Predigt über Philipper 3,5-14

  • 17.08.2025 , 9. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrer i.R. Christian Wolff

Lesung

5 Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin ein Angehöriger des Volkes Israel, aus dem Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern - was das Gesetz angeht: ein Pharisäer, 6 was den Eifer angeht: ein Verfolger der Gemeinde, was die Gerechtigkeit angeht, die im Gesetz gilt: einer ohne Fehl und Tadel.

7 Aber alles, was mir Gewinn war, habe ich dann um Christi willen als Verlust betrachtet. 8 Ja, in der Tat, ich halte das alles für wertlos im Vergleich mit der überragenden Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen mir alles wertlos wurde, und ich betrachte es als Dreck, wenn ich nur Christus gewinne 9 und in ihm meine Heimat finde. Ich habe nicht meine eigene Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern jene Gerechtigkeit durch den Glauben an Christus, die aus Gott kommt aufgrund des Glaubens. 10 Ihn will ich kennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Teilhabe an seinen Leiden, wenn ich gleichgestaltet werde seinem Tod, 11 in der Hoffnung, zur Auferstehung von den Toten zu gelangen.

12 Nicht, dass ich es schon erlangt hätte oder schon vollkommen wäre! Ich jage ihm aber nach, und vielleicht ergreife ich es, da auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin. 13 Liebe Brüder und Schwestern, ich bilde mir nicht ein, dass ich selbst es ergriffen hätte, eins aber tue ich: Was zurückliegt, vergesse ich und strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt. 14 Ich richte meinen Lauf auf das Ziel aus, um den Siegespreis zu erringen, der unserer himmlischen Berufung durch Gott in Christus Jesus verheißen ist.

Philipper 3,5-14 – Übersetzung: Zürcher Bibel

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Wo soll es in Zukunft langgehen – in unserem persönlichen Leben, in unserer Kirchgemeinde, in der Stadt, in Deutschland, in Europa? Ich kann mir vorstellen, dass etliche unter uns während des Urlaubs, angesichts der geballten Problemlage in unserer Gesellschaft, am Beginn des neuen Schuljahres und nach der bizarren Realsatire in Anchorage sich diese und ähnliche Fragen gestellt haben und stellen: Was ist mein Ziel in dieser verrückten Welt? Was will ich in und mit meinem Leben erreichen? Wovon lasse ich mich leiten?

Diese Fragen stehen auch hinter dem Predigttext, den wir als Epistellesung gehört haben – ein Abschnitt aus dem Brief, den der Apostel Paulus ungefähr ein halbes Jahrhundert nach Christi Geburt geschrieben hat, ein ziemlich alter, aber alles andere als abgestandener Text. Paulus saß damals in Untersuchungshaft in Ephesus - eine Stadt an der Westküste der heutigen Türkei gelegen. Er musste in seiner Zelle mit allem rechnen, auch damit, zum Tode verurteilt zu werden. In dieser lebensbedrohlichen Situation schreibt Paulus an die Christen in Philippi einen Brief. Philippi, eine Stadt im Norden Griechenlands, dem heutigen Mazedonien, galt im 1. Jahrhundert als Tor zwischen Asien und der römischen Welt. Dorthin hatte Paulus das Christentum gebracht, als er von Troas aus erstmals den europäischen Kontinent betrat.

Und nun sitzt Paulus fest, bangt um sein Leben, verunsichert über Anfeindungen auch aus den eigenen Reihen – und fragt sich: Wo soll es langgehen? Hat mein Leben noch Zukunft? In seinen Überlegungen reflektiert Paulus zunächst seine Vergangenheit:

Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin ein Angehöriger des Volkes Israel, aus dem Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern - was das Gesetz angeht: ein Pharisäer; was den Eifer angeht: ein Verfolger der Gemeinde; was die Gerechtigkeit angeht, die im Gesetz gilt: einer ohne Fehl und Tadel.

