Predigt zum Erntedankfest

  • 06.10.2024 , 19. Sonntag nach Trinitatis
  • Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle

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Liebe Gemeinde,

was man essen kann, essen darf oder soll, ist eines der großen Themen der Kulturgeschichte. Es gibt wohl kaum eine Zivilisation, die sich nicht intensiv mit Nahrung und Essen auseinandergesetzt hat. Was man isst, wie man isst und mit wem man das tut – in alle dem drückt sich aus, wie man die Welt und sich selbst betrachtet, was man wertschätzt und was einem wichtig ist. Essen ist etwas, das unser leibliches, seelisches und soziales Leben berührt. Ein gutes Essen nährt, verbindet, stärkt und lässt einen idealerweise ein bisschen glücklicher zurück als zuvor.

„Du bist, was du isst“ – dieses heute etwas überstrapazierte Sprichwort bringt das eigentlich ganz gut auf den Punkt. Es findet sich ursprünglich bei keinem Geringeren als dem Philosophen Ludwig Feuerbach um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Heute hört man dieses Sprichwort vor allem, wenn es um gesunde Ernährung und einen „healthy lifestyle“ geht. Feuerbach hatte etwas anderes vor Augen. „Du bist, was du isst“ – dabei dachte er daran, dass zu seiner Zeit vor allem Kinder schlecht ernährt waren, weil man meinte, dass gutes Essen nur etwas für Erwachsene sei. Er dachte auch daran, dass Essen davon abhängt, was man sich leisten kann. Ernährung hat immer auch etwas mit Einkommen und sozialem Status zu tun. Und Feuerbach dachte schließlich an eine verjenseitigte Kirche, die zwar die Seele retten wollte, aber für den Leib wenig übrighatte. Nein, es geht nicht nur um das künftige Seelenheil, du bist auch dein Körper. Was deinen Körper nährt oder vergiftet, das nährt und vergiftet dich als ganzen Menschen. Du bist, was du isst.

Feuerbach hält den Kirchen seiner Zeit vor, dass sie mit Körperlichkeit nichts anzufangen wussten und über ganz elementare Dinge wie eben Nahrung auch nichts zu sagen hatten. Hätte er damit auch heute noch Recht? Bevor wir diese Frage an uns heranlassen, lohnt der Blick auf den Predigttext, der sich mit diesem Thema beschäftigt. Er stammt aus dem 1. Timotheusbrief und ist denkbar kurz:

„Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird. Denn es wird geheiligt durch Gottes Wort und Gebet.“

Das sind knappe Sätze über ein großes Thema, das die frühe Kirche bewegte. Wir befinden uns in den ersten Jahrzehnten christlicher Gemeinden. Man begann damit, über Grundsätze und Regeln des christlichen Lebens nachzudenken. Jede Gemeinschaft, die sich neu zusammenfindet, muss sich zu ganz konkreten Lebensfragen verhalten, wie eben auch der, was man essen soll. Andere Religionsgemeinschaften um das Christentum herum hatten dazu schon lange ihre Regeln und Rituale gefunden. Vor allem das Judentum hatte – und hat bis heute – sehr genaue Vorschriften darüber, was man essen darf und welche Nahrungsmittel zusammengehören. Es geht darum, was koscher ist. Eine Grundregel dabei lautet, dass man milchige und fleischliche Produkte nicht in einer Mahlzeit zusammen essen soll. Das klingt zunächst einmal etwas „schräg“. Dahinter steht allerdings ein Gebot aus dem Alten Testament, dass man – so heißt es da – ein Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen soll. Dahinter steht eine, wir würden heute sagen ‚tierethische‘ Überlegung: Wenn man ein Lamm geschlachtet hatte, wäre es geradezu zynisch gewesen, in jedem Fall aber unethisch, dies in der Milch seiner Mutter zuzubereiten. Es sind moralische, weltanschauliche, manchmal auch ernährungswissenschaftliche Gründe, die darüber entscheiden, was man essen soll und was nicht.

Das frühe Christentum als Neuling in der antiken Welt, hatte auf all das noch keine Antworten. Dazu kam, dass man vor allem in den Städten auf dem Markt Fleisch angeboten bekam, das zuvor heidnischen Gottheiten geopfert worden war. Durfte man das als Christ, als Christin essen? Wurde man, wenn man das tat, nicht zwangsläufig zum Götzenverehrer? Du bist, was Du isst … ?!

