Predigt über Titus 3,4-7

  • 25.12.2019 , 1. Christtag
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Liebe Gemeinde,

in Choral und Rezitativ von Sopran und Bass der ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums ist alles Entscheidende über Weihnachten gesagt. „Er ist auf Erden kommen arm, dass er unser sich erbarm, und in dem Himmel mache reich und seinen lieben Engeln gleich.“ Ja, das ist die große Verwandlung der Welt, die in der Heiligen Nacht beginnt: Arme werden reich, Dunkel wird hell, der mächtige Kaiser und Weltenherrscher wird zur Nebenfigur. Und die Menschen vom Rand rücken in die Mitte des Geschehens: eine schwangere junge Frau, ein verunsicherter kleiner Zimmermann. Die Hirten, die Typen, die man am liebsten außerhalb der Stadt gesehen hat - und bis heute sieht. Und der große Herr und starke König, der die Pracht und Zier der Welt erschaffen hat – als Kind in „harten Krippen“. Eine Gegengeschichte gegen alles, was Menschen für unveränderlich halten. Jedes Jahr wollen wir sie neu hören, nach Lukas oder nach Bach und am besten nach beiden. Und das wahrscheinlich weil wir merken: Wir brauchen es einfach, dass wir sie hören. Wir brauchen, was der Engel sagt: Ich verkündige Euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird. Sie wird es. Allem Volke. Auch uns. Das wollen wir doch glauben oder? Dass es möglich ist, dass alle Menschen in Frieden miteinander leben können. Und dass alle etwas davon spüren, dass sich ihr Leben ändern kann. Aber können wir es auch? Wir haben gehört, wie Bach das mehrfach singen und predigen lässt. Erst den Chor: „Lasset das Zagen, verbannet die Klagen“ und dann die Altistin: „Verlasse nun das Weinen.“ Bach hat das für die Menschen seiner Zeit geschrieben. Und letztlich auch für uns. Für jeden Menschen soll es zu Weihnachten Wirklichkeit werden: „Dein Wohl steigt hoch empor“. Denn das ist es, etwas salopp gesagt, was Gott sich für uns Menschen ausgedacht hat. Weihnachten ist der Moment im Jahr, das wieder einmal in seinem Herzen zu bewegen wie Maria – und sich dann wieder auf den Weg zu machen wie die Hirten.

Was sie in sich bewegt und äußerlich in Bewegung gesetzt hat, davon lesen wir kurz und knapp im Titusbrief, dem Predigttext für heute: „Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilandes, machte er uns selig.“ In zweierlei also liegen das Heil und der Weg zur Seligkeit. In der Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes. Und was kann näher liegen uns das so zu zeigen, dass es auch noch der Verstockteste und Unverständigste begreifen muss: in einem Kind. Denn vor dem fürchtet sich niemand, vor dem muss niemand Angst haben – das kommt uns entgegen, die wir so viel von unserem Tun und Lassen von unserer Angst bestimmen lassen und sie gern vorschieben als Begründung, warum wir so sind, wie wir sind. Aber das Kind weckt unsere Lebensfreude, unsere Hilfsbereitschaft und unser Verlangen, das Schwache zu schützen – und zwar so, dass man alles andere um sich herum vergisst. Nichts zieht die Aufmerksamkeit so sehr auf sich, wie ein Neugeborenes. Wo man genau hinschaut und sieht: den Menschen und was er braucht.