              Philipper 3,5-6

Wir spüren dem Text ab: All das, was Paulus ursprünglich geprägt hat, befriedigt ihn nicht. Denn Paulus hat an sich selbst erfahren, dass diese Merkmale schnell von der Lebenswirklichkeit überholt werden können – und dann bei einer Neuausrichtung des eigenen Lebens im Wege stehen. Hinzu kommt, dass er immer wieder an seine Vergangenheit erinnert, ja darauf festgenagelt wird: Du warst doch ein religiöser Richtigkeitsfanatiker; du hast doch alle Erneuerungsbestrebungen, ausgelöst durch Jesus von Nazareth, bis aufs Messer bekämpft. - Auch das ist uns durchaus vertraut. Je älter wir werden, desto mehr spüren wir, wie sehr uns die Vergangenheit, die Kindheit, ein mögliches Scheitern im Beruf oder in der Ehe, auch ideologische Irrwege geprägt haben; aber auch: was wir schon alles versucht haben, um uns daraus zu befreien, um noch einmal neu anzufangen, durchstarten zu können. Doch dann spüren wir auch, dass Neuanfänge nur bedingt möglich sind, dass wir Gefangene unserer selbst bleiben, aber auch von anderen immer wieder so beurteilt werden, wie wir nicht gesehen werden wollen.

 

Paulus aber stimmt nun kein Lamento darüber an, dass Neuanfänge – wenn überhaupt - nur begrenzt gelingen, und dass man schneller, als einem lieb sein kann, wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Er knüpft an das Ereignis an, das ihn die Frage „Wo solls in Zukunft langgehen?“ ganz neu beantworten ließ, das sogenannte Damaskuserlebnis. Wir erinnern uns: Als Paulus wie ein religiös-fanatischer Fundamentalist im Nahen Osten unterwegs war, um die durch Jesus von Nazareth initiierte Reformbewegung im Keim zu ersticken, wurde er von Gott kurz vor Damaskus gestoppt. Er erblindete für drei Tage, war gezwungen, in dieser Zeit des Stillstands sein Leben neu zu durchdenken, und ließ sich taufen. Jetzt, in der Gefängniszelle, schreibt er:

Ja, in der Tat, ich halte das alles für wertlos im Vergleich mit der überragenden Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen mir alles wertlos wurde, und ich betrachte es als Dreck, wenn ich nur Christus gewinne und in ihm meine Heimat finde.

Philipper 3,8f

Hier benennt Paulus sein Fundament, seinen Kompass, ohne die er weder Halt finden, noch die Richtung seines Lebens bestimmen kann: Jesus Christus. Die Orientierung an Jesus Christus bedeutet für Paulus: Alles, was bisher sein Leben geprägt hat, verliert seine Bedeutung. Auf dem Hintergrund der Botschaft Jesu kann er alles neu durchdenken – so, als hätte alles andere seine bestimmende Kraft verloren. Was für eine Möglichkeit!

Wenn heute Menschen ihr Leben kritisch Revue passieren lassen, um einen Neuanfang zu gewinnen, dann verbinden wohl nur noch die Wenigsten Jesus Christus mit einem möglichen Wendepunkt; dann erinnert sich kaum jemand daran, dass er oder sie getauft ist. Und wenn, dann behalten wir das verschämt für uns. Ja, auf die Frage „Wo soll es denn nun langgehen?“ werden nur die Wenigsten antworten: Ich richte mein Leben an Jesus Christus, an den Grunddaten seines Lebens aus: sein Wirken, sein Leiden, seine Auferstehung, seine Botschaft vom Frieden, von der Gerechtigkeit, von der Ehrfurcht vor dem Leben sind mir Fundament. Leider ist es so. Jetzt aber lasst uns für einen Augenblick bedenken, wohin uns eine solche Ignoranz, eine solche Vergesslichkeit unserer Herkunft führt.

