Schülern verfasst wurden und offenbar schon für eine ganze Anzahl von Gemeinden bestimmt waren.

2.7   Die Offenbarung an Johannes bot eine in der Bibel sehr seltene Textsorte. Sie beschreibt angesichts der Verfolgungen, die die christlichen Gemeinden erleiden, welche Standhaftigkeit, Wachsamkeit und Treue nötig sind, um in den aktuellen Leiden zu bestehen, die der endgültigen Offenbarung von Gottes Herrlichkeit vorausgehen.

2.8   Alle bisher bezeichneten literarischen Formen wurden von den christlichen Gemeinden weiter genutzt: Es gab weitere Erzählungen und Berichte von Jesus, die briefliche Verständigung zwischen Rom, Griechenland bis Jerusalem wurde weiter geführt, so wie auch immer neue angeblich geheime Offenbarungen verfasst wurden.

3.       Die zweite Phase: Die Sammlung, Verbreitung und Bewertung frühchristlicher Schriften

3.1   Offensichtlich wurden die Briefe des Paulus, die eigentlich „Gelegenheitsschriften“ waren, bald gesammelt und durch Abschriften für andere Gemeinden zugänglich gemacht (2Petr 3,15). Auch die vier ersten Evangelien verbreiteten sich, wie weitere Berichte aus dem Leben Jesu, weit über den ersten Empfängerkreis hinaus. Andere Schreiben wie der Hebräerbrief rechneten schon bei der Abfassung mit regionaler oder sogar überregionaler Verbreitung.

3.2   Der Verfasser der Offenbarung rechnete mit Überarbeitungen seines Werkes. Darum sicherte er sich gegen ungewollte Korrekturen, also gegen Ergänzungen oder Kürzungen (Offb 22,28f.).

3.3   Durch das schnelle Wachstum christlicher Gemeinden in den ersten drei Jahrhunderten und ihre guten Verbindungen in Kleinasien, Griechenland  und Italien sammelten sich in den regionalen Hauptstädten zunehmend mehr Schriften, die als Apostelbriefe, Evangelien und Apokalypsen kirchliche Autorität beanspruchten.

3.4   Um 150 n.Chr. schaffte ein Ketzer namens Marcion das Alte Testament für seine Anhänger ab und setzte an die Stelle eine neue „Heilige Schrift“, die aus einem „gereinigten“ Lukasevangelium und zehn vermutlich ebenfalls bearbeiteten Paulusbriefen besteht.

3.5   Um 172 n.Chr. traten Vertreter einer Gruppe auf, die heute meist nach einem der Gründer Montanus als „Montanisten“ bezeichnet werden. Sie haben den Anspruch, die Christus-Offenbarung in ihrer Zeit durch ihre „Neue Prophetie“ weiterzuführen. Damit stellen sie faktisch neben das Alte und das Neue Testament weitere heilige Texte.

3.6   In dieser Situation bilden sich um 200 n.Chr. in der Alten Kirche Listen der Bücher heraus, die allgemeine Geltung beanspruchen dürfen. Zu ihnen gehören vor allem die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, 13 dem Paulus zugeschriebene Briefe und die Offenbarung des Johannes. Zwischen den östlichen und den westlichen Gemeinden sind der Hebräerbrief und die Offenbarung noch umstritten.

3.7   Als Kriterien für die Anerkennung einer Schrift galten
a) die Herkunft von einem Apostel oder einem Apostelschüler
b) die Bewährung im Gebrauch vieler Gemeinden
c) die Übereinstimmung mit dem Glaubensbekenntnis.

Vor allem das letzte Kriterium wurde immer wieder erfolgreich eingesetzt, wenn das erste nicht zu sicheren Ergebnissen führte.

3.8   367 n.Chr. zählt Athanasius von Alexandrien in seinem 39. Osterfestbrief endgültig alle Schriften auf, die wir heute als „Neues Testament“ lesen. Ihm folgen 382 n.Chr. eine römische Synode und 393 n.Chr. eine nordafrikanische aus Hippo Regius.

 4.       Eine knappe Bewertung

4.1   Der neutestamentliche Kanon stellt eine Auswahl aus dem frühen christlichen Schrifttum dar. Gegen die Konzentration auf ein Evangelium (Marcion) werden vier deutlich verschiedene Erzählungen über Jesus, sein Wirken und sein Schicksal aufgenommen, die sich in einzelnen Zügen widersprechen. Damit wird eine gewisse Vielfalt des Zeugnisses von Jesus, dem Christus, ermöglicht.

4.2   Die Aufnahme der theologisch anspruchsvollen Paulusbriefe, die unter Ketzern sehr beliebt waren, stellt an die kommenden Generationen die Aufgabe, den eigenen Glauben und das eigene Verhalten kritisch zu durchdenken.

4.3   Das Neue Testament als „Urkunde kirchengründender Predigt“ bietet die Grundlage für eine Verkündigung angesichts der Herausforderungen der Gegenwart.