Predigt über Kolosser 2,12-15
- 08.04.2018 , 1. Sonntag nach Ostern - Quasimodogeniti
- Pfarrer i. R. Christian Wolff
Was geschieht eigentlich, wenn Menschen getauft werden? Ist die kleine Valerie Stella nun ein gänzlich anderer Mensch als noch vor wenigen Minuten? Können Nachbarn morgen an ihr erkennen, dass sie heute getauft wurde? Tragen wir, die wir vor Jahren und Jahrzehnten die Taufe empfangen haben, ein äußerlich sichtbares Erkennungsmerkmal an uns? Oder ist die Taufe doch nur ein symbolischer Akt, dessen Bedeutung mit der Zeit verblasst, durch andere Ereignisse überlagert und schließlich verschüttet wird und darum der Erinnerung, der Auffrischung bedarf? Letztere Vermutung legt sich nahe - vor allem, wenn wir den Predigttext hören, ein Abschnitt aus dem Kolosserbrief. Dieser geht auf den Apostel Paulus zurück und ist an Christen in Kolossä gerichtet. Kolossä war eine relativ kleine Stadt, die im Gebiet der heutigen Westtürkei lag. Die dort ansässigen Christen erinnert Paulus an die Bedeutung ihrer Taufe. Gleichzeitig versucht er eine Brücke zu bauen zwischen der Beschneidung (sie steht am Anfang des Lebens eines jeden jüdischen Jungen und wird acht Tage nach der Geburt vollzogen) und der christlichen Taufe. Damit will Paulus die Christen, die zumeist aus dem religiösen Niemandsland kamen, darauf hinweisen, dass der christliche Glaube in der jüdischen Tradition wurzelt und nicht von ihm losgelöst gedacht werden kann. Hören wir den Abschnitt aus dem 2. Kapitel: 12 Als ihr getauft wurdet, seid ihr mit Christus begraben worden, und durch die Taufe seid ihr auch mit ihm zusammen auferweckt worden. Denn als ihr euch taufen ließt, habt ihr euch ja im Glauben der Macht Gottes anvertraut, der Christus vom Tod auferweckt hat. 13 Einst wart ihr tot, denn ihr wart unbeschnitten, das heißt in ein Leben voller Schuld verstrickt. Aber Gott hat euch mit Christus zusammen lebendig gemacht. Er hat uns unsere ganze Schuld vergeben. 14 Den Schuldschein, der uns wegen der nicht befolgten Gesetzesvorschriften belastete, hat er für ungültig erklärt. Er hat ihn ans Kreuz genagelt und damit für immer beseitigt. 15 Die Mächte und Gewalten, die diesen Schuldschein gegen uns geltend machen wollten, hat er entwaffnet und vor aller Welt zur Schau gestellt, er hat sie in seinem Triumphzug mitgeführt - und das alles in und durch Christus.
Kolosser 2,12-15 - Übersetzung nach „Gute Nachricht Bibel"
„Tot sein im Leben" - wer kennt solche Phasen der Leblosigkeit aus der eigenen Biographie nicht? Dann, wenn ich nur noch funktioniere; dann, wenn mir keine Zeit bleibt für ein ruhiges Gespräch, für eine intensive Begegnung, für meine Kinder, die auf den Papa oder die Mama warten, für Musik, auf die ich mich einlasse, für einen Theater- oder auch einen Gottesdienstbesuch. Wenn ich dann doch freie Zeit verspüre, suche ich mir krampfhaft Arbeit, damit ich mich mit nichts anderem beschäftigen muss - vor allem nicht mit mir selbst. Auf diese Weise verkümmert Lebendigkeit in uns. Sie stirbt ab. Paulus macht eine einfache Rechnung auf: Einst wart ihr tot, ... Aber Gott hat euch mit Christus zusammen lebendig gemacht. Das Wichtigste an diesem Gedanken ist dies: So schwierig es auch sein mag - Christen denken immer vom Tod zum Leben, und nicht umgekehrt. Dieser Perspektivwechsel wird mit der Taufe vollzogen. Wir können vom Ende zum Anfang denken, vom Scheitern zum Gelingen, von Trauer zur Hoffnung. Dieser Wechsel sollte ein Erkennungszeichen von uns Christen sein. Er sollte unsere Erziehung, unsere Pädagogik, unsere Gespräche und Debatten bestimmen.