Ja, mit Hinschauen hat es zu tun in diese Geschichte, die davon erzählt: Zunächst einmal sind nicht wir gerufen, das Elend in der Krippe abzuschaffen. Die Hilfsbedürftigen sind wir! Nicht als geistvoller Übermensch ist Gott zu uns gekommen, sondern als ein unter unmenschlichen Umständen geborenes Kind. Nicht irgendein Übermenschentum erlöst uns, sondern diese merkwürdige Menschenfreundlichkeit Gottes. Und wenn es dann, wenn wir das begriffen haben, um einen Appell an unser Gewissen geht, dann ist es dieser (bei aller Gefahr, gefühlsduselig zu werden): Besinnt Euch genau auf die Kräfte, die ein Neugeborenes in Euch auslöst. Kräfte, die dem Leben dienen. Kräfte, die die Zukunft nicht fürchten, sondern sie zu gestalten helfen. Und bereit zu sein, auch die fehlschlagenden Versuche auf dem Weg zum Erwachsen zu begleiten. Lebt und lebt vor, was Euch heilig ist. Wenn wir uns vorstellen, das wären die Kräfte, die diese Welt regieren und unser Miteinander bestimmen würden - die Welt sähe anders aus.

Aber wie ist es darum bestellt, für wie tragfähig halten wir das denn wirklich als Modell für unser Miteinander? Es scheint uns zu naiv zu sein, zu wenig von dieser Welt – und zugleich wünschen wir uns zu Weihnachten zutiefst: Ach, könnten wir doch so leben. „Eia, wärn wir da.“ Vielleicht tun das im Grunde ihres Herzens sogar diejenigen, die so unzufrieden sind, so unausgeglichen, so aggressiv und voller Hass. Die verbal und wie wir wissen bleibt es oft nicht dabei, um sich schlagen und alles zu verachten beginnen, was ihnen ihre freie Meinung ermöglicht: Parlamentarismus, Demokratie, zivilgesellschaftliches Engagement und Ehrenamt. Oder das, was sie „Gutmenschentum“ nennen. Die auf jeglichen Anstand pfeifen und für die Toleranz ein Schimpfwort ist. Die ihre Lust haben an den Trumps, den Johnsons, oder gar den Putins, Erdogans und so weiter. Alle, die in ihrem Auftreten und in ihrer Wortwahl die absoluten Gegenentwürfe sind zu dem, wofür dieses Kind in der Krippe steht mit seiner zerbrechlichen Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes. Bei vielen steht anderes hoch im Kurs. Weltweit. Und viele macht das ratlos, hilflos, sie ziehen sich zurück - oder geben gar nach. Vielleicht fehlt uns irgendwie im Moment genau das, was den Hirten geschehen ist: Dass sie konfrontiert worden sind mit der Klarheit des Herrn, die sie zunächst erschrecken lässt. Aufschrecken, so dass sie erkennen: Sie sind am falschen Ort, sie haben auf die falschen Kräfte gesetzt. Wo sie sind, herrschen Kälte und Dunkelheit. In der Klarheit des Herrn kommen sie zur Vernunft, sie richten sich neu aus. Sie finden die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes in diesem Kind. Ein Weihnachtsschrecken der ganz etwas anderes bewirkt als den aufgeschreckten Aktionismus, zu dem wir ja gern neigen und der uns gern dazu führt, den anderen eben nicht zu tolerieren oder sich sofort schuldig zu fühlen, Stichwort: Flugscham.. Die Klarheit des Herrn, die uns zu Freundlichkeit und Menschenliebe führt als Grundwerte einer Gesellschaft - das wäre schön, wenn sie uns aufginge, am besten gemeinsam wie bei den Hirten.

Ja, wäre es, vielleicht. Aber ihr Abglanz, der ist seit Weihnachten in der Welt. Der ist hier zu sehen in der Krippe. Der ist zu sehen und zu finden. Und er will hinein in alle menschlichen Beziehungen, in alle Freundschaften, aber auch in alle Feindschaften und vielleicht am meisten in die Verstrickungen, in denen wir so leben. Da sollen wir ihn finden. Die Sehnsucht danach bringt der Schlusschoral der 1. Kantate auf den Punkt: „Ach, mein herzliebes Jesulein, mach dir ein rein sanft Bettelein, zu ruhn in meines Herzens Schrein, dass ich nimmer vergesse dein.“

