Predigt über Matthäus 9,9-13

  • 05.02.2023 , 3. Sonntag vor der Passionszeit - Septuagesimae
  • Rev. Dr. Robert G. Moore

Predigt zum Dritten Sonntag vor der Passionszeit (Septuagesimä)

5. Februar 2023

Thomaskirche zu Leipzig

Pfarrer Dr. Robert G. Moore, Vertreter der Evangelical Lutheran Church in America

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Wir hören den Predigttext aus dem Matthäusevangelium. Der steht im 9. Kapital:

9Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. 10Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. 13Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): "Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer." Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.

Liebe Schwestern und Brüder, hier können keine Missverständnisse aufkommen. Denn Jesus sagt unmissverständlich, worauf es ihm ankommt: Er kündigt das herbeikommende Reich Gottes an und ruft die Menschen zur Umkehr auf. Dabei hat er nicht „die Gerechten“ im Blick, sondern die Sünder. Also nicht die, die um das Gesetz und die Gebote wissen, sondern die, die sie übertreten und missachten. Jesus mahnt dabei sein eigenes Volk, nämlich Israel. Beachtet bitte den gravierenden Unterschied: Es ist das eine, die Gesetze, Gebote zu besitzen; etwas anderes ist es, sich nach ihnen zu richten, sie zu tun. Jesus erinnert das Volk daran, dass das Gesetz dazu dient, den Willen Gottes zu erfüllen. Darum greift Jesus auf den Propheten Hosea zurück. Dieser hatte 700 Jahre früher Israel gemahnt: „Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): ‚Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer‘.“

Damit unterstreicht Jesus: das Ziel des Gesetzes (das Opfer) ist die Barmherzigkeit, die Liebe. Deshalb ruft Jesus den Zöllner, namens Matthäus, ihm zu folgen. Deshalb saß Jesus mit Zöllnern und anderen Sündern am Esstisch, was unter rechtgläubigen Juden eigentlich verboten war. Allerdings hatten sich schon die Propheten gegen diese Verengung des Glaubens gewehrt. Insofern steht Jesus in der Tradition der Propheten. Diese wollten nie das Gesetz aufheben, aber sie forderten die Menschen auf, das Gesetz richtig zu leben.

Ich möchte daran erinnern: Jesus hat in der Bergpredigt immer der Barmherzigkeit den Vorrang vor sogenannter Gesetzestreue gegeben. Das Gesetz bleibt, aber das Ziel ist die Barmherzigkeit. „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen (Matthäus 5,17) Unter den Seligpreisungen tröstet besonders diese: „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“. (Matthäus 5,7)

Liebe Schwestern und Brüder, auch heute gilt für jeden von uns, in jedem Gesetz, in jedem Gebot das eigentliche Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: die Barmherzigkeit. Das ist keine einfache Sache, auch wenn es eine sehr notwendige Entwicklung im Leben ist.

Ich bin aufgewachsen in einer großen Familie mit 7 Geschwistern. Meine Eltern wollten von Anfang an eine große Familie haben. Das haben sie auch geschafft! Sie waren nicht reich, und ich bin in meinen ersten 16 Jahren in einem kleinen Haus aufgewachsen. Das Leben musste geregelt werden, wenn wir überhaupt friedlich, produktiv und glücklich zusammenleben wollten. Also, es gab Regeln, bei denen wir mit dem Versprechen lebten, dass diese Regeln  uns helfen würden, gut, glücklich und aktive Familienmitglieder zu sein. Und ja, die Regeln haben uns sehr geholfen.

Und so bestand meine Aufgabe darin, ein gutes Kind zu sein. Ich war dann auch ein gutes Kind. .  . Bis zur Pubertät. Da wollte ich nicht mehr erzogen werden. Ich wollte die anderen erziehen und sie in ein gutes Leben führen. Ich wollte beurteile, was nicht hilfreich war und was gut war. Ich konnte manchmal recht erbarmungslos sein – mit meiner Familie und mit meinen Freunden und mir selbst.

Aber es gab Momente, bei denen die eigenen Regeln nicht ausreichten. Da war ich auf andere angewiesen. Seit der ersten Klasse litt ich an Asthma, besonders im Herbst während der Baumwollernte. Ich war hoch allergisch gegen die Staubfäden. Bei den Asthmaanfällen versuchte ich, mich nicht zu bewegen, um wenig Luft zu verbrauchen. Manchmal dachte ich, ich müsste gleich sterben. Da war es mir egal, ob ich ein gutes Kind war. Ich hatte nur einen Wunsch: meine Eltern mögen mich halten, falls ich zum letzten Mal einschlafen und nicht mehr aufwachen sollte. Doch so waren meine Eltern nicht. Ich lag ich allein im Bett, aber gleichzeitig haben meine Eltern alles getan, was mir schließlich half. Aus diesem Erlebnis habe ich gelernt, "Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer."

Das Wort, Barmherzigkeit, setzt sich ursprünglich aus zwei Wörtern zusammen: arm und Herz. Jemand, der barmherzig ist, hat ein Herz für die Unglücklichen. Barmherzigkeit hat mit Mitleid zu tun, das wir Menschen anderen entgegenbringen. Barmherzigkeit zu üben, ist nicht leicht. Wer will schon freiwillig mit den Armen, den Kranken, den Sterbenden mitfühlen, sich mit ihnen solidarisieren? Wir wollen lieber gute Gefühle haben, die uns beweisen, dass wir gute Menschen sind. Aber da liegt der Haken. Wir Menschen versuchen, die Lebensregeln, die Gesetze, zu halten, damit wir uns vorstellen können, wir haben das Glück, den Erfolg, das Geld, die Anerkennung im Leben verdient. Daraus folgern wir fälschlicherweise oft, dass die, die unglücklich, erfolglos, arm und vernachlässig sind, daran selbst schuld sind, weil sie die Regeln und Gesetze nicht beachtet haben.

Wenn wir uns im Leben so verhalten, sind wir unfähig, barmherzig zu sein. Denn wir sind zu sehr damit beschäftigt, uns um unsere eigenen Anliegen anstatt um den nahen und fernen Nächsten zu kümmern. Deshalb ist es sich wichtig und hilfreich, dass Jesus uns mahnt: Gebt der Liebe den Vorrang und übt deswegen Gerechtigkeit. Darin erfüllt sich der Glaube. Lasst uns heute Morgen diesen Ruf Jesu hören. Lasst uns bei allem Singen, Beten und Hören beachten: Wir vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, auf unsere Guttaten, sondern auf Gottes Barmherzigkeit. So vermögen wir in der Freiheit, die Gott uns schenkt, ihn, unseren Nächsten und uns selbst lieben.

Amen.