In diese Unsicherheiten hinein gibt unser Predigttext eine kühne und sehr eindeutige Antwort, die da lautet, dass Christen alles essen dürfen. Man muss nicht koscher leben wie die Juden. Man muss sich auch keine Sorgen darum machen, woher das Fleisch kommt, das man auf dem Markt kauft. Man muss als Christ auch nicht Asket werden und möglichst gar nichts mehr essen, weil das alles Bindungen an eine Welt schafft, die sowieso bald untergeht. Nein, all das braucht man nicht zu tun, von alle dem ist man frei, solange man eines versteht: „Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird. Denn es wird geheiligt durch Gottes Wort und Gebet.“ Oder anders gesagt: Wenn man das, was man isst, als Schöpfungsgabe Gottes empfängt und dafür dankbar ist, dann gibt es auch keine Tabus, keine No-Gos. Der Dank und das Gebet heiligen das, was man dem Körper zuführt. Du isst und du bist, wofür du Gott, dem Schöpfer, dankst.

Das klingt gut – progressiv, positiv, befreiend, fromm. Und es klingt so, als könne man das am Erntedankfest auch für unsere Welt übernehmen und der all-you-can-eat, raus-aus-der-Plastik-Verpackung-rein-in-die Mikrowelle Kultur entgegenwerfen. Aber Vorsicht, ganz so einfach ist es vielleicht dann doch nicht.

Ob der Autor des Timotheusbriefs mit seiner Argumentation überzeugen konnte, wissen wir nicht. Ich kann mir jedenfalls vorstellen, dass es auch andere Meinungen gab. Und ehrlich gesagt, bin auch ich noch nicht ganz überzeugt. Dass Gott alles geschaffen hat, alle Pflanzen, alle Tiere, heißt doch nicht, dass ich das alles essen dürfte oder gar müsste. Nicht alles Geschaffene ist dafür da, Nahrung für uns Menschen zu sein. Es ist ja gerade das Problem unserer Tage, dass Menschen die ganze Welt als „Ressource“ betrachten und darüber den Sinn für die Würde und das eigene Recht von Pflanzen, Tieren und Ökosystemen verlieren. Das war noch nicht das Problem unseres Autors. Für ihn ging es ganz einfach darum, ob man das, was es auf dem Markt zu kaufen gab, als Christ oder Christin essen durfte.

Unsere Welt ist demgegenüber deutlich komplizierter geworden: Thunfischfilets in Sonnenblumenöl aus der Büchse, Eier mit Stempel aus der Legebatterie, Salat im Februar aus hydroponischem Anbau (ich musste das Wort auch erst googeln), der Joghurt mit Himbeergeschmack, an dem vermutlich nie eine echte Himbeere vorbeigelaufen ist – ist das noch Schöpfung? Tiefgefrorene Teiglinge, die im Ofen zu Brötchen aufgeblasen werden und der Schnellimbiss zwischendurch, wo wirklich auch der liebe Gott nicht mehr weiß, was drin ist und wo es herkommt – brauchen wir dafür ein Erntedankfest?

Was uns von unserem Predigttext trennt, ist die Tatsache, dass alles, was Nahrung und Essen angeht, heute eher etwas mit Industrie als mit Schöpfung zu tun hat. Jeder Ökonom würde jetzt sagen, dass das auch gar nicht anders geht, wenn man einen Planeten mit über 8 Milliarden Menschen ernähren soll. Das kann man nicht mehr dem Lauf der Sonne überlassen oder dem Zufall, wann es wo Regen gibt – von Tierwohl und dergleichen ganz abgesehen.

Ganz ehrlich, liebe Gemeinde, ich fühle mich da selbst verloren und bin vorsichtig damit geworden zu sagen, was richtig und falsch ist. Und ich bin mir auch bewusst, dass ich mir als Professor mit einem angenehmen Einkommen mehr Ernährungsmoral beim Einkaufen leisten kann als andere, weil es auf ein paar Euro eben nicht ankommt.

Aber wo lässt uns das an diesem Tag, dem Erntedankfest? Ist es doch noch ein legitimer Tag im Kirchenjahr? Ich für meinen Teil bin noch nicht ganz bereit, auf Erntedank zu verzichten. Vielleicht kann man dem Autor unseres Predigttextes heute nicht mehr darin folgen, dass einfach alles, was man essen könnte, auch essen darf oder sollte. Aber sein zweiter Gedanke hilft wenigstens mir weiter: Es ist der Dank, der heiligt, was wir essen. Wann also bin ich denn dankbar? Wann überkommt mich dieses Gefühl von Dankbarkeit? Oft schaue ich beim Einkaufen mehr oder weniger darauf, ob das, was ich da in der Hand habe, einigermaßen nahrhaft und gesund ist. A, B, C, D oder E, Sie wissen schon.

