Predigt über Lukas 2,21 auf dem Hintergrund der Kantate „Singet dem Herrn ein neues Lied“ (BWV 190)

  • 01.01.2024 , Neujahr
  • Pfr. i.R. Christian Wolff

Predigt über Lukas 2,21

auf dem Hintergrund der Kantate „Singet dem Herrn ein neues Lied“ (BWV 190)

Neujahr

Tag der Beschneidung und Namensgebung Jesu

Thomaskirche Leipzig – 01. Januar 2024

 

Johann Sebastian Bach (1685-1750, Thomaskantor 1723-1750)

Singet dem Herrn ein neues Lied

Kantate zum Festtag der Beschneidung und Namensgebung Jesu (Neujahr), BWV 190

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Da scheint zur Jahreswende 1723/24 Johann Sebastian Bach aus einer textlichen Mücke einen stattlichen Elefanten der Musik gemacht zu haben: Eine Randnotiz aus dem Lukasevangelium über die Beschneidung und Namensgebung Jesu, die dem Neujahrstag seine kirchliche Bedeutung verleiht, weitet Bach zu einer prachtvoll-festlichen Kantate aus. Da wird am frühen Morgen des Neujahrstages 1724 - immerhin begann der Gottesdienst um 07.00 Uhr - spätestens nach den ersten Takten des Eingangschors alle Müdigkeit der Gottesdienstbesucher:innen in der Thomaskirche verflogen sein:

Singet dem Herrn ein neues Lied

Mit Pauken und Trompeten leitet Bach die Worte aus dem 149. Psalm ein.

Ja, Wachheit ist vonnöten. Denn an der Schwelle zum neuen Jahr sollen wir Menschen vor allen persönlichen Sorgen und Befürchtungen unser Augenmerk auf eines richten: Was gibt uns Anlass zu einem kräftigen „Te deum“, zum Lob Gottes und zum Dank an ihn? Schon im Eingangschor der Kantate erklingt das lutherische Te Deum deklamatorisch und unisono:

Herr Gott, dich loben wir!

Herr Gott, wir danken dir!

Im dem dann folgenden Rezitativ wird das „Te Deum“ in die Vergangenheit und Zukunft entfaltet: Dankbarkeit für erfahrene Bewahrung und die Hoffnung, dass uns auch im neuen Jahr Glück und Segen geschenkt werden mögen, in dem Bewusstsein, dass dies alles Ausdruck der Gnade Gottes ist. Denn alles hätte ja auch anders kommen können und könnte anders kommen.

Damit wird verdeutlicht: Wir Menschen haben keinen Anspruch darauf, dass wir im neuen Jahr vor Inflation, Pandemien und Kriegen bewahrt werden. Niemand kann sich anmaßen, Sicherheiten zu garantieren. Wohl aber erwächst uns Menschen aus dem Lob und Dank Gottes ein hohes Maß an Verantwortung. Denn eines soll uns im gesungenen Lob Gottes bewusstwerden: Alles, was das Leben so mühsam erscheinen lässt, alles, wovor wir uns fürchten und was uns des Nachts in Schweiß gebadet aufwachen lässt, also alle sozialen Verwerfungen, neue Krankheiten, Kriege, Aufrüstung und Terror - all dies steht nicht nur im krassen Gegensatz zu den Dingen, die wir mit dem Namen Gottes, mit dem Namen Jesu verbinden. Dies alles soll und darf unser Leben, unser Denken und Handeln nicht allein bestimmen.

