Predigt über Matthäus 4,12-17
- 08.01.2017 , 1. Sonntag nach Epiphanias
- Landesbischof i.R. Prof. Dr. Christoph Kähler
Schwestern und Brüder in der Thomaskirche! In unserem heutigen Predigttext wird Ungeheures berichtet: „das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen im Land und Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen." - Ein Volk, das im Finsteren sitzt, Menschen, die im Land und Schatten des Todes wohnen, die können wir uns wohl vorstellen. Und wenn wir dabei noch Mühe haben sollten, dann hilft das Fernsehen nahezu täglich nach - mit Bildern der Verwüstung und des Todesschattens. Ja, dieses Dunkel scheint sich auszubreiten und nimmt uns auch in unserem Land gefangen, in Gedanken, in Worten und durch grausame Werke. Auch wir, mitten in Europa, bleiben verletzlich, ahnen Gefahren aus der Dunkelheit, suchen nach Licht und Schutz auf unseren Wegen. Wir sehnen uns nicht nur in dieser Jahreszeit nach mehr Sonne, sondern vor allem in diesen düsteren Zeiten nach einem Licht, das die menschliche Finsternis erhellt, ja beendet. Die bedeckt weite Gebiete dieser Erde: Licht wird auch besonders im Nahen Osten und in Afrika gebraucht. Aber woher könnte es denn kommen?
Wenn wir Menschen keinen Weg und kein Licht sehen, dann suchen wir in der Regel nach bisherigen Erfahrungen und fragen nach früheren Lösungen in ähnlichen Situationen. Wir sehen uns um nach Wegweisern, die anderen schon vor uns nützlich waren, unseren Müttern und Vätern, Freundinnen und Fachleuten, anderen Betroffenen. Wir halten Ausschau nach Ratgebern, die auf gute Fragen - gute Antworten geben. Für uns Christen bedeutet das regelmäßig und im Gottesdienst immer, dass wir dazu die Bibel aufschlagen. Warum? Weil die biblischen Texte einen Erfahrungsschatz enthalten, der sich kaum ausschöpfen lässt. Der Bibel ist wahrlich nichts Menschliches fremd, höchste Freude nicht und kein Elend, kein Zweifel und keine unzerstörbare Hoffnung. Sie verleiht noch der stärksten Verzweiflung Worte und verweist auf die Rettung noch aus der letzten Not. Darum kam und kommt einer angemessenen Bibelübersetzung und ihrer tragfähigen Sprachen so viel Wert zu. Darum haben sich seit 2010 70 Fachleute sieben Jahre Zeit genommen, um die Lutherübersetzung zu prüfen und genauer zu fassen (ehrenamtlich). Es geht in der Bibel um den ganzen Menschen und das ganze Leben. Ihre Texte können ergreifen, weil Ergreifendes darin zu Worte kommt.
Dieser regelmäßige Rückgriff auf die Erfahrungen und die Worte der Vorfahren prägt schon die biblischen Verfasser selbst. Auch sie greifen in Notsituationen zurück auf frühere Verheißungen, auf den Trost in höchster Not. Aber - und das unterscheidet sie vom billigen Trost - sie ersparen sich dabei auch die alten Bußpredigten nicht. Die Schreiber der biblischer Bücher fragen sich durchaus selbstkritisch und immer wieder: Sind wir, das Volk Gottes, doch einmal wieder in die alten Fehler verfallen? Müssen wir nicht erst Buße tun, echte Buße, ehe wir hoffen dürfen? Also nachdenken, umdenken und das dann auch beherzigen? Sie halten für sich und uns fest: Die Heilsworte der Propheten sind nicht ohne ihre kräftigen Scheltworte zu haben. Und umgekehrt gilt: Wer so selbstkritisch nachdenkt, der darf sich auch an die überlieferten Hoffnungen klammern.
Ein Beispiel dafür, für die Aufnahme alter Heilszusagen und der alten Bußpredigt, gibt es in dem heutigen Predigttext aus dem vierten Kapitel des Matthäusevangeliums. Dort wird eine Weissagung des Jesaja aufgenommen - fast 800 Jahre nach seinem prophetischen Auftreten in Jerusalem. Der Seher hatte das Verhalten seiner Gemeinde nicht beschönigt, sondern hatte es hart gegeißelt: als „ein Volk von unreinen Lippen" bezeichnet er sie. Das heißt: Sie sind im Tempel, beim Gottesdienst, zum Gebet untauglich. Doch so scharfe Anklagen er auch vorbrachte, genauso unbändig konnte auch seine Hoffnung klingen. Sie haben es vielleicht im Ohr - nicht nur die Beschreibung „das Volk, das im Finstern wandelt", sondern auch noch die Erwartung der Rettung, des Lichtes in der Dunkelheit. Wie heißt es da? „Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter." Wenn wir diese Weissagung zu Weihnachten hören, dann ist sie für uns unweigerlich mit dem Kind in der Krippe verbunden, mit einem wehrlosen Menschenkind. Das ist allen Gefahren des Menschseins ausgesetzt und verzichtet dennoch auf Gewalt. Und gerade darin wird es zum Heiland, zum Friedensboten, in dem sich die alten Verheißungen erfüllen. Auf diese Prophetie und ihre Erfüllung in Jesus bezieht sich der Evangelist Matthäus.
Für die Predigt ist heute ein Abschnitt aus dem vierten Kapitel seines Evangeliums vorgeschlagen. Ich lese diese Verse (unterstrichen ist, was in der neuen Fassung der Lutherbibel verändert wurde, doppelt, was wieder den alten Luthertext herstellt):
Da nun Jesus hörte, dass Johannes gefangen gesetzt worden war, zog er sich nach Galiläa zurück. Und er verließ Nazareth, kam und wohnte in Kapernaum, das am Galiläischen Meer liegt im Gebiet von Sebulon und Naftali, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaja, der da spricht (Jesaja 8,23; 9,1): »Das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das Galiläa der Heiden, das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen im Land und Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.« Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen und zu sagen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!
