ThomasForum - begegnen, bilden, glauben
- 08.11.2017
- Prof. em. Dr. Rüdiger Lux
Richter und RetterGottesbilder im Alten und Neuen Testament
1. Der Unsichtbare und sein Ebenbild
Der ewige, unsichtbare Gott des Alten und Neuen Testaments geht in keiner Gestalt der endlichen, sichtbaren Welt auf. Martin Luther hat das in seiner Abendmahlsschrift aus dem Jahr 1528 eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht:
»Das Gott nicht ein solch ausgestreckt, lang, breit, dick, hoch tief wesen sey, sondern ein übernatürlich unerforschlich wesen, das zu gleich ynn iglichen körnlein gantz und gar und dennoch in allen und uber allen und ausser allen Creaturn sey [...]. Nichts ist so klein, Gott ist noch kleiner, Nichts ist so gros, Gott ist noch grösser, Nichts ist so kurtz, Gott ist noch kürtzer, Nichts ist so lang, Gott ist noch lenger, Nichts ist so breit, Gott ist noch breiter, Nichts ist so schmal, Gott ist noch schmeler und so fort an, Ists ein unaussprechlich wesen uber und ausser allem, das man nennen odder denken kann.«
Wenn der Gott Israels und der Kirche letztlich unerforschlich und unaussprechlich ist, dann greift jedes gegenständliche Gottesbild zu kurz. Dann ist aber auch jede bildhafte, metaphorische Rede von Gott im besten Falle ein Notbehelf, im Grunde eine Unmöglichkeit. Denn »niemand hat Gott je gesehen« (Joh 1,18; 1 Joh 4,12). Karl Barth hat das, was daraus für unser Reden von Gott folgt, 1922 in seiner berühmten Rede über das »Wort Gottes als Aufgabe der Theologie« auf den Punkt gebracht:
»Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben. Das ist unsere Bedrängnis.«
Wie aber gibt die Bibel Gott die Ehre, wie geht sie mit der Paradoxie mensch-licher Rede von Gott um? Sie legt sich nicht auf ein Gottesbild fest, sondern umschreibt den Unsichtbaren mit einer Fülle von Metaphern und Gleichnissen. Gott ist, um nur einige Beispiele zu nennen, »Vater« (Ps 89,27), »Mutter« (Jes 66,13), »Hirte« (Ps 23,1), »König« (Ps 5,3), »Richter« (Ps 7,12), »Retter und Nothelfer« (Dan 6,28), »Arzt« (Ex 15,26), »Kriegsmann« (Ex 15,3), ein »Töpfer« (Jes 64,7), ja, sogar ein »Übeltäter/Frevler« (Hi 9,24). Er ist wie ein »Adler« (Dtn 32,11), ein »Löwe« (Hos 5,14), ein »Bär« (Klgl 3,10), eine »lebendige Quelle« (Jer 2,13), ein »Licht« (27,1), »Sonne und Schild« (Ps 84,12), ein »starker Fels und eine Burg« (Ps 31,3) oder ein »verzehrendes Feuer« (Dtn 4,24)... Das Sichtbare dieser Welt wird zum Medium für den unsichtbaren Gott. Kein Gottesbild ist das allein richtige. Eines korrigiert, ergänzt, erweitert, verändert das andere. Jedes ist für sich wahr und doch auch wieder falsch, wenn es als das einzig wahre behauptet wird. Jedes Gottesbild ist ein Platzhalter für das unaussprechliche Geheimnis des biblischen Gottes. »Es bringt zur Erscheinung, was nicht im Bild ist, sondern im Bild nur erscheinen kann«. Gottesbilder können daher nur im Plural, nicht aber im Singular Gültigkeit für sich beanspruchen.
Um so erstaunlicher ist es, dass die Bibel Israels ein Ab- und Ebenbild Gottes zu nennen weiß, das aus der Fülle aller anderen Gottesbilder herausgehoben wurde, nämlich Adam, den Menschen, in seiner Doppelgestalt als Mann und als Frau. Er ist die »lebendige Statue Gottes« auf der Erde:
»Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, das uns gleicht, damit sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und die ganze Erde und über das Gewürm, das auf der Erde kriecht.