Diese Perspektive lässt Bach in seiner Neujahrskantate einen Ton anschlagen, der weitgehend aus den Ansprachen, Rückblicken und Prognosen zum Jahresende verschwunden ist. Da ist leider wenig vom Lob und Dank dafür die Rede, dass trotz aller Unvollkommenheit bei uns noch immer vieles funktioniert: Der Strom kommt aus der Steckdose, die Mülltonnen werden geleert, im Krankheitsfall steht ein Bett zur Verfügung, Hunderttausende engagieren sich ehrenamtlich für Menschen, die unserer Zuwendung bedürfen – und wir leben in Frieden. Doch das verliert sich inzwischen im Nebel des Selbstverständlichen und wird überlagert von einem schmarotzerhaften Panikmodus, der sich aus Ermüdung, Frust, Aggression und Ratlosigkeit speist und nicht selten in Wut umschlägt. Von dem aber, dem wir unser Leben verdanken und dem wir uns anvertrauen können, von Gott, dem Schöpfer alles Lebens, ist kaum noch die Rede. Mit dem verkümmerten Gottvertrauen geht uns aber eine Perspektive verloren, die uns die Wirklichkeit nüchtern, dankbar und zuversichtlich wahrnehmen lässt. Stattdessen laufen immer mehr Menschen den Möchtegerngöttern nach, die sich uns als systemüberwindende Erlöser andienen – aber als Zukunftsperspektive nichts anderes anzubieten haben als die billige Masche: Wir machen dich groß, indem wir andere als nichtig brandmarken. Da wird das Blaue vom Himmel versprochen – was sich über kurz oder lang doch nur als brauner Dreck erweist.

Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem selbstständigen Handwerker. Er ließ seinen ganzen Frust ab über die Regierung, die Bürokratie, die viel zu hohen Steuern, mit denen dann doch nur die finanziert werden, die wir hier nicht haben wollen. Bevor er sich in Rage redete, sagte er halb entschuldigend: Ich will ja nicht politisch werden. - Doch, doch, das können Sie ruhig machen, erwiderte ich. Und dann legte er los. Die Ukrainer, was machen die als erstes, wenn sie zu uns kommen? Sie mieten sich bei der Sparkasse ein Schließfach, um dort Bündel von Dollars und Euros zu parken. Und er habe die 10.000 Euro, die sein Vater ihm vor drei Jahren geschenkt hat, jetzt zurückzahlen müssen, weil sein Vater ins Pflegeheim gekommen ist. Was ist daran noch gerecht. - Ja, pflichtete ich ihm bei, das erscheint wirklich als ungerecht. Doch dann fragte ich ihn: Möchten Sie mit dem Ukrainer tauschen? Möchten Sie ihre Heimat verlassen müssen wegen eines Krieges? Möchten Sie in dieser Ungewissheit leben: Was wird aus mir? Da wurde der Handwerksmeister nachdenklich und räumte später selbst ein, dass seine eigene Lage für sich betrachtet so übel nicht ist.

Genau das ist der Perspektivwechsel, der uns mit der Kantate angeboten wird: das eigene Leben nicht im Vergleich zu anderen betrachten, sich nicht dadurch größer machen, indem man andere erniedrigt. Nein, mein Leben hat aus sich heraus einen Wert, wenn ich es in einer Beziehung zu Gott sehe und aufmerksam dafür werde, was Gott mir mit meinem Leben für Möglichkeiten eröffnet. Jedoch - ich mache mir keine Illusionen: Käme heute ein führender Politiker oder Journalist auf die Idee, seine Neujahrsansprache so auszurichten, wie es der unbekannte Textdichter der Kantate gewagt hat – er würde wahrscheinlich als Phantast verhöhnt und medial verrissen werden.

Dabei handelt es sich bei der Kantate um alles andere als religiöse Schönfärberei. Hier wird nichts ausgeblendet, nichts verdrängt. Vielmehr will die Kantate das innere Krisenmanagement stärken, damit wir uns angstfrei der Wirklichkeit stellen können, anstatt uns ihr willenlos und frustriert auszuliefern. Das ist ja die Funktion des Sonntag für Sonntag in den Gottesdiensten angebotenen Perspektivwechsels: Einmal in der Woche und ganz intensiv zum Jahreswechsel alles „im Namen Gottes“, „im Namen Jesu“ anschauen, kritisch prüfen, hoffnungsvoll planen: das eigene Leben, die gesellschaftlichen Bedingungen, die weltweite Lage. Dann werden uns zum einen die verrückten Widersprüchlichkeiten dieser Welt bewusst, zum andern müssen wir daran nicht zerbrechen. Im Mittelteil der Kantate, dem Bass-Rezitativ, wird dieser Perspektivwechsel wunderbar dargestellt:

Es wünsche sich die Welt,

Was Fleisch und Blute wohlgefällt.

