Predigt über Philipper 3,7-14

  • 18.08.2019 , 9. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

haben Sie schon mal etwas in Ihrem Leben als „Dreck“ erachtet? Was so richtiger Mist war? Vielleicht haben Sie diese Stelle von eben noch im Ohr aus dem Philipperbrief - wo Paulus sein früheres Leben als Schaden bzw. „Dreck“ bezeichnet. „Skybala“. Ein ordentlicher griechischer Kraftausdruck. Wobei das besser klingt als das deutsche Pendant mit S. Also Dreck, den man wirklich nur noch weg machen kann. Also: War da mal was bei Ihnen? Wenn ja - vielleicht können Sie wie ich inzwischen über das eine oder andere lachen. Aber bei manchen Sachen kriegt man schon beim Erinnern einen roten Kopf. Vor Scham oder Peinlichkeit. Wo man lieber nicht dran erinnert werden will, weil das wirklich dämlich war.  Und manches wurmt uns ein Leben lang.

Gucken wir uns mal an, was Paulus wurmt bzw. was er hinter sich gelassen hat. In seinem Brief an die Gemeinde von Philippi wird er da sehr persönlich, weil offenbar Leute in dieser Gemeinde unterwegs sind, die ihn unangenehm an das erinnern, was er selbst mal „verzapft“ hat. Und es klingt im wahrsten Sinne des Wortes wie eine Gesamtabrechnung, er benutzt jedenfalls lauter Vokabeln aus dem Geschäftsleben:

Was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. 8 Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, auf dass ich Christus gewinne 9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott kommt durch den Glauben. 10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden, 11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.12 Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.13 Meine Brüder und Schwestern, ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich's ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, 14 und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus. 

So persönlich und emotional wie sich das anhört, liegt die Frage nahe: Redet er da eigentlich nur von sich? Dass er einfach erkannt hat, dass er in Sachen Religion mal auf dem falschen Dampfer unterwegs war? Und ist das nicht das typische Verhalten eines bekehrten 150%igen: Das vorher war nun alles Dreck? Das ganze Leben, ist das nicht ein bisschen heftig – und damit auch weit weg von allen normalen durchschnittlichen Lebensgeschichten wie den unseren? Nun wenn man genau hinschaut, geht es ihm um etwas Spezielleres. Es zwei verschiedene Zugangsweisen zum Leben, die er da kaufmännisch beschreibt. Das, was für ihn Gewinn war oder zu sein schien, war um Christi Willen Schaden. Er erklärt den Philippern, was er verstanden hat. Ihn hat wie ein Blitz vom Himmel die Erkenntnis getroffen: Meine Bildung rückt mich nicht näher an Gott heran. Einfach nur Gesetze zu befolgen, richtig und falsch unterscheiden zu können allein auch nicht. Und genauso wenig, die ganze Welt in richtig und falsch einzuteilen. Und zu meinen: Wenn ich alles richtig mache, dann ist es auch richtig. Und hier ist wahrscheinlich schon der Punkt, wo wir Paulus nahe kommen, wenn wir unser Leben im Rückblick anschauen. Diese ganzen Einzelheiten. Auch all die ganzen meist ja doch irgendwie langweiligen Richtigkeiten. Denn auch was unsere persönlichen Erfolge betrifft, wenn ich sage: He, diese Zeit habe ich aber in guter Erinnerung und da habe ich viel gelernt – auch wenn ich dankbar bin für alles, was mich da getragen und gehalten hat – es ist eben nichts mehr, was ich direkt erfahre, sondern es ist vergangene Erfahrung. Was ich mir früher mal gewünscht habe oder was ich erreichen wollte in meinem Beruf oder meiner Partnerschaft und Familie und wie ich das lebe – manches von dem, was mich da getragen hat, das verstehe ich im Rückblick kaum noch wirklich, suche nach meinem emotionalen Zugang dazu. Und schlage mir halt manchmal an den Kopf: wie konnte ich nur. Nun, andererseits macht einen das ja auch gelassen und auf gesunde Weise misstrauisch gegenüber meinen jetzigen Wünschen. Oder eben: weiteren, zusätzlichen Lebensfragmenten. Auch das, was ich im August 2019 mal so gedacht habe, werde ich ja irgendwann einmal hoffentlich reflektieren und meine Schlüsse daraus ziehen. Aber was dann wie eben schon jetzt gilt: Alle unsere früheren Erfahrungen hinterlassen eben auch immer eine Art Leere. Dass man das Gefühl hat: Ich bin mir in manchem auch echt selbst fremd geworden.

