Predigt über Psalm 126 am Ewigkeitssonntag

  • 24.11.2024 , Ewigkeitssonntag
  • Pfarrer i.R. Christian Wolff

PDF zur Predigt HIER

Johann Bach (1604-1673)
Unser Leben ist ein Schatten
Motette für sechsstimmigen Chor, dreistimmigen Fernchor und Basso continuo
aus dem „Altbachischen Archiv“

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847)
Mitten wir im Leben sind
für achtstimmigen Chor, op. 23/3

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Dass wir sterben müssen - es ist die natürlichste Sache der Welt und gleichzeitig die größte Katastrophe. Dass am Ende des Lebens der Tod steht - es ist eine Banalität, und gleichzeitig führt uns die Wirklichkeit des Sterbens an die Grenzen dessen, was wir zu ertragen vermögen. Es ist diese widersprüchliche Erfahrung mit der Vergänglichkeit des Lebens, die viele Menschen den Tod verdrängen lässt: Mit dem, was sowieso kommt, meinen wir uns nicht auseinandersetzen zu müssen. Und das, was unsere Existenz bedroht, drücken wir, so lange es irgend geht, weg – zumal uns die Gedanken, von denen in der Bach- und Mendelssohn-Motette gesungen wird, fremd und unzeitgemäß erscheinen:
•    dass unser Leben im Angesicht des Todes nur ein „Schatten“ sein soll;
•    dass alles, was wir bewirken, sich am Ende als „flüchtig“ und „nichtig“ erweist;
•    dass wir davor bangen sollen, von Gott zur Rechenschaft gezogen zu werden für das, was wir im Leben versäumt und gefehlt haben.

Doch wenn dann der Tod in unseren Alltag einbricht, plötzlich und ungefragt und vor der Zeit, mit der wir rechnen, dann wandelt sich das Verdrängte in tiefe Verzweiflung und bohrende Fragen brechen auf: Warum? Warum habe ich nicht doch noch die Nacht im Krankenhaus verbracht, damit meine Mutter nicht alleine stirbt? Warum haben wir nicht doch noch ein versöhnliches Gespräch geführt? Was sind wie einander schuldig geblieben? Ja, mit dem Sterben eines Menschen geht für die, die mit dem Verstorbenen das Leben geteilt haben, nicht nur eine Welt unter; das eigene Leben ist tief erschüttert. Das macht die Trauer aus. Das spüren die unter uns, die im vergangenen Jahr den Mann oder die Frau, den Vater oder die Mutter, den Sohn oder die Tochter, den Enkel oder die Großeltern verloren haben oder in diesen Stunden um das Leben eines nahen Menschen bangen. 

Doch wie gehen wir um mit den Gefühlen und Gemütslagen, die uns den Alltag plötzlich so fremd, so dunkel erscheinen lassen? Wie können wir trauern in einer Gesellschaft, die uns dafür kaum Zeit lässt? Wer bleibt noch stehen, wenn sich auf dem Friedhof der eigene Weg mit einem Trauerzug kreuzt? Wem kommt noch mehr als ein verlegen dahin genuscheltes „Beileid“ über die Lippen, wenn wir Trauernden nicht ausweichen können? Wie und wo finden wir Raum und Zeit, um mit all dem, was uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen droht, einigermaßen klar zu kommen?

Als im Februar 2020 meine Frau nach einer schweren ALS-Erkrankung starb, da verspürte ich in mir den Wunsch: die Welt möge wenigstens für einen Moment stehen bleiben. Denn das ist ja besonders schmerzlich für die, die um einen Menschen trauern: Sie sehnen sich nach Innehalten, nach Stillstand – doch um sie herum geht alles weiter, als wäre nichts geschehen. 2020 brachte aber - wenige Tage nachdem wir hier in der Kirche von meiner Frau Abschied genommen hatten - das Corona-Virus das gesamte gesellschaftliche und kirchliche Leben zum Erliegen. Was Millionen Menschen als dramatischen, beängstigenden Einschnitt und Einschränkung ihrer Grundrechte erlebten, empfand ich damals zunächst als wohltuend: kollektiver Stillstand, zur Ruhe kommen können – wohlwissend, dass dies eine sehr subjektive, durchaus auch egoistische Sehnsucht war (Trauer und Egoismus haben leider viel miteinander zu tun.)