Nur eins, ein bitt ich von dem Herrn,

Dies eine hätt ich gern,

Dass Jesus, meine Freude …

Mich als ein Schäflein seiner Weide

Auch dieses Jahr mit seinem Schutz umfasse …

Wir selbst können uns gegenseitig noch so viel einen „Guten Rutsch“ wünschen und Gesundheit, Wohlergehen, Glück zusprechen. Entscheidend wird sein, ob wir das neue Jahr im Namen Jesu anfangen, ob wir unser Leben an seinen Wegweisungen ausrichten und uns seinem Heil anvertrauen.

An dieser Stelle knüpft die Kantate an die Notiz aus dem Lukasevangelium an:

Und als acht Tage um waren und man das Kind beschneiden musste, gab man ihm den Namen Jesus, wie er genannt war von dem Engel, ehe er im Mutterleib empfangen war.

Lukas 2,21

Acht Tage nach der Geburt erhielt das Kind in der Krippe, verbunden mit der Beschneidung, seinen ihm zugedachten Namen: Jesus. Jesus - das ist die griechische Form des hebräischen Namens „Jeschua“, auf deutsch: Gott ist großzügig, oder: Gott rettet. Spätestens hier wird deutlich: Dieser Name ist Programm – oder anders ausgedrückt: nomen est omen. Mit dem Namen Jesus war und ist alles gesagt, was seit Jahrtausenden vielen Menschen den Glauben so wertvoll macht: Gott, der die Welt ins Dasein rief, wendet sich mit Jesus Christus der Menschheit wieder zu. Er rechnet ihr nicht das an, was sie in der Vergangenheit der Erde und den Mitgeschöpfen an Gewalt und Schmerzen zugefügt hat. Vielmehr bleibt Gott seiner Verheißung an Abraham treu

Ich … will dich segnen … und du sollst ein Segen sein.

  1. Mose 12,2

So wird Jesus mit der Beschneidung in die große Tradition des Volkes Israel gestellt und hat damit Anteil am Segen Abrahams. Der Name Jesus markiert keinen Bruch mit der Geschichte, keinen Bruch mit der jüdischen Glaubenstradition, keinen Bruch mit Israel. Mit dem Namen Jesus wird eine Brücke in die Vergangenheit geschlagen – mehr noch: mit Jesus werden alle Brüche geheilt, die wir Menschen im Verlauf der Geschichte und im Laufe unseres eigenen Lebens mit Gott vollzogen haben; Brüche, unter denen wir selbst, aber auch die anderen leiden. Durch die Beschneidung Jesu wird die Kontinuität zu dem Gott wieder hergestellt, der Abraham Zukunft verheißen hat. Wir können nicht klar und oft genug darauf verweisen, dass wir Christen nicht an einen anderen Gott glauben als den, der uns im ersten Teil unserer Bibel begegnet: an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Wer hier trennt, der leistet nicht nur der Judenfeindlichkeit Vorschub, er vergeht sich an der Verkündigung Jesu.

In der Kantate betritt Bach mit dem Eingangschor diese Brücke, indem er auf die beiden letzten Psalmen unserer Bibel, also Psalm 149 und 150, zurückgreift und dem dort zum Ausdruck gebrachten Gotteslob einen großartigen musikalischen Nachdruck verleiht: Lob und Dank sollen im Zentrum des Lebens stehen, damit dieses nicht im Alltäglichen verkümmert. Aber Bach belässt es nicht dabei. Er entfaltet in der sehr intim gestalteten Tenor/Bass-Arie, was mit dem Namen Jesu verbunden ist: sich nicht allein der Wirklichkeit ausliefern, sondern sein Leben immer auch an Jesus Christus, an seinen Maßstäben ausrichten und sich Jesus anvertrauen. Denn in und durch sein Wirken, sein Leiden und Sterben, seine Auferstehung wendet sich alles zum Guten. Bach beschreibt mit diesem Duett musikalisch, was Anbetung, Innigkeit, Spiritualität eigentlich bedeuten: sein ganzes Dasein Jesus zu Füßen legen, ihm allein vertrauen, um so gestärkt und mit einer klaren Orientierung in den Alltag zurückzukehren.