Paulus nennt diesen Versuch, mir mein Leben aus solchen Bruchstücken selbst zusammenzubauen und zu meinen, daraus gewönne es seine Tragfähigkeit: Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt. Und er sagt, Leute, was für ein Irrtum, ihr versucht immer wieder, diese Lebens-Versuche zu sortieren. Zum Guten manchmal. Aber es ist auch wieder so, dass uns das aus den Händen rinnt und wir den Eindruck haben (und manche lässt das schier verzweifeln): Na ja, ein Ganzes ist das nicht. Wenn ich ehrlich bin, kein großer Wurf. Und damit mache ich mich nicht klein, sondern ich bin schlicht und ergreifend ehrlich zu mir. Meine verzweifelt-vergeblichen Versuche, aus den selbstgefertigten Teilen ein Ganzes zu bilden – da kann ich eigentlich noch nicht mal vor mir selbst bestehen und meinen Ansprüchen. Was Paulus den Philippern und auch uns aus eigener Erfahrung hier anbietet – das ist ein anderer Lebenszugang. Nämlich: Zugang zu unserem Leben zu finden durch ein Wagnis: Uns selbst zu finden in der Teilhabe an einem fremden Geschick. Ich verstehe das als Angebot an die Philipper und an uns, dass wir darüber nachdenken: uns zu verstehen als Menschen, der in das Geschick Jesu hineingenommen ist. In sein Leben. In seinen Tod. Und in die Art und Weise, wie er den Tod als letzte Macht über unser Leben überwunden hat. Wie er ihm diese letzte  Macht abgesprochen hat – und das dass unser Ziel ist. Einst in Ewigkeit – aber auch weitgehend schon hier: durch unseren Glauben. Paulus fühlt sich mit Jesus bis ins Körperliche hinein verbunden: In sein Leiden, sein Sterben, in sein Auferstehen – oder eben in seinen Sieg über alle Todesmächte, die es auf dieser Welt so gibt und die sich immer wieder in neuem Gewand als die alten zeigen. Das kann man aber nicht als Formel aufsagen – geschweige denn nachbeten. Sondern nur verstehen, empfinden, entdecken. Das können wir nicht machen. Das ist vielleicht das Schwierige für uns mit unserer „Machermentalität“ des 21. Jahrhunderts: Man kann sich davon nur ergreifen lassen. So wie Paulus, dass man entdeckt: Mein Leben, all diese Fragmente, all diese früheren Erfahrungen, all meine eigenen Lebensbruchstücke sind im Leben, im Sterben und im neuen Leben Jesu aufgenommen. Er hält all das letztlich zusammen. Durch alle Vergeblichkeit, Leiden und Tod hindurch rettet er mein Leben, ich benutze mal die gute alte kirchliche Sprache -  in seine Auferstehung hinein.  

Schauen wir dennoch mal zurück: Da sind die vergangenen und gegenwärtigen Wichtigkeiten meines Lebens. Und da ist die Leere, die sie mit der Zeit hinterlassen. Leere. Wir werden wohl nicht unbedingt als „Dreck“ davon sprechen. Aber wir werden  davon auch nicht unbedingt in jedem Fall reden als meinten wir Gold, das stetig weiter glänzt. Mit Paulus können wir vielleicht ebenso rückblickend sagen: Wie gut, dass mein Leben trotz all dieser ganzen Misterfahrungen und trotz allem, was mich vielleicht unendlich überheblich gemacht hätte – oder hat – dass es trotz all dem noch nicht auseinandergebrochen oder in sich zusammengestürzt ist! Noch ahnen wir vielleicht mehr als dass wir wissen: Mich trägt das Leben und Sterben eines anderen. Er hat mich ergriffen bevor ich auf die Idee gekommen bin, ihn zu begreifen. Es ist schon längst passiert – ich sag’s jetzt mal. Er hält mein ganzes Leben zusammen, mein ganzes Zeug, auch das, was mich mir selbst so widersprüchlich und unklar macht. Er hat mich ergriffen – genau darin. Und nicht ich ihn, jedenfalls nicht in dieser Reihenfolge. Er mich – und dann ich ihn. Und wenn ich das irgendwie und irgendwo in meinem Hirn oder Herzen verstanden haben, dann wird mir klar: Ich kann sie alle hinter mir lassen. All diese Sch… erfahrungen, die ich gemacht habe oder die ich selbst angezettelt habe.  Ich kann sie hinter mir lassen - all meine verzweifelten Versuche, aus mir etwas zu machen. Ich bin schon längst hineingenommen, ich bin  hineingetaucht in ihn, wie es uns bei der Taufe von Carl und Louis vorhin vor Augen geführt worden ist. Hier empfangen wir mehr als nur unseren Namen, mehr als unsere Herkunft, mehr als nur unseren Ruf. Wir empfangen vielmehr ein Erbe – viel mehr als ein Gewinn, von dem Paulus hier spricht. Und das ist ein Gewinn nicht nur für mich und andere Christen, es ist ein Gewinn für die Menschheit. Das gilt allen und aus Sicht von Christen auch für all die, die das selbst vielleicht nicht glauben. Aber das ist völlig egal - denn mit diesen Augen sind sie nach Paulus zu betrachten. In unserer Beziehung zu Gott geht es nicht um unsere Selbstbespiegelung sondern um das, was seit Christus in dieser Welt ist und von Gott her gilt. Schon von daher liegen alle nationalistisch-völkischen Bewegungen dieser Welt mit ihrem allenfalls, wenn überhaupt, gesetzlichen Zugang zum Glauben in kolossalem Widerspruch zum Christentum: Indem sie aus einer Gesinnung, aus ihrem Deutsch-, Englisch- Italienisch oder Amerikanisch-Sein  - aus diesem einen Fragment unserer Herkunft alles machen. Sie rufen dazu auf, sich diesem nationalistisch-ideologischen Stückwerk zu fügen und daraus allein seinen Wert zu begreifen. Absolut unchristlicher Ansatz – nimmt man diesen Paulustext ernst!