Und Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie.« (Gen 1,26f.)
Gott ist Person und keine wie auch immer geartete Sache. Und alle Metaphern, die ihn mit einer bestimmten Tätigkeit oder einer Sache vergleichen beziehen sich eben nicht nur auf die Tätigkeit oder Sache selbst, sondern auf die Person, die durch diese Sachen ins Bild gesetzt wird. Daher ist Adam, der Mensch, die biblische Leitmetapher für Gott, der sich alle anderen Metaphern und Gottesbilder zuordnen lassen. Wie aber ist diese bildhafte Aussage von der Personhaftigkeit Gottes zu verstehen, wenn dieser Gott doch als Person ein unsichtbares, »übernatürlich unerforschlich wesen« (M. Luther) bleibt? Bezieht sich die imagodei-Aussage auf die Gestalt- oder gar Leibhaftigkeit Gottes? Schließlich ist doch in der Bibel immer wieder von seinem »Angesicht« (Ex 33,14; Jes 63,9), seinem »Mund« (Jes 1,20; Jer 9,11), seinen »Augen« (Dtn 11,12; Ps 11,4), seiner »Nase/Zorn« (Ex 4,14; Ps 2,5), seinem »Arm« (Ex 15,16; Ps 89,14), seiner »Hand« (Ex 33,22; Ps 139,5) und seinen »Füßen« (Ex 24,10; Ps 18,10) die Rede. Was verraten uns diese sogenannten Anthropomorphismen im Alten Testament über Gott als Person?
Für die biblischen Erzähler zielte die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen vor allem auf seine Geschöpflichkeit, die allerdings nicht mit seiner Gestalt- und Leibhaftigkeit zu verwechseln ist. Vielmehr erschuf Gott den Menschen als sein Ebenbild in der besonderen Absicht, dass er über die Tiere und die Erde herrschen solle. Im dominium terrae also, im Herrschaftsauftrag über die Erde ist das tertium comparationis, der Vergleichspunkt zwischen Gott und Mensch zu suchen. Nicht die äußere Gestalt ist es, sondern die Rolle, nicht das Aussehen, sondern die Bestimmung, nicht die Leibhaftigkeit, sondern die Person ist es, die der Mensch als »lebendige Statue Gottes« auf der Erde zu vertreten hat. Im Lateinischen hatte persona die ursprüngliche Bedeutung der »Maske«, die ein Schauspieler im Theater trug, wenn er seine Rolle spielte. Daher eignet sich der Personbegriff in besonderer Weise als Leitmetapher für die menschliche Rede von Gott. Er hält den un-aufhebbaren qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf fest. Denn nicht alles, was menschlich ist, ist auch göttlich, und nicht alles, was göttlich ist, ist menschlich. So wie das Kunstwerk nicht zu seinem Meister werden kann, der es geschaffen hat, so auch das Geschöpf nicht zu seinem Schöpfer. Als Ebenbild Gottes trägt der Mensch lediglich die Maske des Schöpfers, hinter welcher Gott selbst verborgen bleibt. Er soll ihn repräsentieren, vergegenwärtigen, indem er die ihm zugedachte Rolle spielt.
Welche Rolle aber soll der Mensch auf den Brettern des teatrum mundi spielen? Es ist die des königlichen Herrschers! Denn die Rede vom Menschen als imago dei ist keine Erfindung der israelitischen Priester und Gelehrten. Vielmehr haben sie diese aus der altorientalischen Königsideologie übernommen. In Altägypten und Mesopotamien nahmen nur die Könige die Rolle der »lebendigen Statue Gottes« auf der Erde wahr. Allein sie hatten den göttlichen Auftrag, über Länder und Völker zu herrschen und die göttliche Weltordnung auf der Erde durchzusetzen, indem sie für Recht und Gerechtigkeit im Inneren sorgten sowie für den Schutz ihrer Untertanen vor äußeren Fein-den.
