Predigt zu 4. Mose 21,4–9

  • 25.02.2024 , 2. Sonntag der Passionszeit - Reminiszere
  • Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle

Predigt zu 4. Mose 21,4–9 (Reminiszere), Thomaskirche zu Leipzig

Prof. Andreas Schüle

 

Liebe Gemeinde,

manche unserer Studierenden verbringen ein Jahr ihres Theologiestudiums in Jerusalem. Dafür gibt es ein eigenes Programm. Und wenn man Glück hat und genommen wird, verbringt man dieses Jahr zusammen mit einer Gruppe von ca. 15 anderen Studierenden in einem Klosterkonvent unmittelbar außerhalb der Jerusalemer Altstadt. Am Anfang dieser Zeit steht eine einwöchige Wüstenwanderung. Das heißt man ist für eine Woche von der Zivilisation, von Internet und Duschen weitgehend abgeschnitten. Das ist am Anfang lustig und abenteuerlich. Aber spätestens an Tag drei wird es dann auch mühsam. Man ist mit sich selbst und den anderen allein – muss mit den Marotten, Befindlichkeiten und Gerüchen umgehen, die sich so langsam ausbreiten. Man entdeckt, dass man selbst und die anderen nicht immer nette und ausgewogene Persönlichkeiten sind. Am Ende hat man dann entweder zusammengefunden, oder man weiß, wer mit wem in diesem Leben wohl keinen Sommerurlaub mehr verbringen wird.

 

Wüstenzeiten, egal ob real oder metaphorisch, sind immer beides – Chance und Herausforderung, Belastung und Überwindung, Verzweifeln und Hoffen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Bücher am Anfang der Bibel, wo Gott das Volk der Hebräer findet, von der Wüste erzählt. Es sind Wüstenzeiten und Wüstenorte, wo sich Gott und Volk kennenlernen, fernab von großen Städten, von Kultur, von Ablenkungen und Annehmlichkeiten. Und dies sind nicht immer idyllische Geschichten, eher im Gegenteil. In der Wüste sind Gott und Volk mit sich allein, samt allen Spannungen und Anstrengungen. Es geht darum, ob Gott und Volk sich überhaupt riechen können. Am Ende werden es vierzig Jahre sein, die in der Wüste vergehen, bevor sich dann der Weg ins verheißene Land auftut.

In dieser Zeit der vierzigjährigen Wüstenwanderung spielt die Begebenheit, von der der heutige Predigttext erzählt. Ich lese aus dem vierten Buch Mose, im 21. Kapitel die Verse 4 bis 9:

Da brachen sie auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise. Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den HERRN und wider dich geredet haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk. Da sprach der HERR zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.

Keine Frage, liebe Gemeinde, hier ist eine Beziehung an ihrem Tiefpunkt angekommen. Alles Vertrauen, alle Fürsorge, alle Rücksicht ist dahin. Das Zerwürfnis zwischen Gott und Volk ist im wahrsten Sinne des Wortes toxisch geworden ist. Die Hebräer wollen von dem Gott nichts mehr wissen, der sie in die Wüste geführt hat, und dieser Gott bestraft die Abtrünnigkeit mit eigener Giftigkeit.

Aber nun ist dies nicht eine Erzählung von einer kaputten Ehe oder von besten Freunden, aus denen Feinde werden. Es geht um Gott und die Menschen, die er sich ausgesucht hat. Das ist keine Beziehung auf Augenhöhe, es ist ganz klar, wer hier der Stärkere ist. Aber genau deswegen stellt sich die Frage: Ist das noch angemessen, was Gott da tut? Sind die feurigen Schlange nicht doch eine brutale Erziehungsmaßnahme, die nichts mit väterlicher Güte und mit göttlichem Erbarmen zu tun hat? Und auch wenn es am Ende ein Gegengift gibt, es bleibt dabei: Viele Menschen sterben, von Tausenden ist da die Rede. Und so muss die Frage erlaubt sein: Ist das wirklich ein Gott, mit dem man durch die Wüste gehen will?

 

Aber schauen wir noch etwas genauer hin! Zum Konflikt kommt es, weil die Hebräer nicht mehr weiterwollen. Sie haben die Wüste satt, es ekelt sie an – das Essen, der Mangel, alles. Und wie das so ist: Wenn man sich in der Gegenwart nicht mehr wohlfühlt oder nicht mehr auskennt, dann fängt man an, die Vergangenheit zu glorifizieren. Genau das tun die Hebräer. Sie wollen umkehren. Raus aus der Wüste, zurück nach Ägypten! Zurück zu den Fleischtöpfen, zur Zivilisation, zu den Annehmlichkeiten und zur Sicherheit einer großen Nation. „Früher war alles besser, und nun haben uns dieser Mose und sein seltsamer Wüstengott an den Rand des Untergangs gebracht“, so raunt es durchs Lager. Zeit aufzubegehren und das Ruder rumzureißen!