Doch wie kann das schon bei der Taufe sichtbar, erfahrbar werden? Wir wissen aus dem Leben der ersten christlichen Gemeinden, dass damals Menschen, die die Taufe begehrten, in ein Bassin eintauchten, sich wuschen und als erneuerte Menschen dem Wasser entstiegen. Ein solcher Akt vermittelt in ganz anderer Weise den Wandel vom Tod zum Leben als die wenigen Tropfen Wasser, die wir bei der Taufe Kindern über den Kopf träufeln. An unserem Taufritus ist nur noch schwer abzulesen, was Martin Luther im Kleinen Katechismus so plastisch und kraftvoll, aber auch befremdlich auf die Frage
Was bedeutet denn solch Wassertaufen?
antwortet:
Es bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe.
Heute steht bei der Taufvorbereitung ganz anderes im Vordergrund: Wo sitzen wir im Gottesdienst; wie und wo feiern wir; wen laden wir ein; darf fotografiert werden; bringt die Patin eine individuell gestaltete Taufkerze mit. Alles auch wichtige Dinge. Doch die eigentlichen Fragen gehen in eine andere Richtung: Wie gestaltet sich denn der Übergang vom alten zum neuen Menschen? Was geschieht mit und durch die Taufe und wie gehen wir nachher damit um? Verstehen wir die Taufe als ein Grunddatum unseres Lebens? Werden sich unsere Kinder an ihre Taufe erinnern als solche, die von Gott geliebt sind, als solche, die unabhängig von dem, was ihnen im Leben an Enttäuschungen widerfährt, Gott als ihren Vater, als ihre Mutter anrufen? Wie können sie Gott so erleben und Jesus Christus so annehmen, dass sie sich von ihm auch dann nicht abwenden, wenn sie sich im Verlauf ihres Lebens von Eltern, Lehrern, Erwachsenen, von der Gesellschaft, von den sog. Eliten ge- und enttäuscht sehen und sich von diesen emanzipieren wollen?
Viele Menschen erleben dramatische Lebenskrisen und deuten die sich daraus ergebende Vereinsamung als Gottesferne. Da bleibt in allem Schmerz, aller Trauer, aller Verzweiflung für Gott kaum Platz. Bedeutet aber die Taufe nicht gerade, dass wir in den tiefsten Tiefen auf Gottes Gegenwart vertrauen können? Suchen Eltern nicht gerade unter diesem Gesichtspunkt den Taufspruch aus - wie heute:
Freut euch, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind.
Lukas 10,20
Wir sind keine Nummer, kein verzichtbares Rädchen im Getriebe dieser Welt, jederzeit austauschbar, kein anonymes Nichts. Nein: Jeder Mensch ist als Geschöpf Gottes mit Recht und Würde gesegnet und trägt seinen Namen als Ausdruck seiner Einzigartigkeit. Diese Zusage wird jedem Menschen durch die Taufe geschenkt - oder besser: Mit der Taufe machen wir uns bewusst, was für jedes Menschenleben gilt und was wir uns selbst und anderen nicht nehmen können - die Zusage Gottes:
Fürchte dich nicht! Denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.