Israels Erzähler haben diese Vorstellung aufgenommen und in doppelter Weise modifiziert. Denn erstens sind nach dem Zeugnis der Bibel nicht nur die Könige Abbilder der Götter auf der Erde, sondern jeder Mensch ist »nur wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit [...] gekrönt« (Ps 8,6). Die imagodei-Theologie wurde demokratisiert. Und zweitens werden dem königlichen Menschen die Tiere und die Erde zur Herrschaft anvertraut, nicht aber der Mitmensch. Der Mensch steht allein unter der Herrschaft seines Schöpfers und ist vor allem ihm und seinem Nächsten verpflichtet (Dtn 6,4f.; Lev 19,18).
Die imagodei-Vorstellung erweist sich damit als ein hochbedeutsames Kapitel der politischen Theologie. Mit religiösen Bildern und vor allem mit dem Menschen als einem Bild Gottes wurde und wird Politik gemacht. Bilder werden gebraucht und missbraucht zur Legitimation oder auch Delegitimation von Macht. Man denke nur an die zahlreichen Herrscher- und Politikerbilder in Geschichte und Gegenwart in den unterschiedlichsten Medien. Aber das gilt nicht nur für materielle Kultbilder, die in Israel dem Bilderverbot unterlagen (Ex 20,4f.) und ihre säkularen Surrogate in den Medien der Moderne, sondern auch für Sprachbilder, die - oft auf verborgene Weise - unsere religiöse, kulturelle und politische Grammatik steuern. Der Bilderstreit tobt nicht nur im Reich des Visuellen, sondern ebenso heftig im Reich der Sprache, wie die turbulenten Debatten über die sogenannte political correctness zeigen. Hier wie dort stößt man auf Bilderverehrer und Bilderstürmer, Idolatrie und Ikonoklasmus.
2. Gottesbilder und Gottes Gerechtigkeit
Es ist kein Geheimnis, dass dem heutigen Leser manche Gottesbilder des Alten Testaments fremd, irritierend und mitunter auch abstoßend erscheinen. Mit schöner Regelmäßigkeit werden in den gedruckten und elektronischen Medien diese Peinlichkeiten des sogenannten »alttestamentarischen Rachegott«, der das unbarmherzige Prinzip der Vergeltung »Auge um Auge, Zahn um Zahn« aufgerichtet habe (Ex 21,23-25), immer wieder beschworen. Dabei wird allerdings der Kontext dieses biblischen Rechtsgrundsatzes leichtfertig unterschlagen, aus dem für den Kenner der Rechtsgeschichte deutlich wird, dass es sich hierbei um eine bemerkenswerte Zähmung und Humanisierung der sogenannten Talion, des altorientalischen Rechtsinstituts der Vergeltung handelte. Mit großem Eifer wird auch auf die Gewaltphantasien des Alten Testaments hingewiesen, die JHWH, den Gott Israels als Gewalttäter und gnadenlosen Kriegsmann auf den Plan rufen. Noch der sterbende Mose beendete seinen »Schwanengesang« mit einem blutigen Schwur JHWHs:
»Fürwahr (spricht Gott), ich erhebe zum Himmel meine Hand
und ich spreche: Sowahr ich lebe auf ewig!
Wenn ich geschärft habe die blitzende Klinge meines Schwertes,
dann hält meine Hand fest am Recht.
Ich bringe Rache über meine Bedränger
Und denen, die mich hassen, vergelte ich's.
Trunken mache ich meine Pfeile von Blut
und mein Schwert frisst Fleisch,
vom Blut des Durchbohrten und Gefangenen,
vom Haupt der Fürsten des Feindes.
Lasst jubeln (ihr) Völker sein Volk,
denn das Blut seiner Knechte rächt er,
und Rache bringt er über seine Bedränger,
aber er entsühnt seinen Acker, sein Volk.« (Dtn 32,40-43)
Wer das gesamte Moselied in Dtn 32 liest, wird schnell feststellen, dass der Dichter diesen Gott der Rache und Vergeltung gleichzeitig als einen »Fels« des Rechts und der Gerechtigkeit feiert (32,4.15.18.30f.). Wenn er zum Schwert greift, dann »hält seine Hand fest am Recht« (32,41). In dem gesamten Lied wird JHWH als ein leidenschaftlicher Kämpfer sowohl gegen sein erwähltes Volk Israel vorgestellt (32,15ff.), das von ihm abgefallen ist, als auch für sein Volk, dem durch die fremden Völker bitteres Unrecht widerfuhr (32,34ff.).