Dieser Text wirft viele Fragen auf, mehr als heute zu beantworten sind. Aber eine Frage drängt sich im Nachdenken über diesen Text besonders auf: Wann darf das Volk im Finstern, wann dürfen die Völker dieser Welt und wann wir selbst das Licht sehen und Heil erfahren? Erst dann, wenn wir Buße getan haben, oder schon zuvor? Müssen wir uns, wie es mancher mit guten Gründen fordert, erst als gute Menschen beweisen und unser Leben ändern? Oder ist es genau umgekehrt: Können wir umkehren, zu Gott zurückkehren und zu den Menschen gehen, die uns brauchen, weil wir das rettende Licht schon gesehen haben? Ist unsere Umkehr Bedingung des Heils oder seine Folge? Vor dieser schwierigen Frage stand auch schon der Evangelist selbst. Er erwartet von sich und seinen Mitchristen, dass sie Ernst machen, dass sie sich Mühe geben, dass sie wirklich Buße tun, ihre Reue beweisen! Denn Matthäus hat auch schon das Gegenteil erlebt, dass die ursprüngliche Liebe vieler Christen kalt wurde, ja dass Gemeindeglieder Familienangehörige und andere Menschen verraten haben. Ihn treibt die Angst, dass seine eigene Kirche den Schatz verliert, der allein im Leben und im Sterben hilft. Matthäus will seine Zeitgenossen, seine Mitchristen, zur Buße rufen. Er kann sich keine Erlösung denken, die nicht den ganzen Menschen verwandelt. Darum erspart er keinem in seiner Gemeinde die Frage: Welchen falschen Weg bin ich gegangen? Und wer wollte von uns sagen, dass wir so nicht fragen müssen? Wir brauchen die bohrende Frage, welche Ursachen die kritischen Zustände in dieser Welt haben? Haben wir nicht in Deutschland dazu beigetragen, dass Not und Unsicherheit jetzt ganze Kontinente im Griff haben? Und was können wir tun, um die Ausbreitung von Not und Unsicherheit - wenigstens - zu bremsen? Es ist noch nicht so lange her, dass ein deutsches Staatsoberhaupt häufig und lange in Afrika war. Vor den großen Flüchtlingsströmen hat Horst Köhler auf die dringenden Aufgaben dort hingewiesen. Aber er ist von manchem Journalisten als „Gutmensch" gescholten worden und seine Appelle sind ziemlich ungehört verhallt. Jetzt fordern andere einen Marshallplan für Afrika nach dem Vorbild der Hilfe, die Westdeutschland nach dem Zeiten Weltkrieg erfahren hat. Auch da wird es viele geben, die das für unmöglich ja sinnlos halten. Vielleicht fordert diese Aufgabe ja auch übermenschliche Kräfte. Aber solche Skepsis allein bewegt nichts. Es braucht genaue Kenntnisse und eine Hilfe, die mit den Betroffenen abgesprochen ist. Da tun die kirchlichen Hilfswerke viel Gutes in der Zusammenarbeit mit kirchlichen Partnern vor Ort. Dafür brauchen sie wache Aufmerksamkeit und kräftige Unterstützung, also heftige und vermehrte Anstrengungen. Buße ist konkret. Und soweit hat Matthäus mit seinem prüfenden Ernst sicher Recht.
Nur, das haben wir von Martin Luther und der von Paulus gelernt: alle unsere Anstrengungen schaffen nicht das Licht, bringen nicht die Erleuchtung; sondern erst im Licht der Erlösung, erst durch ein geschenktes neuen Gottvertrauen entdecke ich mich selbst mit meinen Stärken und mit meinen Schwächen, mit dem, was ich getan oder unterlassen habe. Ich entdecke die Stärken und die Nöte der anderen. Auch als Gemeinde und als Kirche werden wir um das Licht bitten, auf das Licht hoffen und auf das Wunder der Zuwendung Gottes. Dass er das vermag, haben wir in Leipzig in besonderer Weise erlebt und werden es nicht vergessen. Wir setzen so mit Paulus und mit Luther die Zuwendung Gottes, sein Licht an die erste Stelle und unser Tun an die zweite. Darf man so mit einem biblischen Zeugen, dem Evangelisten Matthäus, umgehen? Darf man ihn zusammenhalten mit anderen, darf man ihn ergänzen, wo er undeutlich oder einseitig verstanden werden könnte? Ja, wir tun damit nichts anderes als es schon Matthäus selbst getan hat. Denn schon er selbst hat das Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja umgeformt, auf seine Zeit zugespitzt, leicht verändert, ausgelegt. Das wird sofort erkennbar, wenn man die Stelle bei Jesaja neben die aus dem ersten Evangelium hält. Was tun wir damit? Wir deuten und legen die Bibel mit der Bibel, den einen biblischen Zeugen mit anderen aus. Die Bibel ist ihr eigener Interpret. Darum war es Luther wichtig, die ganze Bibel zu übersetzen. Es sollten nicht einzelne Geschichten und einzelne Stellen aus dem Zusammenhang gerissen werden. Der ganze Reichtum der biblischen Erfahrungen, die unverschämte Größe ihrer Hoffnungen und ihre Auslegungsbedürftigkeit bilden eine Einheit. Nach ihr zu suchen ist das Ziel jeder Auslegung, jeder Lesung und jeder Predigt. Dazu helfe uns Gott, der Heilige Geist.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus unserem Herrn. Amen
Landesbischof i.R. Prof. Dr. Christoph Kähler