Predigt zu Römer 8,14–22

  • 01.09.2024 , 14. Sonntag nach Trinitatis
  • Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle

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Liebe Gemeinde,

heute ist Wahlsonntag in Sachsen und Thüringen – seit Langem mit Spannung erwartet, nicht nur hier, vielmehr schaut die gesamte Republik auf das, was heute „im Osten“ geschieht. In den vergangenen Wochen habe ich mir – teils notgedrungen, teils aber auch aus Interesse – die Wahlplakate und Werbespots der Parteien angeschaut. Den Originalitätspreis würde ich persönlich an ein Plakat vergeben, das erst in den letzten Tagen aufgetaucht ist. Es zeigt Gregor Gysi mit leichtem Dackelblick und einer Büste von Karl Marx in der Hand, und darunter ist zu lesen. „Mal unter uns: Wir würden ihnen doch fehlen!“

Aber abgesehen davon: Mit welchen Themen wollten die Parteien punkten? Mit welchen Slogans gewinnt man heute Leute für sich – oder meint zumindest, dies zu tun? Dabei fiel mir auf, dass die Botschaften größtenteils austauschbar waren. „Weil es um Sachsen geht!“, „Für mein Leipzig“ – ich weiß schon gar nicht mehr, auf wessen Plakaten das stand. Egal an welchem Ende des politischen Spektrums wurde diesmal sehr auf Lokalpatriotismus gesetzt. Entsprechend häufig tauchte das Wort „Heimat“ auf – und das keineswegs nur am rechten Rand. Wer das vermeiden aber etwas Ähnliches sagen wollte, sprach von „Sicherheit“ – ein Wort, das diesmal tatsächlich im Repertoire keiner Partei fehlte.

„Heimat“, „Sicherheit“ – was auch immer diese Worte bedeuten – die Wahlkampftaktiker und Werbepsychologen gehen offenbar davon aus, dass das Wahlvolk damit ein Bedürfnis, vielleicht auch eine Sehnsucht verbindet. Natürlich spielt dabei auch ein Anspruch eine Rolle: Meine Heimat – die gehört mir, da kenne ich mich aus, da kann ich sagen, was gilt.

Christlich betrachtet fällt es mir schwer, mich zu diesen Schlagworten in ein Verhältnis zu setzen. Weder Heimat noch Sicherheit spielen in der christlichen Glaubenswelt eine Rolle, eher im Gegenteil. Wer sich diese Welt allzu sehr zur Heimat macht und sich darin ausbreitet, hat wenig zu erwarten, zu hoffen, zu glauben. Das christliche Leben ist kein Heimaturlaub, sondern eher eine Pilgerreise, deren letzte Schritte wir gar nicht selbst gehen können, sondern die Gott uns dann einmal führen muss. Der Kirchenvater Augustin schrieb am Anfang seiner Autobiographie einen berühmten Satz, der diesen Pilgerweg des Glaubens auf den Punkt bringt. Auf Lateinische lautet er: Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te – „unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir“. Das heißt nicht, dass es keine Zwischenstationen gibt, nicht immer wieder auch ein Ankommen und Durchschnaufen. Aber wenn Heimat und Sicherheit auf den Wahlplakaten sagen wollen, dass der Weg schon zu Ende sei und dass es nur noch darum gehe, sich jetzt festzusetzen und festzuklammern, dann atmet das wenig christlichen Geist.

Ein anderes Stichwort, das eigentlich in jeden Wahlkampf gehört, spielte diesmal eine eher geringe Rolle. Von „Freiheit“ war auffallend wenig die Rede. Die Pandemie scheint schon fast vergessen zu sein und die Tatsache, dass es von einem Tag auf den anderen erhebliche Eingriffe in freiheitliche Grundrechte gab. Daraus zu lernen, steht noch aus. Aber auch im normalen Alltag erleben Menschen Einschränkungen. Die Verrechtlichung und Bürokratisierung weiter Teile des sozialen Lebens, hohe Kosten und Preise … all das raubt Freiheit. Für mich fühlt sich das manchmal so an, als müsste man sich sein Leben in zunehmend enger werdenden Räumen einrichten. Das ist nicht nur beklemmend, sondern kostet Perspektive und Fantasie. Doch, es gäbe reichlich Grund, von Freiheit zu reden!

Unser Predigttext, liebe Gemeinde, aus dem Römerbrief wurde zwar nicht für einen Wahlkampf verfasst, aber er ist tatsächlich eine Werbeschrift. Der Apostel Paulus schreibt an die christlichen Gemeinden in Rom, die er gerne für sich gewinnen würde. Noch kennt er diese Gemeinden nicht, aber in der Hauptstadt des Römischen Reichs würde er gerne Fuß fassen. Und ins Zentrum dieser Werbeschrift stellt er tatsächlich den Begriff der Freiheit. Wir haben den Text zwar schon gehört, aber ich denke es schadet nicht, ihn nochmal zu lesen.