Die vom Gott Israels beschworene Gewalt ist daher nicht von Willkür geprägt, sondern steht im Dienst seiner zedaqah. Das hebräische Nomen zedaqah entfaltet in den Bereichen der Religion, der Politik, des Rechtswesens und der Ethik unterschiedliche Sinnpotenziale und kann mit »(Welt-)ordnung, Recht, Gerechtigkeit, Solidarität, Gemeinschaftstreue« übersetzt werden. Der Begriff bezeichnet demnach das, was zur Aufrechterhaltung der göttlichen Weltordnung in Kult, Staat, Gesellschaft sowie im persönlichen Leben unabdingbar ist. Jedes menschliche Handeln hat Folgen mit Auswirkungen auf die genannten Lebensbereiche, die für das Gelingen oder auch Misslingen des Lebens des Einzelnen wie der Gemeinschaft von Bedeutung sind. Dieser Zusammenhang von Tun und Ergehen, den Jan Assmann als »konnektive Gerechtigkeit« bezeichnet hat, ist der Lebensnerv der göttlichen Weltordnung, die es zu beachten, zu schützen und für deren Erhalt es auch zu kämpfen gilt.
Daher ist das vom Gerechtigkeitsgedanken geprägte altorientalische und biblische Weltordnungsdenken die unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis der Rede vom strafenden, in Krieg, Gewalt und Rache verstrickten Gott Israels, von seinem richtenden und rettenden Handeln, seinem Zorn und seiner Liebe. Im Folgenden soll das exemplarisch am sogenannten Weinberglied des Propheten Jesaja erläutert werden.
3. Richten und Retten - Zorn und Liebe
Wer das Buch des Propheten Jesaja nicht nur in Auszügen, sondern als poetisches Gesamtkunstwerk liest, begegnet in ihm keinem apathischen Gott. Wie ein siedender Kessel voll ungestümer Leidenschaften, zerrissen von heftigen inneren Kämpfen, abrupten Stimmungsumschwüngen, geradezu depressiven, aber auch euphorischen Gemütszuständen, von leidenschaftlicher Liebe, aber auch glühendem Zorn erfüllt, so präsentiert uns das Prophetenbuch den Gott Israels. Da hat das prophetische Ohr nicht die Stimme eines Unberührbaren vernommen, sondern eines Gottes, der mit seinem Volk und den Völkern ringt, der angegriffen wird und angreift, der seine Schöpfung nicht sich selbst überlässt und in den Abgrund des Chaos stürzt, sondern richtet und rettet. In äußerster poetischer Verdichtung stellt uns die Bildwelt des sogenannten Weinbergliedes des Jesaja den liebenden, leidenden und zürnenden Gott Israels vor Augen. Dabei handelt es sich um eine Parabel, ein Gleichnis, das - man möchte fast sagen - die Szenen einer Ehe zwischen Gott und seinem Volk beschreibt. Das Lied besteht aus vier Strophen und wird einem Bänkelgesang vergleichbar von zwei Sängern vorgetragen. In Strophe eins singt der Prophet ein Lied für seinen Freund und dessen Weinberg.
»Ja, singen will ich für meinen Freund,
ein Lied meinem Geliebten von seinem Weinberg.
Ein Weinberg gehörte meinem Freund
auf einem fetten Bergrücken.
Er behackte ihn, las seine Steine auf
und pflanzte rote Edelreben.
Einen Wachturm baute er in seiner Mitte
und hieb in ihm eine Kelter aus.
Und er hoffte, dass er Trauben brächte,
aber er brachte Herlinge.« (Jes 5,1-2)
In dem Liebeslied, das Jesaja anstimmt, geht es nicht nur um die Zuneigung und Liebe zu seinem Freund, sondern auch um die Liebe des Freundes zu dessen Weinberg. Denn der Weinberg ist in der hebräischen Liebeslyrik eine oft verwendete Metapher für den Ort der Liebe, die körperlichen Vorzüge der Geliebten und das Liebesspiel (Hld 1,6;2,15;7,9.13;12,11f.). Alles hatte der Freund für den Weinberg (= Geliebte) getan, den Boden aufgelockert und von Steinen befreit, rote Edelreben gepflanzt, einen Wachturm errichtet und eine Kelter gebaut. Der Dichter stellt uns die ganze Mühsal und Plage des kanaanäischen Weinbauern vor Augen. Die Liebe ist eben mehr als Rausch, sie ist auch Mühe und Arbeit. Wer so intensiv all seine Kräfte und Liebe in den Weinberg investiert, der darf auch auf die Früchte seiner Arbeit hoffen. Aber das Ergehen entsprach nicht dem Tun, der Weltordnung, nach der dem red-lichen Arbeiter sein Lohn winkt. Alle Arbeit war umsonst, vergebliche Liebesmüh. Anstatt der erhofften saftigen Trauben trug der Weinberg nichts als saure Herlinge.