Doch Jesus-Frömmigkeit ist nicht nur eine individuelle Angelegenheit. Deswegen wird im Tenor-Rezitativ die Perspektive geweitet. Da wird mit den Segenswünschen die damalige gesellschaftliche Hierarchie durchdekliniert: Über Könige und Fürsten, Kirche, Lehrer, Ausbildungsstätten, Ratsherren und Richter, Bürgerinnen und Bürger möge sich Gottes Segen ergießen, damit sich Frieden und Gerechtigkeit im Alltag des Lebens küssen können. Was für eine Botschaft! Niemand soll meinen, er sei aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung des Segens nicht bedürftig. Niemand soll meinen, seine Kraft und Fähigkeit hinge nicht von Gottes gegenwärtigem Wirken ab. Niemand soll der Hybris erliegen, er müsse sich vor keiner anderen Instanz verantworten als vor seinem ICH.

Auf der anderen Seite bedeutet die Segensbitte: Wir sind im Zusammenleben alle aufeinander angewiesen. Weder reichen das eigene ICH, noch die eine Nation, noch die eine religiöse Überzeugung, noch die eigene Lebensweise aus, um ein friedliches und gerechtes Miteinander zu gestalten. Darum tun wir auch heute gut daran, die Segensbitte niemandem vorzuenthalten:

  • Gott segne die Gesalbten des 21. Jahrhunderts: Putin, Xi, Biden, Scholz, Selenskyj, Macron, Netanjahu, und erinnere nicht nur die an ihre Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit, die bei ihrer Amtseinführung die Hand auf die Bibel gelegt oder beim Amtseid den Namen Gottes angerufen haben! Nein, dass Frieden und Gerechtigkeit sich küssen, ist die Aufgabe aller.
  • Gott segne Juden, Christen, Moslems, Hindhus und befreie sie von allen Absolutheitsansprüchen.
  • Gott segne alle, die Kinder und Jugendliche erziehen und ausbilden und damit vor selbstverschuldeter Unmündigkeit bewahren!
  • Gott segne die UNO und internationalen Gerichtshöfe, damit die Menschenrechte bewahrt werden.
  • Gott segne die kulturelle Vielfalt und das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Tradition, damit wir uns in einem demokratischen, freiheitlichen Zusammenleben gegenseitig tragen und ertragen.

Diese Segenswünsche werden nicht ausgesprochen, um das religiös zu rechtfertigen, was einzelne Menschen und Mächte als ihr Interesse meinen durchsetzen zu wollen. Nein, es geht nicht um das Absegnen menschlichen Tuns. Es geht darum, für all unser Tun und Lassen an den Maßstab des Namens Jesu zu erinnern. Jede und jeder sollte sich der Chance und Aufgabe bewusst sein, sein Handeln vor Gott und im Namen Jesu Christi verantworten zu können.

Darum ist es absolut angemessen, am Beginn des neuen Jahres mit Pauken und Trompeten um den Segen Gottes zu bitten, den Namen Jesu zu preisen – um eines unbedingt auszuschließen: mit Pauken und Trompeten in den Krieg zu ziehen, Leben zu zerstören und für diese und andere menschliche Niedertracht den Namen Jesu in Anspruch zu nehmen. Vergessen wir nie: Wir können uns selbst beweihräuchern, aber niemand kann sich selbst segnen. Darum steht am Ende auch dieser Predigt die Bitte:

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Christian Wolff, Pfarrer i.R.

info@wolff-christian.de

www.wolff-christian.de