 

14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. 15 Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! 16 Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. 17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden. 18 Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegen-über der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. 20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; 21 denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augen-blick seufzt und in Wehen liegt.

 

Keine so ganz leichte Kost! Aber das Thema ist dennoch klar: Es geht um die Freiheit der Kinder Gottes. Das haben die ersten Hörerinnen und Hörer konkreter verstanden als wir heute. Einige von ihnen waren selbst einmal Sklaven gewesen, andere waren Menschen an den Rändern der Gesellschaft – ohne Privilegien, ohne Rechte, ohne Freiheiten. Und nun kommt Paulus und sagt ihnen zu, dass es das alles auch für sie gibt, als Kinder Gottes und als Erben des Gottesreiches.

Freiheit ist so ein wunderbares Wort, weil es gegen vieles steht: Freiheit ist das Gegenteil von physischer Knechtschaft, von sozialem Zwang, von Enge und von den vielen Blockaden im Kopf, die einem das Selbstwertgefühl zusammenstauchen. Und Paulus gibt uns sein Verständnis davon, was Freiheit auf christlich heißt: Es bedeutet, dass Menschen Gott nicht als ferne, knechtende Macht erkennen, sondern als „Vater“ und „Mutter“. Im Bibelgesprächskreis vergangene Woche haben wir darüber gesprochen, dass Elternbeziehungen schwierig sein können. Aber für Paulus geht es an dieser Stelle gar nicht so sehr um emotionale Befindlichkeiten, sondern um etwas anderes: Kinder sind keine Knechte, Kinder sind Erben, sie haben Rechte, sie haben einen besonderen Status, nämlich den ihrer Eltern. Und wenn Christen Gott Vater nennen dürfen, dann ist das ein Bild von Fürsorge und Zuwendung, aber mehr noch von Anerkennung, Erhebung und Zugehörigkeit. Gottes Kinder sind freie Menschen und mündige Erben des Gottesreiches. Das ist die große Verheißung, die Paulus den ihm unbekannten Römern ans Herz legt und auf die Seele schreibt.

Beim Nachdenken über das, was Freiheit ist, fiel mir ein Satz ein, der dem Neurologen und Psychiater Viktor Frankl zugeschrieben wird. Dieser Satz lautet so: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl, unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ Dieses Bild vom „Raum“, der zwischen Reiz und Reaktion liegt, spricht mich jedenfalls an. Oft, vielleicht meistens reagiert man mit einer gewissen Zwanghaftigkeit auf das, was einem widerfährt. Vor allem natürlich, wenn man sich angegriffen fühlt. Die Evolutionslehre sagt, dass wir für die allermeisten unserer Gedanken und Handlungen eigentlich nur abgespeicherte Muster abrufen. Alles andere wäre zu kompliziert, zu konfliktträchtig und zu langsam, um überleben zu können. Insofern sollte man sich manchmal ehrlich und selbstkritisch fragen: Wie frei oder wie festgelegt bin ich denn wirklich? Kann ich mich selbst noch überraschen? Bin ich offen für etwas, das mich in Frage stellt, oder kommen dann doch die immer gleichen Abwehrreaktionen? Evolutionär betrachtet bestehen wir aus den Sedimenten von Veranlagungen, Prägungen, von Temperament, von Erfahrungen und von Vorurteilen, die sich bewährt haben. Und diese Sedimente werden mit dem Lauf eines Lebens schwerer und fester. Wie viel Raum ist da noch? Manche würden es heute vielleicht so ausdrücken: Wie viel freien, unformatierten Speicherplatz habe ich noch auf der Festplatte meiner Persönlichkeit?

Auch Paulus stellt sich solche Fragen. Wenn er sich selbst anschaut und die Welt um ihn herum, dann nimmt er Enge, Schwerfälligkeit und Vergänglichkeit wahr, aber auch das Stöhnen, die Sehnsucht nach Erlösung und Befreiung. Für Paulus gibt es – trotz allem – etwas in uns, das uns zu hoffnungsfähigen Menschen macht. Es gibt etwas zwischen Reiz und Reaktion, etwas, das Raum für Neues schafft. Wir spüren es dann, wenn wider alle Erwartung etwas Belebendes, Gutes, Hoffnungsvolles geschieht – wenn Versöhnung gelingt, wenn Krieg endet und Frieden beginnt, ohne dass man so ganz genau weiß, warum eigentlich.