In der zweiten Strophe kommt nun der Freund selbst zu Wort, der Besitzer des Weinbergs:
»Jetzt aber Bewohner Jerusalems
und Mannschaft Judas,
richtet zwischen mir
und meinem Weinberg.
Was wäre denn noch an meinem Weinberg zu tun,
das ich nicht an ihm getan hätte?
Warum habe ich gehofft, dass er Trauben brächte,
er aber brachte Herlinge?« (Jes 5,3-4)
Der Weinbergsbeitzer spricht sein Publikum, die Bewohner Jerusalems und Judas direkt an und fordert sie auf, zwischen ihm und seinem Weinberg zu richten. Auf die Liebesmetaphorik folgt die Gerichtsmetaphorik. Zwei rhetorische Fragen eröffnen den Prozess der Scheidung. Er fragt, ob er seinem Weinberg etwas schuldig blieb. Was hätte er noch an ihm tun können? Die Antwort versteht sich von selbst: Nichts! Und er fragt nach der Ursache, warum seine Hoffnung auf süße Trauben so bitter enttäuscht wurde. Warum führte das Tun nicht zum Erfolg? Wer könnte einen Grund dafür benennen? Niemand! Was sich zwischen dem Freund und seinem Weinberg abspielte, das war eine empfindliche Störung der göttlichen Weltordnung. Nun also soll das Volk richten, nichts ahnend, dass es bereits selbst auf der Anklagebank sitzt und sich damit das Urteil spricht.
In der dritten Strophe ergreift der Weinbergbesitzer noch einmal das Wort:
»Jetzt aber will ich euch wissen lassen,
was ich mit meinem Weinberg mache.
Ich entferne seine Schutzhecke, dass er zur Viehweide wird,
reiße seine Mauer ein, dass er zum Trampelplatz wird
und gebe ihn der Verwüstung preis.
Weder soll er beschnitten, noch behackt werden,
damit Dornen und Disteln aufwachsen.
Und den Wolken befehle ich,
dass sie keinen Regen mehr über ihm regnen lassen.« (Jes 5,5-6)
Das ist der Umsturz all dessen, was war, der totale Liebesentzug. Das Liebeslied löst sich in schrillen Dissonanzen auf. Die Vergeblichkeitserfahrung weckt den Vergeltungswillen. Was der Weinbauer geschaffen hat, das wird der vollkommenen und unwiderruflichen Verwüstung preisgegeben. Der Liebhaber des Weinbergs vergisst sich in seinem Zorn und seinen Rache-phantasien. Von seinem Weinberg will er nichts mehr sehen und hören.
Haben wir ihn hier also vor uns, den gnadenlosen Rachegott des Alten Testaments, der am Tag des Gerichts in seinem destruktiven Zorn ohne Ansehen der Person dreinschlägt und von seiner alten Liebe nichts mehr wissen will?
In der letzten Strophe nimmt wieder Jesaja das Wort und entschlüsselt für die Zuhörer das Gleichnis:
»Ja, der Weinberg JHWH Zebaots ist das Haus Israel,
und die Mannschaft Judas sind sein Lustgarten.