Aber: Haben wir damals das Virus und seine Folgen als STOP-Schild, als Unterbrechung, als Aufruf zum Innehalten verstanden und in diesem Sinn auch als eine Botschaft Gottes, als eine tiefe Krise, als einen Kipppunkt, der nach Umkehr schreit, angenommen? Oder haben wir in dem Moment, da uns mit dem Virus die Verletzbarkeit und Endlichkeit des Lebens deutlich vor Augen geführt wurden, nicht alles getan, die Vergänglichkeit und das Sterben zu verdrängen, möglichst auszuklammern – damals auch um den Preis, dass die Sterbenden in den Alten- und Pflegeheimen sich selbst überlassen wurden, und Trauer erst gar nicht aufkam? Der kürzlich verstorbene, ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mahnte schon im April 2020:
Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.

Ja, offensichtlich tun wir uns doch schwer damit zu akzeptieren, dass wir Menschen sterben müssen, dass wir keinen Anspruch auf ein langes, unversehrtes Leben haben, dass Mensch und Natur von Krankheiten zersetzt werden und der Vergänglichkeit unterworfen sind. Dabei müssten und könnten wir gerade als Christen ganz anders auf die Zeichen der Begrenztheit des Lebens reagieren: Wir können und sollen jeden Tag dankbar dafür sein, dass wir noch leben, dass wir weiter in der Verantwortung stehen, das Leben in der Spanne zwischen Geburt und Tod verantwortlich zu gestalten – immer eingedenk der Tatsache, dass unser Leben nur ein Schatten ist. Um zu einer solchen Erkenntnis zu gelangen, benötigen wir aber Unterbrechungen des Alltags – Unterbrechungen, die uns aufmerksam machen für die Botschaften Gottes; Unterbrechungen, um die durchaus schmerzliche Einsicht in die Vergänglichkeit des Lebens, die Trauer um einen lieben Menschen und um viele verpasste Gelegenheiten im Leben als Ausgangspunkt für die Erneuerung unseres Daseins zu begreifen.

Natürlich wünscht sich niemand, dass solche Unterbrechungen durch die Dramatik eines tödlichen Virus oder durch das Sterben eines nahen Menschen ausgelöst werden. Aber ist uns eigentlich bewusst, dass uns mit jedem Sonn- und Feiertag das Angebot einer Unterbrechung, eines Innehaltens gemacht wird? Ja, gerade am letzten Sonntag des Kirchenjahres können wir an das denken, was war und kommen wird. An ihm können wir uns – wie an jedem Sonntag - den Texten der Bibel zuwenden, der Guten Nachricht von Jesus Christus, um auf andere, heilsame Gedanken zu kommen und neue Aufmerksamkeit zu erlangen. In diesen Texten werden das Ende, die Katastrophe, der Tod und der neue Anfang reflektiert – aber immer in der Richtung vom Ende zum Anfang, von der Nacht zum Tag, vom Tod zum Leben, von der Sünde zur Gnade. Sie beschreiben Niederlagen und verheißen neue Aufbrüche. Sie lassen der Trauer, Wut, Enttäuschung freien Lauf, aber wandeln dies alles durch Gottes Gnade in Hoffnung. So auch der Predigttext für den heutigen Sonntag, der 126. Psalm – ein Gebet, das an dramatische Zeiten erinnert:
Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens
und unsre Zunge voll Rühmens sein.
Dann wird man sagen unter den Heiden:
Der Herr hat Großes an ihnen getan!
Der Herr hat Großes an uns getan;
des sind wir fröhlich.
Herr, bringe zurück unsre Gefangenen,
wie du die Bäche wiederbringst im Südland.
Die mit Tränen säen,
werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen
und streuen ihren Samen
und kommen mit Freuden
und bringen ihre Garben.
Psalm 126