Paulus nennt es „Geist“. Fünfmal redet er allein in unserem kurzen Abschnitt davon, im ganzen Römerbrief sogar 21mal. Neben „Freiheit“ ist „Geist“ das zentrale Wort seiner Werbeschrift an die Gemeinden in Rom. Schwer zu glauben, weil heute sicher niemand mehr „Geist“ auf irgendein Wahlplakat drucken würde. Aber für Paulus ist das die zentrale Überzeugung: Der Geist in uns ist der Wind einer neuen Welt, die Gott schafft. Dieser Geist weht im Raum zwischen Reiz und Reaktion, er ist die heilsame Unterbrechung, das zarte Pflänzchen, das sich zwischen den Verkrustungen einer vergehenden Welt Bahn bricht. Dieser Geist kommt von Gott und zieht uns hinein in eine neue Schöpfung, deren erste Umrisse man schon sehen kann. Es ist dieser Geist, der uns trotz allen Übels in der Welt zu Gott als Vater rufen lässt und uns zu Kindern Gottes macht.

Liebe Gemeinde, ich habe noch immer eine sehr intensive Erinnerung an meine erste Paulus-Vorlesung als Student an der Uni Heidelberg. Und der Professor sagte es damals so: Für Paulus ist die Welt, in wir leben, wie ein in die Jahre gekommenes Gebäude, an dem die Wände bröckeln. Aber um dieses Gebäude herum stehen Gerüste mit Planen, hinter denen man schon etwas Neues sehen kann. Eines Tages, wenn dann die Planen und die Gerüste abgebaut sind, wird das Gebäude in neuem Glanz erstrahlen. Gott ist der Baumeister und Gottes Geist der Mörtel, der alles zusammenhält.

Ich habe dieses Bild auch schon in meinen eigenen Vorlesungen verwendet – in der Hoffnung, dass es meine Studierenden so abholen würde wie mich damals. Das scheint aber heute nicht mehr ganz so zu funktionieren … Eine Studentin meinte, dass das Bild von einem baufälligen Gemäuer eher für etwas ältere – sie hat dann glücklicherweise nicht gesagt: baufällige – Menschen sei. Studierende können manchmal grausam sein … J Wir haben uns dann überlegt, was denn ein anderes, Bild sein könnte. Und am Ende stand das Bild eines noch nicht geschlüpften Schmetterlings. Da ist noch die Enge der alten Haut, aber so nach und nach bildet sich darin etwas Neues. Es ist da, schimmert auch schon durch den Kokon, aber es ist noch gefangen, noch nicht ganz fertig, noch nicht ganz … frei.

Paulus hätte dieses Bild vielleicht gemocht, weil es die in diesem Leben nie endende Spannung zum Ausdruck bringt. Solange die alte Welt und wir in ihr existieren, wird der Schmetterling nicht schlüpfen. Da ist immer noch das „Stöhnen der alten Welt“, wie es Paulus nennt. Es bleibt beim Vorletzten, bei einer Hoffnung, die zur Gewissheit werden will.

Soweit die Werberede des Paulus, die von Freiheit handelt und vom Geist! Keine ganz leichte Kost. Ob er die Gemeinden in Rom damit gewinnen konnte, ist nicht bekannt. Mich erreicht diese Werberede – heute am Wahltag – wenigstens an zwei Punkten. Wir leben in Zeiten, in denen sich massenmediale Trivialisierung und politische Ideologisierung die Hand geben – Zeiten enger Reiz-Reaktionsschemen und vielleicht auch deswegen Zeiten einer gewissen Lieblosigkeit und Genervtheit. Aber genau darum lohnt es, von Freiheit zu reden. Für Paulus ist das die Freiheit der Kinder Gottes, und das heißt doch auch, dass Menschen einander im Geist der Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit begegnen. Auch Geschwister können streiten und sich unausstehlich finden. Aber Geschwisterlichkeit bedeutet, sich nicht aus dem Auge zu verlieren und sich, trotz allem, umeinander zu sorgen und füreinander verantwortlich zu sein. Auch das gehört für Paulus zur Freiheit.

Mich persönlich erreicht aber auch, was Paulus über den Geist sagt. Ich will es glauben, dass es etwas in mir gibt, das mehr ist als ich verstehen kann – etwas, das mir sogar fremd ist, weil es nicht in die enge Welt hineinpasst, die ich mir zur Heimat gemacht habe. Paulus nennt es „Geist“ – der Atem eines neuen Lebens, der Windhauch des Reiches Gottes. Auch das bin ich, auch das gehört zu mir – selbst wenn mein Verstand und meine Lebenserfahrung das nur manchmal, in flüchtigen Momenten greifen können. Aber genau das gibt mir Kraft, Lebensfreude und eine Neugier auf das, was noch werden kann – aus mir, aus Dir, aus denen, die Gottes Kinder heißen.

Amen.