Und dann schickt Gott die feurigen Schlangen. Ich denke das hat nicht nur etwas mit Strafe zu tun. Die feurigen Schlangen sind Symbole Ägyptens. Schlangen finden sich in ägyptischen Schriftzeichen, in Wandbemalungen und Schmuckgegenständen. Eine sich aufbäumende, zum Angriff bereite Kobra zierte die Krone des Pharao. Wer dem Herrscher zu nahe kommt, wird gebissen. Könnte es also sein, dass die Schlangen, die die Hebräer beißen, die Erinnerung an all das zurückbringen sollen, was Ägypten wirklich war: ein Land der Not, der Unterdrückung, der Peitsche und der Zwangsarbeit. Ägypten war nicht der Himmel, sondern die Hölle auf Erden. Aber all das scheinen die Hebräer schon vergessen und verdrängt zu haben.

Wer sich in der Gegenwart nicht wohlfühlt, glorifiziert die Vergangenheit. Genau dann aber braucht es einen Weckruf, braucht es die Erinnerung daran, wie die Vergangenheit eben auch war: Leidvoll, ungerecht, schmerzhaft. Manchmal muss einen die Vergangenheit in den Hintern beißen, damit man bereit ist, in der Gegenwart anzukommen. Die Hebräer wollen zurück nach Ägypten, und genau das bekommen sie auch zu fühlen, in Gestalt der Schlangen.

Der Philosoph George Santayana hat einen viel zitierten Satz geprägt: „Wer die Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Im Licht unserer Erzählung könnte man diesen Satz erweitern: Wer die Vergangenheit glorifiziert, wird von deren Schatten gestochen. Und damit sind wir nicht mehr nur in der Wüste von damals, sondern doch auch in unserer eigenen Gegenwart angekommen. Viele Menschen heute empfinden diese Zeit als Durststrecke, als Dürre und Wüste. Oft hört man die Klage, dass es früher besser war und dass es an der Zeit sei, wieder zu alten Werten zurückzukehren. Irgendwie seien wir in die Irre gegangen, so sagen manche, und dabei im Niemandsland gelandet. Wir seien zu indifferent, zu harmlos, zu schuldverliebt, zu kleinkariert geworden und hätten jeden Hang zur Größe verloren. Also noch einmal zurück auf Anfang, als alles noch gut oder zumindest besser war als heute.  

Dabei fällt mir eine Begebenheit ein, die inzwischen einige Jahr her ist. Ich war etwa im Konfirmandenalter, und auch damals hörte man oft diesen ewig gestrigen Satz „Früher war alles besser!“. Irgendwie war ich mir als Heranwachsender nicht sicher, was ich davon halten sollte, und so fragte ich einmal meine Großmutter, ob denn früher wirklich alles besser war. Sie wurde 1906 noch tief im Kaiserreich geboren und hatte, als sie vierzig Jahre alt war, immerhin zwei Weltkriege mitgemacht. „War früher alles besser?“ Es war nicht so sehr die Antwort, die bei mir hängengeblieben, sondern ihr verständnisloser Gesichtsausdruck. In ihren Augen war jedenfalls ein tiefes, kompromissloses „nein“ zu lesen. Zurück nach Ägypten – das war kein Weg für sie. Die Erinnerung an die Schlangen der Vergangenheit hatten da deutliche Spuren hinterlassen.

Wenn heute Menschen mit nationalen Symbolen und suggestiven Plakaten durch die Straßen ziehen, sich einer Sprache bedienen und ein Selbstbewusstsein nach außen kehren, das Stärke zeigen soll, aber doch wohl aus den dunklen Ecken der Vergangenheit stammt, dann ist das zwar eine ganz andere Geschichte als die unseres Predigttexts – aber doch eine ähnliche Melodie: Wer die Vergangenheit glorifiziert, wird von ihren Schatten gestochen. Wer nach Ägypten zurück will, weil da alles gut gewesen sei, beschwört die Schlangen herauf und ihr Gift.

Aber damit ist unsere biblische Geschichte noch nicht zu Ende. Denn recht unvermittelt und plötzlich wird daraus eine Erzählung von Heilung. Gott schickt nicht nur die Schlangen, sondern schließlich auch ein Gegengift. Mose soll eine Schlange aus Eisen anfertigen und sie an einem Stab aufrichten. Und wer gebissen wurde und diese eiserne Schlange sieht, wird geheilt. Das klingt reichlich surreal, um nicht zu sagen „abgefahren“. Aber das Bild, das hier beschrieben wird, kennen wir alle, auch wenn wir vielleicht schon gar nicht mehr darauf achten. Man sieht es an Apotheken, Krankenhäusern oder Medikamentenschachteln. Es ist das Bild von der Schlange, die sich um einen Stab, manchmal auch um ein Gefäß windet und ein Symbol für Heilung ist. Wir nennen es den Stab des Asklepios entlang der griechischen Mythologie vom Gott der Heilkunst. Es mag überraschen, aber es ist wohl das gleiche Bild, das auch unsere Erzählung meint. Was Mose in der Wüste aufstellt, ist dieses medizinische Zeichen für Heilung. Und damit wird auch der Gott dieser Erzählung ein anderer – ein Gott, der heilt und der vor tödlicher Krankheit bewahrt.

