Predigt zum Erntedankgottesdienst über Jesaja 58,7-12

  • 05.10.2025 , 16. Sonntag nach Trinitatis
  • Kirchenrat Lüder Laskowski

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Liebe Schwestern und Brüder im Herrn, liebe Gemeinde,

begleiten wir zwei Menschen auf einem Stück ihres Weges.

Der Mann geht beschwingt nach Hause. Die Sonne sinkt schon, aber er fühlt sich leicht. Er erinnert sich an seinen Schritt einige Stunden zuvor. Da hatte er auf seine Schuhe geblickt, wie sie ihn einer vor den anderen voran brachten auf ein Ziel zu, das ihm Bange machte. Die Einladung zum Kaffee kam für ihn unerwartet. Im Kindergarten, in der Garderobe, weil dort neben dem Schild, auf dem der Name seines Sohnes stand, seit einiger Zeit ein neuer Name klebte. Komisch kamen ihm die Eltern vor, von Weitem. Nun weiß er mehr. Mühsam haben sie sich verständigt – vieles auch nicht verstanden, manches missverstanden. Aber klar ist ihm geworden, wie sehr sie sich treffen in der Erfahrung, dass sich von einem Tag auf den anderen alles ändern kann im Leben. Dass die Selbstverständlichkeit, mit der man zu oft lebt, keine Selbstverständlichkeit ist.

Die Frau, nach längerer Zeit wieder einmal in ihrer alten Heimat zu Besuch, hat sich getraut. Sie ist aufgestanden und losgegangen. Hat sichw durch das Dickicht der Tische und Bänke, der bierseligen Menge, den Lärm, die Musik auf der Bühne gewühlt und sich einfach dazugesetzt, dem Bürgermeister, zum Bundestagsabgeordneten, der Polizistin, dem Mann, dessen Weltsicht sie nicht teilt. Was geschehen ist, hat sie verblüfft. Ihr wurde zugehört. Als Floskeln zurückkamen, hat sie Einspruch erhoben: ich kann selbst denken, ich lasse mich nicht abschütteln, ich will wirklich wissen, was sie denken und wie es ihnen geht, hat sie geantwortet. Es ist nicht so, dass sie manches nicht immer noch ärgern würde. Aber sie hat erlebt, welche Kraft die persönliche Begegnung hat. Und in welchen Bahnen die Anderen denken, wo sie selbst an Grenzen stoßen.

Jesaja 58,7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. 11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. 12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.

Schauen wir uns an, in welche Situation hinein Jesaja spricht. Er hat Menschen vor sich, die sich mit großen Hoffnungen aufgemacht haben, nach einer langen Zeit der Entbehrungen und der Unterdrückung, ihr Land wieder aufzubauen. Sie sind mit Feuereifer an die Sache gegangen. Haben alles gegeben, sich angestrengt, auf vieles verzichtet. Aber die kärglichen Lebensverhältnisse wollen sich nicht bessern und diejenigen, die das Volk führen sollen, denken zuerst an sich selbst. Alles ist so ganz anders, als erhofft und erwartet. Es herrscht Streit darüber, wie die Gesellschaft organisiert werden soll, wer welche Macht bekommt. Das alles mündet darin, dass sichtbar wird, wie der Glaube an den einen Gott bröckelt. Immer mehr Menschen basteln sich ihre Religion zusammen, aus Versatzstücken, die sie sich von überall herholen. Die Hoffnung schwindet, dass Gott sich zeigt. Die Heilserwartungen, die sich mit dem historischen Umbruch verbunden haben, erfüllen sich nicht. Weder das Ende der Geschichte naht, noch das Paradies auf Erden. Alles bleibt, wie es ist. Es wächst die Enttäuschung und die Wut.

Der Prophet stellt sich dieser Frustration in den Weg. Nicht, indem er noch lauter das „Blaue“ vom Himmel verspricht, sondern indem er das Große im Kleinen entdeckt. Indem er deutlich macht: Fundamentalopposition ist Unsinn. Sie ändert nichts, sie lähmt nur – im besseren Falle – und zerstört Leben – im schlechteren. Stattdessen sucht er die vielen kleinen Lichtblicke und erinnert daran, dass Gott Schritt für Schritt seine Treue versprochen hat. Man könnte sagen: Gott geht mit uns die kleinen Schritte. Und so klein sind die gar nicht – in ihnen wird er selbst schon heute sichtbar.