Essen ist auch für mich allzu oft etwas Mechanisches, da stellt sich der Frage von „Dankbarkeit“ einfach nicht. Aber manchmal ist da doch dieses Gefühl, das auch die Menschen hinter unserem Predigttext gehabt haben mögen. Auf dem Markt, wenn Obst und Gemüse noch so duften und so aussehen, wie es sein soll; wenn einem der Honigmann etwas darüber erzählt, wo seine Bienenkörbe stehen; wenn Brotleibe noch etwas von der Erdigkeit des Bodens haben, auf dem das Korn gewachsen ist, dann habe ich es schon – das Bedürfnis, dankbar zu sein. Wenn Nahrung nicht nur Nährwerte ist, sondern das Ergebnis von guter Natur und sorgsamer Arbeit, dann ruht darin ein kleines Wunder, eine Ahnung von Segen, der tief in den Dingen verborgen ist und für den man dankbar sein darf.

Über den ganzen Sommer züchtete ein Nachbar auf der anderen Straßenseite auf seinem Fenstersims Tomaten. Tatsächlich wurden aus den Zöglingen ansehnliche Büsche, und irgendwann waren auch Tomaten dran. Ein Fenster zu einer Kreuzung an der August-Bebel-Straße mag nicht der idyllischste und vielleicht auch nicht der gesündeste Ort sein, um Tomaten zu züchten. Aber ich kann verstehen, warum er das gemacht hat: aus dem gleichen Grund, warum einige meiner Studierenden sich Schrebergärten zulegen und dort Dinge anbauen, die sie im Bioladen billiger kaufen könnten. Vielleicht sind wir als körperliche Wesen so gemacht, dass wir das einfach brauchen – die Erfahrung von Wachstum und Reife, Saat und Ernte und schließlich von Erfüllung. Und vielleicht ist es an der Zeit, dass wir bei dem, was wir essen, kaufen und konsumieren wieder darauf achten, wo sich diese Erfahrung einstellt, an deren Ende Dankbarkeit steht. ‚Du isst und du bist, wofür Du dankbar sein kannst.‘  

Liebe Gemeinde, wahrscheinlich müssen wir erst wieder lernen, Gottes Schöpfung hinter unserer Ernährungsindustrie und unseren Konsumgewohnheiten zu entdecken. Essen und Nahrung haben wir so weit verzweckt und funktionialisiert, dass sich darin vor allem unsere eigenen Bedürfnisse und unsere Lebensgewohnheiten widerspiegeln.

Das Erntedankfest ist ein guter Ort, um mit diesem Lernen zu beginnen, eben weil es an diesem Tag um Dankbarkeit geht. Ich für meinen Teil bin davon überzeugt, dass uns Dinge erst dann wirklich wichtig sind und uns etwas bedeuten, wenn wir auch das Bedürfnis haben, dafür dankbar zu sein. Im Bibelkreis diese Woche sagte jemand, Dankbarkeit sei eine Herzenssache. Das trifft es auf den Punkt. Beim Dank geht es um etwas, das uns tief und existenziell berührt. Denken Sie nur an Ihre Kinder und vielleicht an den Menschen, der gerade neben Ihnen sitzt. Dankbarkeit geht Hand in Hand mit der Einsicht, dass wir nicht über das verfügen, was uns gut tut. Dankbarkeit heißt, sich einem Segen zu überlassen, der sich auf mein Dasein legt und mich in einer Weise lebendig macht, für die die eigenen Kräfte nicht ausreichen. Dankbarkeit und ihr Gegenteil, die Klage, sind wohl schon immer die direktesten Wege zu Gott gewesen, weil wir da ganz bei uns selbst sind und gleichzeitig ganz aus uns herausgehen.

Und vielleicht gelingt es uns ja, auch Nahrung und Essen wieder als etwas zu begreifen, das nicht nur unseren physischen Motor am Laufen hält, sondern Ausdruck unserer ganzen Existenz ist – dessen, was uns im Innersten wichtig ist, was wir für uns selbst und andere erhoffen, was uns mit Dankbarkeit und darin mit einer Ahnung von der Gegenwart Gottes erfüllt. Das ist eigentlich gar nichts Neues, weil Essen und Nahrung in allen Religionen und Kulturen etwas Besonderes, etwas Heiliges waren, auch wenn uns das heute etwas verlorengegangen ist. Aber wenn das gelänge, wenn wir nur wieder etwas langsamer, bewusster, ehrfürchtiger und sozialer mit dem umgehen, was wir essen und wie wir das tun, dann wären wir – wenngleich auf anderen Wegen – wieder dort, wo auch der Schreiber unseres Predigttexts schon einmal war: „Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird. Denn es wird geheiligt durch Gottes Wort und Gebet.“

Amen.