Das ist schon erstaunlich: Der Beter dieses Psalms setzt nicht ein mit dem, was war. Er stimmt kein Lamento darüber an, was er und all die Menschen, die er im Blick hat, alles erlitten, aber auch schuldhaft zu verantworten haben. Er beginnt mit dem, was durch Gottes Wirken kommen wird: eine neue Unbeschwertheit im Leben. Nicht die Gefangenschaft, das Exil, die Vertreibung des Volkes Israel nach Babylonien vor 2.500 Jahren stehen im Mittelpunkt, sondern die Erlösung, der befreiende Traum, das neue Morgen, das Gott uns Menschen ermöglicht. Nicht die zerplatzten Träume:
•    wir hatten noch so viel vor, wollten Reisen machen, freuten uns an unseren Enkeln – und jetzt das schnelle Sterben. Warum?
•    Israelis und Palästinenser sind doch Menschen wie du und ich, können wie in dem wunderbaren, von Daniel Barenboim gegründeten West-Eastern-Divan-Orchestra zusammen musizieren, leben, sich streiten und gegenseitig helfen – doch nun der erbitterte Krieg, das Töten und Morden im Nahen Osten an allen Fronten. Warum?
•    die Welt braucht endlich Gerechtigkeit, Frieden, eine die Schöpfung bewahrende Politik – und jetzt Donald Trump. Warum?
Nicht diese zerplatzten Träume, nicht das, was Anlass zum Klagen und Verzagen gibt, nicht das Gefangensein im Heute bestimmen das Gebet. Es ist vielmehr die freudige Hoffnung, dass Gott uns Befreiung ermöglicht und Auferstehung verheißt.

Doch auch wenn der Beter sich nicht lange bei dem aufhält, was bei uns Menschen Trauer, Erschütterung, Lähmung auslöst – er verdrängt dies nicht. Er stellt sich den Tränen der Trauernden, der Verzweiflung der Gefangenen, der Niedergeschlagenheit der Benachteiligten, der Bitterkeit der Abgedrängten. Ihre Gefühlslage, herausgefallen zu sein aus dieser Welt, nichts mehr zu gelten, ist für den Beter Wirklichkeit – aber gleichzeitig auch die Folie, auf der das Große, der Trost, die Hoffnung sichtbar werden sollen, welche Gott uns nicht zuletzt durch Jesus Christus zukommen lässt. Damit bringt der Beter deutlich zum Ausdruck: In all dem, was uns die Tränen in die Augen treibt, liegt der Keim des Guten. An dieser Stelle kann ich nur an den wunderbaren Ausruf von Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) aus seiner Gefängniszelle in Berlin-Tegel 1944 erinnern: 
Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.
Ja, Gott hat aus dem Bösesten des Faschismus, aus zerbombten Städten und dem Grauen der Vernichtungslager dennoch Gutes entstehen lassen – sonst säßen wir nicht hier. Wodurch? Durch Menschen wie Dietrich Bonhoeffer, die sich gegen die triste Wirklichkeit, gegen die Banalität des Bösen, alle Dinge zum Besten dienen lassen. Unser Glaube lehrt uns: Tränen werden dann nicht umsonst vergossen, wenn wir die Träume, die Hoffnung nicht aufgeben, wenn wir das Sterben eines nahen Menschen nicht als Todesurteil über das eigene Leben verstehen, wenn wir das Weinen der Trauernden verstehen als Ausstreuen des Samens für neue Lebensfreude.

So will der Psalmbeter unsere Perspektive verändern. Das Besondere in unserem Leben ist nicht, dass wir sterben müssen, dass wir krank werden, dass wir versagen, schuldig werden, uns persönlich verfehlen, dass Kriege geführt, Lebensquellen durch Katastrophen zerstört werden – dass also unser Leben bloß ein Schatten ist, flüchtig und nichtig. Das Besondere, das Außergewöhnliche, das Große ist: dass wir heute noch leben, gesund und bei Sinnen sind, und der Vergebung teilhaftig werden können. Damit können wir das Große verspüren, das Gott an uns getan hat: seine Gnade, lebendig geworden in Jesus Christus und seit seiner Auferstehung von den Toten nicht mehr auszulöschen. Das können wir feiern – auch wenn wir trauern.

Es ist ein großer Segen, dass wir als Christen, als Menschen, die Gott mehr vertrauen als allem, was uns diese Welt an Begehrlichkeiten und Schrecken zu bieten hat, eine sehr bewusste Haltung der Hoffnung und Zuversicht einnehmen können. Damit lässt sich eine Schneise schlagen durch das Dickicht von Verdrängen und Verzweiflung, von Trauer und Benebelung, von Verdruss und Allotria. Und wir können zurückkehren zu der erfrischend nüchternen Sicht der Bibel auf Leben und Sterben: das Leben aus Gottes Hand dankbar empfangen, dieses in den engen Grenzen der Vergänglichkeit verantwortlich gestalten bis wir sterben und auf Gottes neue Welt hoffen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Christian Wolff, Pfarrer i.R.
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