Jesaja 43,1
Der Apostel Paulus thematisiert diesen Aspekt im Predigttext in besonderer Weise. Er spricht von der Tragik, dass wir Menschen grundsätzlich in Schuld verstrickt und darum dem Tod im Leben hilflos ausgeliefert sind. Nun kann man gegen diese pauschale Behauptung viel einwenden - zum Beispiel die Tatsache, dass sich heute Morgen viele unter uns nicht als in Schuld verstrickte, verzweifelte Menschen empfinden. Vielmehr leben sie in der Überzeugung, einigermaßen anständig zu sein - ich übrigens auch. Nur: Bei genauerem Hinsehen werden auf der weißen Weste schnell Flecken sichtbar. Und: Schon in der nächsten Stunde kann alles anders kommen, kann ich aus der Bahn geworfen werden, kann ich den größten Fehler meines Lebens begehen. Oder: Meine Vergangenheit, in der ich an entscheidender Stelle versagt habe, holt mich ein. Machen wir uns nichts vor: Oft beruht das gute Gefühl des „Mitsichimreinensein" auf Verdrängung, auf Verschweigen. Es gehört nun einmal zu den Grunderfahrungen von uns Menschen, dass wir an den besten Grundsätzen scheitern. Mehr noch: Je höher meine eigenen moralischen Maximen, desto größer die Gefahr, sie zu missachten und tief zu fallen. Wie oft sehe ich mich dem Vorwurf ausgesetzt: Und sie wollen Pfarrer sein?
Gibt es aus diesem Dilemma einen Ausweg? Paulus beschreibt ihn so: Gott hat euch mit Christus zusammen lebendig gemacht. Er hat uns unsere ganze Schuld vergeben. Vergebung: Sie ist der Schlüssel, um die Hölle, den Tod, eben das eigene Versagen aufzuschließen. Sie ist das Geschenk, das die Juden durch die Beschneidung und Christen durch die Taufe erfahren. Vergebung ist die Zusage, dass Gott den Schuldschein zerreißen wird. Natürlich: Solange wir Menschen im Säuglingsalter taufen, ist es gar nicht so leicht, diesen Aspekt der Gnade zu verdeutlichen. Denn wir sehen in unseren Kindern zunächst wunderbar „unschuldige" Geschöpfe, die uns Freude bereiten. In ihrem Leben ist das, was wir Sünde nennen, Gott sei Dank noch nicht zum Ausbruch gekommen. Aber gleichzeitig weiß jeder aus seiner eigenen Kindheit, wie prägend alle Erlebnisse sind, die wir in dieser Zeit machen, welch hohen Stellenwert Liebe, Vertrauen, Festigkeit und auch Vergebung haben, und wie sehr davon, aber auch vom Fehlen desselben unser weiteres Leben bestimmt wird.
Ich werde nie vergessen, wie ich mit meiner älteren Schwester - ich war damals gerade fünf oder sechs Jahre alt - mit einem Messer durch den Schlitz einer Spardose - in dieser sollten wir für den Kindergottesdienst Geld für hungernde Kinder in Afrika sammelten - einige Groschen in unsere Hände fallen ließen. Damit kauften wir uns in einem kleinen Kiosk heiß begehrte Lakritz, süß-saure Salinos. Als wir aus dem Laden kamen, die Backen voll mit den geliebten Süßigkeiten, kam uns unsere Mutter entgegen. O Schreck! Für meine Schwester und mich ging eine Welt unter. Wir wären am liebsten im Boden versunken. Doch stattdessen mussten wir zugeben, dass wir die Groschen aus der Dose entwendet hatten. Zwei Dinge geschahen: Wir mussten den Schaden „abarbeiten", Buße tun. Und: Unsere Eltern vergaben uns, schenkten uns neu ihr Vertrauen. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass meine Eltern den Vorfall noch einmal erwähnt haben oder mir vorgehalten hätten: „unser kleiner Dieb". Nein, es geschah genau das, was Paulus den Christen in Kolossä schreibt: Den Schuldschein, der uns wegen der nicht befolgten Gesetzesvorschriften belastete, hat er für ungültig erklärt. Er hat ihn ans Kreuz genagelt und damit für immer beseitigt.