Auch das gehört zum weihnachtlichen Bewegungsprogramm. Wie Maria diese Worte im Herzen zu behalten. Und sie als Basis für alle gedanklichen Herausforderungen zu bewahren, die anstehen, wenn wir zu überlegen haben:

Wie leben wir Freundlichkeit und Menschenliebe am Ende des Jahres 2019? Und wie können wir sie denn stärken, diese Kräfte, zu denen uns ein kleines Kind eben bewegt? Die Kräfte, die dem Leben dienen und uns bereit machen, auch zu begleiten was wächst und sich durch Fehler nicht vom Ziel abbringen zu lassen, etwas vorzuleben und die Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens zu vermitteln. Diese Kräfte werden wir stärken müssen – und bei den Kleinsten anfangen, kontinuierlich. Bildung für Kopf und Herz, für Leib, Seele und Geist, die Menschen in die Lage versetzt, sich sprachlich und gedanklich einigermaßen sicher in einer Welt wie der unseren zu bewegen. Die in dem Ganzen nicht ständig den Faden ihres Lebens verlieren, die zu stabilen Beziehungen und zur Ausbildung einer eigenen Identität fähig sind – umfassend: politisch, gesellschaftlich, religiös und was man noch dazuzählen möchte. Und die lernen, wie man sich vor allem friedlich und ohne Gewalt zu Positionen verhält, die man für sich selbst ablehnen mag – aber wo man doch in dem, der sie vertritt, noch den Menschen sehen kann, dessen Leben von Gottes Freundlichkeit und Menschenliebe genauso angesehen ist wie ich.

Pflegen wir das genug? Was meinen wir denn, wenn wir von „unsere Kultur“ sprechen und „unseren“ Werten? Sind sie nicht genau das, was sich hinter dem durch ein Kind ausgelöste und mitgebrachte Freundlichkeit und Menschenliebe verbirgt? Nochmal: dem Leben dienen, das Wachsen von Menschen begleiten und mit ihnen auch Fehler und Versäumnisse durchzustehen und was einem wichtig und heilig ist, so vorleben, dass es für andere glaubwürdig ist? Die Ehrfurcht vor dem Leben und zwar vor jedem, denn Weihnachten geht um das Heil der Welt und nicht um das der Christen. Alle Welt kommt zur Krippe, alle Erdteile und Kontinente, und alle haben die Möglichkeit, im Angesicht der Freundlichkeit und Menschliebe Gottes zu erkennen, was sie eint. Vor einigen Jahren habe ich von Professor Michael Fuchs etwas Wichtiges gelernt, dem Stimmarzt des Thomanerchors: Alle Babies dieser Welt, egal, wo sie geboren werden, schreien auf dem gleichen Ton. Der erste Schrei, das erste Lebenszeichen, ist bei uns allen gleich: Es ist der Kammerton a. Es gibt also einen gemeinsamen menschlichen Grundton, der sich vor all unserer Verschiedenheit hören lässt. Das ist doch mal etwas, was einen nachdenken lassen kann.

So bleibt am Ende noch einmal die Frage: Trauen wir denn diesen beiden Größen, der Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes und dem, was sie in uns frei setzen können an guten Kräften, die das Heil dieser Welt interessiert bzw. dass ihm wohlgefällt? Trauen wir ihnen, vertrauen wir uns ihnen an? Glauben wir daran, dass uns das im Himmel reiche mache und den Engeln gleich – und in Ansätzen schon hier und jetzt auf der Erde? Lassen wir uns von Weihnachten verändern und erneuern? Lukas, Timotheus und Bach, wenn ich sie mal in eine Reihe stellen darf, sie haben daran geglaubt, dass es möglich ist. Deshalb lesen und hören wir sie heute noch. Und glauben ihnen. Die Klarheit des Herrn ist in dieser Welt. „Sein Strahl bricht schon hervor. Auf, Zion, und verlasse nun das Weinen, dein Wohl steigt hoch empor.“

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org