Er aber hoffte auf Rechtsspruch,
doch siehe es herrschte Rechtsbruch,
dass Gerechtigkeit sei,
doch es war Klagegeschrei.« (Jes 5,7)
Das Lied für seinen Freund und dessen Weinberg erfährt eine letzte Metamorphose. Aus dem Liebes- und Klagelied wird ein politisch-theologischer Protestsong. Israel und Juda selbst waren JHWHs Weinberg und Wonnegarten. Alles hatte er für sein Volk getan und gehofft, dass seine Liebe und Arbeit Recht und Gerechtigkeit als Früchte tragen würden. Doch anstelle von Rechtsspruch herrschte Rechtsbruch und anstelle von Gerechtigkeit Klagegeschrei. Israel, der Lustgarten Gottes wurde zum Frustgarten. Das letzte Wort des Liedes ist ein Klageschrei der Entrechteten. Was als Liebeslied begann endet in einem Protestsong gegen Unrecht und eine unsolidarische Gesellschaft.
Und wer wissen will, worum es im Einzelnen ging, der muss nur die folgende Weheworte lesen, die das Prophetenbuch dem Lied folgen lässt: Monopolisierung von Landbesitz und Immobilien, Suff und rauschende Feste einer dekadenten Aristokratie, mutwillige Verkehrung von Gut und Böse, Verachtung des JHWH-Rechts, Arroganz und eine korrupte Justiz (Jes 5,8-24). Da ist nichts mehr vom Menschen als Ebenbild Gottes zu sehen, nichts als eine hässliche Maske des Bösen, die das Werk des Schöpfers bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Wer sollte darüber nicht zornig werden? Sollte Gott denn den Klageschrei der Opfer überhören? Was ist sein Zorn denn sonst, wenn nicht ein nobler Zorn aus Liebe? Wer sich die Ohren vor dem Klagegeschrei der Entrechteten noch nicht verstopft hat, der wird in der Preisgabe des Weinbergs durch seinen Besitzer, im Gericht Gottes an seinem eigenen Volk, keinen Gott am Werk sehen, der sich in einem uneingeschränkten, willkürlichen und destruktiven Jähzorn austobt. Es ist der gerechte Zorn JHWHs, der die Täter des Unrechts trifft. Gerade als politischer Protestsong bleibt das Weinberglied ein Liebeslied JHWHs und seines Propheten. Das Lied eines Liebhabers von Recht und Gerechtigkeit, der das Schreien der Gequälten hört und damit auf der Wiederherstellung der gestörten Weltordnung in Gestalt der gesellschaftlichen Solidarität besteht.
4. Rechtsverzicht - Vergeltung und Vergebung
Bei aller Genugtuung, die sich einstellt, wenn in dieser Weise von der Gerechtigkeit Gottes die Rede ist, bleibt letztlich doch eine tiefe Verstörung. Hat sich JHWH, der Gott Israels, in seinem Richteramt unwiderruflich und ohne Wenn und Aber an das Gesetz der Vergeltung gebunden, ohne das jede gerechte Weltordnung im Chaos versinken würde? Steht also am Ende nichts anderes an als die Vollstreckung des vernichtenden Urteils, das JHWH über sein erwähltes Volk sowie sein Ebenbild, den in die Sünde verstrickten Menschen, fällt? Sind Recht und Gerechtigkeit die höchste Maxime im Beziehungsgeflecht zwischen Gott, Mensch und Mitmensch?
Israel wurde nicht nur Zeuge davon, dass sein Gott den Opfern des Unrechts mit seiner rettenden Gerechtigkeit zur Hilfe eilte. Es erfuhr in seiner leidvollen Geschichte auch, dass JHWH um des Lebens willen Rechtsverzicht leistete, dass er Gnade vor Recht ergehen ließ. So bitter auch das Strafgericht war, die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier, Vertreibung, Flucht und Exil, es war nicht das unwiderrufliche Ende für Gottes geliebten und gerichteten Weinberg Israel. Spätere Stimmen der Schüler Jesajas, die in sein Prophetenbuch mit aufgenommen wurden, stießen zur Hoffnung auf einen Neuanfang durch:
»Zu der Zeit wird es heißen:
Lieblicher Weinberg, singet von ihm!
Ich, JHWH, behüte ihn
Und begieße ihn immer wieder.