Das ist die Grundlage aller Freiheit. Wenn wir in der Kirche von Schuld und Sünde sprechen, dann nicht, um Menschen zu brandmarken, um sie zu demütigen, um über sie Macht auszuüben. Vielmehr sollen sie von der Last der Sünde, aus selbst verschuldeter Unmündigkeit befreit werden. Ja, es ist unsere Aufgabe, jedem Menschen die Gnade Gottes erfahrbar zu machen: Dein Schuldschein ist zerrissen. Gott nagelt uns nicht auf immer und ewig auf das fest, was wir angerichtet haben oder was wir an traumatischen Erlebnissen mit uns herumschleppen. Wir müssen uns nicht ein Leben lang angeklagt, ein Leben lang missbraucht, ein Leben lang missachtet fühlen. Wir sollen uns auch nicht durch das, was gewesen ist, endgültig geprägt sehen. Machen wir uns nichts vor: Viele, sehr viele Menschen tragen schwer an dem, was ihnen in Kinder- und Jugendzeit angetan wurde. Selbst können sie sich daraus nicht befreien. Da möchte die Erinnerung an die Taufe und das kräftige Bild helfen, mit dem der Predigttext endet: Die Mächte und Gewalten, die diesen Schuldschein gegen uns geltend machen wollten, hat er entwaffnet und vor aller Welt zur Schau gestellt, er hat sie in seinem Triumphzug mitgeführt - und das alles in und durch Christus.
Was für eine Szene: Alles, was mich überfordert, alle Mächte, die an mir herumzerren, alles, was mir Angst macht, alles, was unaufgearbeitet in mir rumort, mich anklagt, mich nicht zur Ruhe kommen lässt - alle Mächte und Gewalten, auch die politischen und ökonomischen, denen ich mich hilflos ausgeliefert sehe, werden von Gott vorgeführt, der Lächerlichkeit preisgegeben, entwaffnet, d.h. entmythologisiert, auf ihre tatsächliche Größe reduziert, ihrer Macht beraubt - und dies in aller Öffentlichkeit. Nichts in meinem Leben soll stärker werden als das Vertrauen in Jesus Christus - kein autoritärer Vater, keine Bürokratie, keine Partei, keine Bank, kein Arbeitgeber, keine verkorkste religiöse Erziehung. Denn dieser Jesus will nicht über uns herrschen, sondern uns befreien. Er will uns nicht schwächen, sondern stärken. Er will uns vor allem aus jeder Art von Opferrolle befreien, in die wir uns gerne zurückziehen.
Wie viele Menschen sehen sich in einer solchen Opferrolle gefangen, fühlen sich bedroht, projizieren ihre Ohnmacht auf die, denen sie sich unterlegen fühlen: Angela Merkel, die Eliten, die Presse, der Islam, die Politiker. Das Absurde daran ist: Menschen sehen sich als Opfer, obwohl sie alle Möglichkeiten haben zu handeln, ihre Meinung zu sagen, sich am demokratischen Wettstreit zu beteiligen, um die besten Lösungen zu ringen. Aber sie verkennen das, was Martin Luther King von seinem Vater gelernt hat. Der hatte seinem Sohn eingeschärft: Du bist nur dann ein Sklave, wenn du dich als Sklave fühlst - wenn du also die Rolle übernimmst, in die dich andere hineindrängen, um Macht über dich ausüben zu können.
Darum lasst uns immer daran denken: Jesus führt die Mächte vor, die uns erdrücken und die uns anklagen, die unser Selbstwertgefühl zerstören, die uns verführen wollen in die Scheinwelten der Drogen oder politischen Phantastereien, der Resignation, der Rache, der Gewalt. Nun wissen wir, dass dies zunächst einen hohen Preis hatte. Jesus unterlag den Mächten, die er vorführen wollte, am Kreuz. Aber das war nicht das Ende. Denn der neue Anfang stand noch aus: die Auferstehung, der Triumphzug. Genauso war es bei Martin Luther King in seinem Kampf um die Bürgerrechte, gegen Armut, gegen Militarismus. Er bezahlte seinen Einsatz zunächst mit dem gewaltsamen Tod. Aber die Strategie der Gewaltlosigkeit hatte sich damit nicht erledigt. Sie steht heute genauso auf der Tagesordnung wie vor 50 Jahren - nein: wie vor 2000 Jahren! Denn als Christen denken und glauben wir vom Tod zum Leben. Darum lasst uns in unserer Taufe die Kraftquelle entdecken für ein selbstbewusstes, befreites, hoffnungsvolles Leben.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft; der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Christian Wolff, Pfarrer i.R.