Genau betrachtet ist gar nicht so überraschend, denn wenn man zurückblättert in der Bibel, war von Gott schon einmal so die Rede. Ganz am Anfang der Reise, als die Hebräer sich auf den Weg in die Wüste, hatte Gott sich ihnen genauso vorgestellt. Da sagte Gott:

Wirst du der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchen und tun, was recht ist vor ihm, und merken auf seine Gebote und halten alle seine Gesetze, so will ich dir keine der Krankheiten auferlegen, die ich den Ägyptern auferlegt habe; denn ich bin der HERR, dein Arzt.

Das ist ein ungewöhnliches Bild. So sprechen wir selten von Gott – als Arzt oder als Pharmazeut. Aber eigentlich ist das ein sehr naheliegendes Bild. Schwere Krankheiten und das Erlebnis von Heilung gehören zu den Ereignissen, die ein Leben grundlegend verändern. Menschen erzählen ihr Leben neu und anders, wenn sie auf der anderen Seite der Krankheit angekommen sind. Wenn Menschen dann zurückblicken auf die Angst, die Hoffnung, den Weg durch die Krankheit, dann kommen in solchen Erzählungen auch die Ärzte vor, die dabei geholfen haben.

Gott als Arzt ist ein wunderbar elementares Bild, weil man sich darunter etwas vorstellen kann. Gott als jemand, der ein verletztes, gebrochenes, krankes Leben heil macht, damit es weitergehen kann, damit Zukunft wieder möglich wird, ist vielleicht die gesündeste Weise, über Gott zu denken und zu reden.

Und offenbar sollen die Hebräer in der Wüste genau das lernen. Wer zurück will nach Ägypten, den beißen die Schlangen der Vergangenheit. Aber wer die Wüste annimmt und sich auf den Weg macht, erfährt Heilung, erlebt Gott als Arzt.

Und vielleicht ist das eine Lektion für heute, wo viele Menschen spüren, dass sie feststecken, dass es eher rückwärts- als vorwärtsgeht. Es ist eine Zeit, in der Menschen sich wegen unterschiedlicher Mentalität, Meinung, Herkunft und Bedürftigkeit nicht mehr riechen mögen; eine Zeit, in der sich Anfeindungen breitmachen, so wie das in der Wüste manchmal geschieht. Gerade dann aber braucht es Heiligung und nicht Gift, Geduld statt des Drangs zu verletzen. Das ist nicht einfach – weil es doch so viel leichter fällt zuzubeißen. Ein früherer Minister hat am Anfang der Corona-Zeit einen Satz gesagt, dessen Wahrheit er vermutlich selbst gar nicht absehen konnte: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Das gilt heute vielleicht noch mehr als während der Pandemie. Wir sind eine Gesellschaft, die Heilung, Verzeihung und manchmal einfach auch ein bisschen mehr Selbstlosigkeit und Demut braucht. Aber vermutlich haben wir alle Bilder von irgendeinem Ägypten im Kopf, wo wir viel lieber wären als da, wo wir nun einmal sind – hier und jetzt mit den Menschen, die wir uns nicht ausgesucht haben und die doch unsere Nächsten sind.

Die Passionszeit, liebe Gemeinde, in der wir uns gerade befinden, ist eine Einübung in die Geschichte von Heilung. Wir gehen auf Karfreitag zu und versuchen das Geheimnis des Glaubens zu verstehen, dass Gott am Kreuz die Welt heilt. Das Kreuz Christi ist beides – der Ort, an dem einer gebissen wurde vom Gift der Welt – von Verrat, Intrige, religiösem Wahn und imperialer Brutalität – Themen, die heute so aktuell sind wie damals. Aber genau daraus macht Gott etwas Heilvolles. Das Kreuz wird zu einem Äskulapstab, zum Ort, wo es das Gegengift gibt. Diese Verheißung gilt auch für unsere Zeit, und wenn wir auf Karfreitag zugehen, dann wachsen wir hinein in diese Verheißung, diese Hoffnung. Und dann verändert sich vielleicht etwas – in uns selbst, in der Weise, wie wir der Welt begegnen. Das Gegengift des Kreuzes löscht nicht alle Bakterienherde auf einmal aus. Es wirkt in einer Weise und Dosierung, die nur Gott, der Pharmazeut der Welt kennt. Und wie bei jedem Medikament braucht es vor allem eins: penetrante Geduld.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus. Amen.