Damit man ihn nicht verderbe,
will ich ihn Tag und Nacht behüten.« (Jes 27,2-3)
JHWH, der enttäuschte Liebhaber seines Weinbergs schreibt ihn nicht ein für allemal ab. In Gott selbst tobt ja ein leidenschaftlicher Kampf zwischen Zorn und Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Auch das hat Israel erfahren, dass der Gott des Zorns sich selbst besiegt, dass der Gott der Vergebung gegen den Gott der Vergeltung aufsteht. Eindrücklich hat der Prophet Hosea dieses innere Ringen Gottes beschrieben als könne er ihm ins Herz schauen:
»Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim,
dich ausliefern Israel?
Wie könnte ich dich preisgeben wie Adma,
dich zurichten wie Zeboim?
Mein Herz hat sich in mir umgewandt,
mit Macht ist meine Reue entbrannt.
Ich kann meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken,
kann Efraim nicht wieder verderben:
denn Gott bin ich, nicht Mensch,
in deiner Mitte der Heilige:
Ich lasse Zornesglut nicht aufkommen.« (Hos 11,8-9)
JHWH ist kein Sklave des Zorns. Er ist frei. Es gibt kein Gesetz, an das er gebunden wäre. Denn als freier Gott kann er auch ein Gott der Reue und Vergebung sein. Dadurch werden Recht und Gerechtigkeit nicht außer Kraft gesetzt. Sie bleiben unerlässlich für die Aufrechterhaltung einer gerechten Weltordnung. Aber es gibt Dimensionen des Lebens, Abgründe der tragischen Verstrickung des Menschen, in denen die Grenzen von Recht und Gerechtigkeit erkennbar werden. Eine Gerechtigkeit, die sich im Vergeltungsdenken erschöpft, die keine Treue und Barmherzigkeit kennt, erstickt am Ende jedes Leben.
Diese Selbstrücknahme und Selbstüberwindung des gerechten Zorns, ist kein Beitrag zur Auflösung des Rechts, sondern seiner Humanisierung, weil zur Menschlichkeit des Menschen auch seine Fehlbarkeit gehört. In Gestalt des Gnadenrechts fand der Gedanke und die Praxis des Rechtsverzichtes Eingang in die Gesetzgebung des bürgerlichen Rechtsstaates (GG Art. 60 Abs. 2). Ein Gemeinwesen, das nur auf der Säule der Gerechtigkeit gegründet ist und von der Säule der Barmherzigkeit nichts wissen will, ist ebenso-wenig überlebensfähig wie eine Beziehung von Mensch zu Mensch.
5. Die Strafe liegt auf ihm
Das Neue Testament nimmt alle diese Spuren der Rede vom Gott Israels als Richter und Retter seines Volkes sowie seiner Schöpfung auf. Bereits die ältere Jesustradition macht deutlich, dass auch Jesus vom gerechten Zorn aus Liebe erfüllt war, wenn es darum ging, dem Unrecht gegen die Schwachen, Geringen und Kleinen zu wehren:
»Und wer einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, dass ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er ins Meer geworfen würde.«
(Mk 9,42)
Ja, er kann sogar gewaltsam gegen diejenigen vorgehen, die aus dem Tempel in Jerusalem, der ein »Bethaus für alle Völker« (Jes 56,7) sein sollte, eine »Räuberhöhle« (Jer 7,11) gemacht haben (Mk 11,15-18). Und in den frühchristlichen Gemeinden hat sich schmerzhaft bestätigt, was ihnen ihr Herr geweissagt hatte. Ein Leben in der Nachfolge Jesu ist alles andere als eine gemütliche Existenz:
»Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.« (Mt 10,34-36)
Hier werden die Anhänger Jesu nicht dazu aufgefordert, selbst das Schwert zu ergreifen. Aber es wird ihnen nüchtern vor Augen geführt, dass das Bekenntnis zu Jesus seinen Preis haben kann, dass Verfolgung, Streit und Konflikte bis hinein in die eigene Familie nicht ausbleiben werden. Ist das der dunkle Schatten, der über dem Evangelium liegt? Bedeutet gelebte Jesusnachfolge eben nicht nur die Einreihung in die Phalanx der Friedensstifter, die von ihrem Herrn selig gepriesen werden (Mt 5,9), sondern auch ein gehöriges Maß an Konfliktbereitschaft um Jesu willen?