Natürlich stellen sich die Menschen in einer solchen Zeit, wie ich sie beschrieben habe, die Frage, welche Spielräume sie noch haben. Eine Frage, die uns heute – angesichts äußerer und innerer Bedrohungen und einem Dickicht aus alten Privilegien, in dem das Land gefangen zu sein scheint – bekannt ist. Sie fragen sich, was sie mit ihrer schwindenden Kraft noch tun können, damit die Bilder davon, wie es besser sein könnte, Bilder, die doch in ihnen wohnen, in der Welt Kontur annehmen. Wie bleiben Gerechtigkeit und Befreiung – diese beiden Sehnsüchte benennt der Prophet vor unseren Versen konkret – sichtbar? Es geht Jesaja hier nicht darum, das Himmelreich auf Erden zu versprechen. Wir ahnen, dass uns das nicht zusteht, auch wenn es eine große Versuchung ist, solches durch Politik oder Technologie als machbar zu behaupten. Aber die Ernte, die draußen wächst, die Schöpfung in ihrem Reichtum und ihre Fülle, ruft nun auch uns auf, uns auf den Weg zu machen. In den kleinen Schritten das große Licht zu finden. Denn alles muss klein beginnen, bevor es aufwächst und groß wird. Wie das Leben klein beginnt und groß wird, so ist es über den Verlauf des Lebens hinweg dann weiterhin mit all den „Projekten“, die wir beginnen – und die unserem Leben Sinn geben.

Was gibt uns das Gefühl, lebendig zu sein? Diese Frage steht hinter der Predigt des Propheten. Denn er hat die Erfahrung gemacht, dass das Einstehen für andere, die Hilfe nötig haben, nicht nur diesen hilft. Sie ist auch eine kräftig sprudelnde Quelle für die eigene Lebendigkeit. Wie oft gehe ich nicht aus dem Haus mit zwiespältigen Gefühlen, treffe andere Menschen, die mich mit ihrer mir bisher unbekannten Lebenswelt konfrontieren, ja berühren. Und kehre verändert und beschwingt zurück. Fühle mich lebendig, weil ich Leben mit Anderen geteilt habe. Weil wichtig wurde, was ich bin und andere sich erkannt und wahrgenommen sahen.

Jesaja motiviert dazu, sich nicht in der allgemeinen Weltbetrachtung zu erschöpfen. Die Welt abstrakt zu sehen, als ein diffuses Wechselspiel unberechenbarer und übermächtiger Kräfte. Sich damit selbst klein zu machen in den Möglichkeiten, ein Licht in dieser Welt zu sein. Wie Jesus vom Licht auf dem Berg und dem Salz der Erde spricht, das wir Christenmenschen sein sollen. Erst einmal nichts Großes – letztlich aber entscheidend, wenn es darum geht, wie das Reich Gottes bereits heute sichtbar wird. Jesaja richtet unseren Blick neu aus auf die Spuren, die wir selbst machen. Jeder für sich und Schritt für Schritt auch wir in Gemeinschaft. In jeder Entscheidung, die wir zugunsten des Lebens treffen, wird Gott anwesend sein.

Wird von uns nun Übermenschliches erwartet? Sollen wir nun auch noch neben unseren Sorgen und Lasten das ganze Elend dieser Welt auf unsere Schulter laden? Diese misstrauische Frage ist in den letzten Jahren immer lauter geworden. Und es ist richtig: das würde fast zwangsläufig überfordern. Aber Jesaja spricht ja auch nicht davon, dass wir mit einem Streichholz alle Finsternis vertreiben können. Er spricht davon, dass das Licht hervorbricht und die Heilung voranschreitet. Es ist also ein Weg, der da vor uns liegt. Manchmal genügen ein paar Spritzer Wasser, um eine Pflanze vor dem Vertrocknen zu retten, wenige Steine, um eine Mauer vor dem Umfallen zu sichern – tröstende Worte, um einen Menschen wieder aufzurichten, ein Besuch, um eine Krise zu überstehen, ein Schritt auf Menschen zu, die wir vorher nur misstrauisch aus der Ferne beäugt haben, um unsere eigene Angst vor dem Fremden in die Schranken zu weisen.

Dann bekommen auch wir den Namen: „Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne.“ Wenn wir das schaffen – die Wege zueinander auszubessern, die Lücken zuzumauern – dann wird es heller sein. Das ist eine Ernte. Gott ist unter uns anwesend und spendet wie eine unerschöpfliche Quelle Lebenswasser. Das gibt der Hoffnung in uns neue Nahrung, damit wir die Kraft gewinnen uns zu engagieren nach unseren Möglichkeiten. Genau für diese nie versiegende Kraft zum Guten sagen wir Gott heute Dank.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.