Silvestermotette 2017
- 31.12.2017 , 1. Sonntag nach dem Christfest, Altjahresabend - Silvester
In dieser Motette zu Silvester erklang traditionsgemäß die dritte Kantate aus dem Weihnachtsoratorium "Herrscher des Himmels" und das "Dona nobis pacem" aus der h-moll-Messe.
Motette am 31. Dezember 2017
Liebe Motettengemeinde,
nun liegt das Jahr 2017 fast hinter uns. Zeitungen und Fernsehen sind voll von Jahresrückblicken. Da heißt es zum einen: In Deutschland seien deutlich mehr Menschen mit dem alten Jahr zufrieden als in der Umfrage vor 12 Monaten. Andererseits wird als Fazit gezogen: Alles noch mal gut gegangen - aber das sei auch schon das Beste, was man zu diesem Jahr sagen könne. In einem Artikel heißt es: „Draußen Trump und Brexit, drinnen noch immer keine Regierung: Für die Deutschen ist so viel Unsicherheit neu." Ein ziemlicher Gegensatz, der vielleicht für die Herausforderung steht, die wir zu bewältigen haben: Dass wir mehr Extreme erleben, dass wir sie zu verarbeiten und gedanklich einzuordnen haben. Neue Risiken, die wir erst einzuschätzen lernen müssen. Vielleicht wurde in diesem Jahr besonders deutlich: Es gibt eine Polarisierung in unserer Gesellschaft, nicht nur bei uns, sondern weltweit, die nicht nur die politischen Ränder stärker macht. Es gibt eine Tendenz zu extremeren Positionen in alle Richtungen und auch die Neigung, sie sprachlich in extremerer Weise zu formulieren. Dass dabei auch demokratische Prinzipien infrage gestellt werden und Minderheiten verächtlich gemacht werden, gehört dazu. Was als Umgangston in die allgemeine Debatte Einzug gehalten hat, wäre vor Jahren nicht möglich gewesen. Das Muster, an der Stellschraube immer ein bisschen weiterzudrehen, zu gucken, was gerade noch geht, es geht auf. Haben wir uns daran schon gewöhnt?
Ich denke, dass wir für 2018 vor allem eines brauchen: Eine grundsätzliche Debatte über das, was bei uns Konsens sein sollte, was nicht infrage gestellt wird an demokratischen und sozialen Errungenschaften. Was schlicht und ergreifend gilt an Werten für unser Zusammenleben. Und wir haben wohl auch nachzudenken darüber, wie wir der Tatsache begegnen, dass wir mehr oder weniger in sog. Blasen leben, in Echoräumen, die nur unsere eigenen Meinungen wiedergeben. Wie wir diese Blasen mit Bedacht öffnen können, in die wir uns gerne zurückziehen und uns dort dann, welch Wunder, wohl und sicher fühlen. In welcher Gesellschaft wollen wir denn gemeinsam leben? Und in wie weit können wir unsere Verunsicherung und unsere Vorbehalte dabei zurückstellen, wenn wir ins Gespräch darüber eintreten, was unsere Welt im Innersten zusammenhält?
Eins mag uns heute in unserem Nachdenken darüber ermutigen, dabei nicht so schnell aufzugeben, sondern trotz Schwierigkeiten dabei zu bleiben.
Es ist etwas, das man in der dritten Kantate des Weihnachtsoratoriums entdecken kann. Und zwar im Chor der Hirten „Lasset uns nun gehen nach Bethlehem". Sie hören von der Geburt des Kindes, das ihrem Leben Heil verspricht: dass Sie hier finden werden, was ihr Leben und Denken verändern wird. Darauf reagieren sie mit Verunsicherung, so wie wir meistens erst mal auf Veränderungen reagieren. Das einzige, was sie erst mal wissen, ist: Sie müssen nach Bethlehem und sich Klarheit verschaffen. Aber - so hält es Bach musikalisch fest - es ist noch keinesfalls sicher, wohin der Weg sie führt. So ergibt sich im Chor ziemliche Verwirrung - und entgegengesetzte Richtungen. Man beginnt auf dem gleichen Ausgangston, aber die Hirten des Soprans und Tenors laufen die Tonleiter hinauf, die von Alt und Bass hinunter und man landet harmonisch gesehen erst einmal in ganz unterschiedlichen Welten. Erst im Verlauf des Chores kommt man sich näher, hört aufeinander, findet den gemeinsamen Weg und einen tragfähigen Schlussakkord. Aber auch dann sind es noch drei reflektierende Stücke, die Bach einfügt, bevor die Handlung wirklich weitergehen kann.
Drei Reflexionen darüber, was einem an der Krippe begegnet von dem, was unserem Denken, Fühlen und Handeln einen entscheidenden Anstoß versetzen kann: da ist zunächst im Bassrezitativ von Trost die Rede: „Er hat sein Volk getröst, er hat sein Israel erlöst." Das Wort Trost bedeutet ursprünglich „Vertrag, Bündnis" - Gott erneuert in diesem Kind seinen Vertrag, sein Bündnis zu den Menschen, er wird in diesem Kind solidarisch mit allen Leiden der Welt - um sie mitzutragen und dann am Ende zu überwinden, wenn der Tod nicht mehr das letzte Wort hat. Nun kann die Freude als Grundhaltung des Lebens Raum gewinnen: Die Freude darüber, geliebt zu sein, vom Himmel, so wie wir sind: „Dies hat er alles uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an." Das ist die Mitte des Weihnachtsoratoriums, zumindest die inhaltliche - und eigentlich sollten wir diesen Choral nachher alle, zumindest innerlich, mitsingen. Und schließlich im Duett von Sopran und Bass geht es um das, was allein uns zum Leben befreit: Um Gunst, Liebe, Treue, Mitleid und Erbarmen. Das sind die Dinge, die die Hirten in Bethlehem in ihrer Tiefe erkennen sollen als Weg zum Frieden für diese Welt und zur Gerechtigkeit unter den Menschen.
Diese von Gott in uns gelegten Gaben gilt es, in uns zu erkennen und zu stärken und darüber nachzudenken, wie wir sie denn je in unserer Zeit ausprägen. Darüber brauchen wir eine inhaltliche Auseinandersetzung auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. Darüber brauchen wir Einigkeit, dass es das offene durchaus streitbare Gespräch ist, das die Dinge am Ende voranbringen wird. Manches werden wir wie Maria auch länger in uns bewegen müssen, damit es wirklich Frucht tragen kann. So werden wir der inneren Leere des Herzens vorbeugen können, die bekanntlich Angst gebären kann - Angst, die sich radikalisieren kann. Ich hoffe, dass es uns im Jahr 2018 gelingt, wie die Hirten bei Bach weiter und offener zu diskutieren und auch mit der dafür nötigen Zeit und Besonnenheit konstruktiv zu streiten über den Weg nach Bethlehem und auf diese Weise gemeinsam anzukommen, wo wir letztlich alle hinwollen. Dafür steht Bethlehem - auf Deutsch bedeutet der Name dieses Ortes „Brothaus", also zu dem, was uns und alle Welt nährt an Leib, Seele und Geist. Dass wir uns mit unserem Lallen und unseren matten Gesängen in die Pflicht nehmen lassen, an dem mitzuwirken, was unsere Wohlfahrt befestigt stehen lassen wird. Und so auch an dem mitwirken möchten, worum wir Gott am Ende dieser Motette wie in jedem Jahr bitten: Dona nobis pacem. Gib uns Frieden. Amen.
Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org