Das frühe Judentum und die Sympathisanten Jesu unter ihnen wurden immer wieder von apokalyptischen Fieberstürmen durcheinandergeschüttelt. Man sah sich in die Stunde der Entscheidung gestellt. Alles trieb dem schon bald erwarteten Ende entgegen. Deshalb warnt Johannes der Täufer seine Hörer und besonders die religiösen Eliten unter ihnen, die Pharisäer und Saduzäer eindringlich:
»Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! [...] Ihr Otterngezücht, wer hat euch gewiss gemacht, dass ihr dem zukünftigen Zorn entrinnen werdet? Seht zu, bringt rechtschaffene Frucht der Buße! [...] Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum: Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.« (Mt 3,2.7-8.10)
Und nicht nur die Evangelien, auch der Apostel Paulus weiß um den leidenschaftlich zürnenden Gott, der sich im nahe herbeigekommenen Endgericht als Richter offenbaren wird. Im Brief an die Gemeinde von Rom warnt er:
»Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Umkehr treibt? Du aber, mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen, häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes.« (Röm 2,1.3-5)
Und welche Vorstellungen die neutestamentlichen Zeugen von diesem »Tag des Zornes Gottes« hatten, das wird im Hebräerbrief deutlich, in dem es heißt:
»›Der Herr wird sein Volk richten.‹ Schrecklich ist's, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.« (Hebr 10,28-31)
Sieht so der Trost des Evangeliums aus? Was ist das für ein Gott, der alle, die mit der Taufe in den Gnadenbund Christi aufgenommen wurden und von ihm - aus welchem Grund auch immer - wieder abfallen, mit seiner vernichtenden, schrecklichen Rache verfolgt? Wir brechen hier ab. Dass auch die Gottesbilder des Neuen Testaments nicht nur auf Goldgrund gemalt sind und ohne die dunklen Farben von Zorn, Rache und Gewalt nicht auskommen, bedarf keiner weiteren Belege.
Alles dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Zentrum der neutestamentlichen Christusverkündigung noch einmal in ganz anderer Weise von einem gewaltsamen Gottesgeschehen die Rede ist. Das zentrale Gottesbild des Neuen Testaments ist der Crucifixus, der gekreuzigte Gottes- und Menschensohn auf Golgatha. Die Kreuzestheologie des Neuen Testaments knüpft an die alttestamentliche Vorstellung vom Gott des Zorns, der sich in seinem Inneren selbst besiegt, der Rechtsverzicht leistet an und radikalisiert diese noch. Es gibt eine letzte Konsequenz der Gewalt zu wehren, nicht durch Gegengewalt und nicht durch Gewaltverzicht, sondern durch die stellvertretende Übernahme von Gewalt; dadurch, dass man Gewalt und Leid auf sich nimmt, damit andere sie nicht erleiden müssen. Auch in dieser Radikalisierung wird deutlich, dass die frühen Zeugen des Christusgeschehens Schüler des Alten Testaments blieben. Die Verkündigung vom leidenden Gottesknecht im Jesajabuch wurde für sie zum Augenöffner, für das, was auf Golgatha geschah:
»Fürwahr, er trug unsere Krankheit
Und lud auf sich unsere Schmerzen.
Wir aber hielten ihn für den der geplagt
Und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet
Und um unserer Sünde willen geschlagen.
Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten,
und durch seine Wunden sind wir geheilt.« (Jes 53,4f.)
Den Gottesknecht des Jesaja haben die Zeugen Jesu in dem wiedererkannt, der einen Tod von abscheulicher Gewaltsamkeit sterben musste. An ihm, dem Gottes- und der Menschensohn, hat sich die Gewalt ausgetobt, »auf dass wir Frieden hätten«. Er, der Gekreuzigte, ist das wahre »Ebenbild des unsterblichen Gottes« (Kol 1,15).
In alledem bleiben Fragen, auf die ich keine Antworten weiß, die meine heilige Unruhe stillen könnten: Warum musste das geschehen? Verbirgt sich im Kreuz Christi nicht das tragische Moment des Christentums, das auch durch den Auferweckungsglauben nicht ausgelöscht werden kann? Und was sind unsere Gottesbilder denn sonst, wenn nicht ein Suchen und Tasten nach dem, der uns zu seinem Ebenbild erklärt hat?
Prof. em. Dr. Rüdiger Lux
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