Dieses Stückwerk muss für mich in seinem Anspruch auf mich sterben, damit ich zu dem durchdringen kann, was mich im Leben trägt. So hat es jedenfalls Paulus erfahren. Es wird davon berichtet, er wäre bei seiner Bekehrung drei Tage blind und orientierungslos gewesen. Angewiesen auf die Hilfe und das Wohlwollen anderer. Wie immer in der Bibel: Die Zahl drei ist das Symbol dafür, dass etwas qulitativ etwas völlig Neues beginnt. Drei Tage war Jona im Maul des Fisches, drei Tage Jesus im Grab, drei Tage Paulus hilflos und blind. Und dann konnte etwas Neues beginnen - nicht ohne den letzten Schritt des Alten zu durchleiden.

Das man da auch stecken bleiben kann auf traurige Art, daran erinnert uns das heutige Datum, der 18. August. Es ist der 43. Jahrestag der Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz aus Zeitz. Ich weiß, es ist bis heute in seinen ehemaligen Gemeinden ein heikles und umstrittenes Thema, wie es dazu kam und was Oskar Brüsewitz als Menschen bewegt hat. Und ob es nun ausschließlich sein Protest gegen das repressive Bildungssystem der DDR und dass in der DDR die freie Ausübung des Glaubens nicht möglich gewesen sei, sei dahingestellt. Aber wen wir seinen Abschiedsbrief an seine Kollegen lesen, dann begegnet uns in aller Verzweiflung und auch Zuversicht etwas schon etwas von Paulus. Ohne es zu diskutieren, ist es heute aber sicher Anlass, sich daran zu erinnern. Oskar Brüsewitz schreibt an seine Mitschwestern und –brüder:
„Es ist mir sehr schmerzlich, Euch allen die Schande zuzumuten. Ich habe mich zu dieser Tat langsam durchgerungen. Nach meinem Leben habe ich es nicht verdient, zu den Auserwählten zu gehören. Meine Vergangenheit ist des Ruhmes nicht wert. Um so mehr freue ich mich, dass mein Herr u. König mich zu den geliebten Zeugen berufen hat. Obwohl der scheinbare tiefe Friede, der auch in die Christenheit 
eingedrungen ist -zukunftversprechend ist, tobt zwischen Licht und
Finsternis ein mächtiger Krieg, Wahrheit und Lüge stehen nebeneinander. Ich grüße Euch alle sehr. Ich liebte Euch, auch Bruder Hildebrand. - Euer Oskar
In wenigen Stunden will icherfahren, soll ich erfahren, dass mein Erlöser lebt“ 

Offenbar war er ein Mensch, der keine Ruhe finden konnte. Und der nicht nur zur Unruhe berufen war. Der Dreck der Vergangenheit, das Gefühl, versagt zu haben, schuldig geworden zu sein und darunter gelitten zu haben. All das mag auch zu seiner Entscheidung beigetragen haben. Wie gesagt, es gibt genug Diskussionen darüber, an denen ich mich weder beteiligen kann noch möchte. Jedenfalls kann diese von Paulus beschworene Unruhe  Menschen auch in diese Richtung treiben, das ist alles nicht ganz ohne. Wenn Paulus jedenfalls von „Nachjagen“ dessen spricht, was uns verheißen ist, dann meint er m.E. etwas anderes. Etwas, was ich bei einem der größten Theologen des 20. Jahrhunderts gefunden habe, bei dem vor 50 Jahren verstorbenen Karl Barth. Er hat Paulus Gedanken mit diesen heute nach wie vor frischen wie aktuellen Worten beschrieben: „Die Christenheit begrüßt und liebt schon, was vor ihr liegt. Sie ist noch hier und doch nicht mehr hier, noch nicht dort und schon dort. Sie hat eine weite Wanderschaft vor sich – auch Kämpfe, auch Leiden, auch Hunger und Durst. Nicht zu verkennen, sie seufzt. Aber noch weniger zu verkennen: sie freut sich. Dem entsprechend denkt, redet, handelt sie.“ 

Wie Recht Karl Barth hat! Und so schließt auch das letzte Kapitel des Philipperbriefs eben damit: „Freut euch in dem Herrn allewege, abermals sage ich euch freut euch…“ Das schenke uns Gott, dass wir das können - uns freuen. Und dass es allem vorangehe, was wir mit unseren Kräften bewegen. Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Gewalt, der bewahre uns in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org