Jeder von uns kennt ja die Situation, wenn man sich auf einer Party, im Freund:innen- oder Kolleg:innenkreis oder in der Schule als Christ zu erkennen gibt: Dann wird man nicht selten zwar freundlich, aber meist entgeistert bis mitleidig angeschaut: Was? Du glaubst noch an so was, gehörst etwa noch zur Kirche, gehst sonntags noch zu so etwas Komischem wie in einen Gottesdienst? Vermag dann jemand mit Paulus zu sagen: Im Vergleich zu dem, was ich an Halt und Lebensorientierung durch Jesus Christus erfahre, ist all das, was mir sonst von Influencer:innen aller Art an Orientierung angeboten wird, ziemlich wertlos, Dreck, Schrott. Ich gehe einmal davon aus, dass das nur den Wenigsten möglich ist. Die meisten werden sich bei solchen Gesprächen verlegen, verschämt, verunsichert in sich selbst zurückziehen.

Ich gebe zu: Auch mir fällt es derzeit durchaus schwer, auf die Frage „Wo soll es langgehen?“ eine einigermaßen zielführende Antwort zu finden und diese zu verbinden mit meinem Glauben. Da kommt man sich – unabhängig davon, dass vieles in unserer Gesellschaft und Kirche in eine falsche Richtung läuft - wie aus der Zeit gefallen vor. Aber:

  • Wenn ich mir dann die gesellschaftspolitische Großwetterlage vergegenwärtige;
  • wenn ich beobachte, wie sich derzeit unsere Kirche zu Tode verwaltet;
  • wenn ich sehe, wie viele Menschen, junge wie alte, ziemlich haltlos durchs Leben wanken;
  • wenn ich entgeistert wahrnehme, wie selbstverständlich und widerspruchslos weltweit Hunderte von Milliarden für den Zerstörungsapparat Rüstung ausgegeben werden;
  • wenn ich sehe, wie nach fast 100 Jahren Bürger:innen wieder ihr Heil im Nationalismus und in der Verachtung der Demokratie suchen;
  • wenn ich sehe, wie Grundrechte zur Disposition gestellt werden und Moral keine Rolle mehr spielt;
  • wenn ich fassungslos zuschauen muss, wie Kriminelle an die Schalthebel der Macht gehievt werden, sich dort schamlos bereichern und als gottgleiche Messias-Figuren inszenieren lassen;
  • wenn ich umgeben bin von Menschen, die voller Wut, Verdruss und egomanischer Anspruchshaltung solchen Typen nachrennen;
  • und wenn ich dann noch meine eigene Schwäche, Inkonsequenz und Mutlosigkeit spüre;

dann bin ich froh und dankbar, dass ich auf die Botschaft Jesu, auf meine Taufe zurückgreifen und dort, im Glauben, Kraft, Orientierung, Vertrauen gewinnen kann – anstatt mich Scharlatanen auszuliefern oder mich in der Resignation zu verkriechen. Dann greife ich gerne auf den ersten Vers des 27. Psalms zurück, den mir meine Eltern als Taufspruch ausgesucht haben und der mir in kritischen Momenten meines Lebens oftmals den Rücken gestärkt hat:

Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?

Psalm 27,1

Dann wird für mich das, was Paulus schreibt, sehr nachvollziehbar, handgreiflich, wegweisend. Dann beginne ich von Neuem zu verstehen, was Paulus meint, wenn er schreibt:

Ich habe nicht meine eigene Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern jene Gerechtigkeit durch den Glauben an Christus, die aus Gott kommt aufgrund des Glaubens.

              Philipper 3,9

Ja, die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt sind das eine. Aber darin erschöpft sich Gott sei Dank nicht das Leben, jedenfalls nicht das Leben eines Christenmenschen. Gott schenkt uns mit Jesus Christus eine andere Perspektive – eine Perspektive, die uns ermöglicht, unser Leben neu zu verstehen. Darum erinnert Paulus an die grundlegenden Daten: das Leiden Jesu aufgrund seines den Menschen zugewandten Wirkens und seine Auferstehung von den Toten. Aus dieser Kraft heraus will er leben, sein Selbstbewusstsein gewinnen, sein Christ- und Menschsein bestimmen. Jesus Christus, sein Tod am Kreuz und seine Auferstehung, haben für ihn absolute Priorität. Warum? Weil er, weil wir unseren Blick so vom Tod zum Leben, vom Ende zum Anfang, vom Scheitern zum Gelingen richten können – und nicht – wie wir es meist tun - umgekehrt! Daraus schöpft Paulus die Zuversicht, mit all den Verwerfungen, auch den dunklen Seiten seiner Biographie, umzugehen, interne Anfeindungen und lebensbedrohliche Gefahren auszuhalten und bei der Guten Nachricht von Jesus Christus zu bleiben. Denn sie verheißt:

  • Gnade, also neu anfangen können;
  • Vertrauen und Liebe, die Gewissheit verleihen;
  • Hoffnung, die über alles Erwartbare hinausgeht.

 

Diese Perspektive haben wir als Christen und als Kirche auch als unseren seelsorgerischen Beitrag in das gesellschaftliche Zusammenleben einzubringen – ohne jede Überheblichkeit, aber auch ohne jede Angst, uns damit im politischen Diskurs zu bewegen. Denn wenn immer mehr Menschen meinen, ohne Gottvertrauen auskommen zu können, dann müssen wir uns nicht wundern, dass dies auch gravierende Auswirkungen auf das alltägliche Zusammenleben hat: nämlich Vertrauensverlust. Der entsteht ja nicht allein dadurch, dass angebliche Wahlversprechen nicht eingehalten werden. Der hat seine Ursache auch im Verlust der eigenen Lebensmitte. Kein Wunder, dass sich dann Angst, Verunsicherungen und Haltlosigkeit zu einer hochexplosiven Gemengelage verdichten, und allzu schnell nach den Strohhalmen gegriffen wird, die von nationalistisch-völkischen Verführern als Rettungsanker hingehalten werden. Doch der Glaube an den einen Gott, das Vertrauen auf Jesus Christus haben nichts, aber auch gar nichts mit Nationalismus, Fundamentalismus und Rassismus zu tun. Denn all das ist angstgesteuert.

Nun versteht sich Paulus trotz seiner fundamentalen Überzeugung als Lernender, Suchender, immer wieder auch Verunsicherter:

Nicht, dass ich es schon erlangt hätte oder schon vollkommen wäre! Ich jage ihm aber nach, und vielleicht ergreife ich es, da auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin.

              Philipper 3,12

Paulus weiß um seine Schwächen, um seine Unzulänglichkeiten, um seine gebrochene Existenz. Er kann zwar vollmundig ausrufen: Alles, was bei mir einmal Bedeutung hatte, empfinde ich heute als „Dreck“, „Kot“, „Schmutz“. Das klingt zunächst sehr selbstsicher. Dennoch spürt Paulus, dass ein Leben aus Christus immer nur aus Annäherungen besteht und nie vollkommen sein kann. Insofern ist für Paulus der Glaube eine Befreiung von der Sucht nach einem widerspruchslosen Glaubensleben, eine Befreiung von jeder Form eines religiösen Fundamentalismus, eine Befreiung von aller Überheblichkeit – und eine Konzentration auf das Wesentliche und Wichtige: Jesus Christus.

Diese Konzentration ermöglicht uns dann auch, mit dem Vergangenen so offen und so pragmatisch umzugehen, wie Paulus es vermag. Er möchte auf seine Vorprägungen als Israeli, Jude, Orientale, religiöser Fundamentalist nicht mehr festgenagelt werden. Darum schreibt er:

Was zurückliegt, vergesse ich und strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt.

              Philipper 3,13

Gott sei Dank liegt viel vor uns – nicht nur die neue Woche. Und jetzt denken wir bitte nicht zuerst daran, was alles Schlimmes auf uns zukommen kann, sondern an das, was mit dem Namen Jesus Christus an Hoffnung, Trost und Wegweisung verbunden ist. Das soll heute und an allen Tagen unser Leben bestimmen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Christian Wolff, Pfarrer i.R.

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