Predigt über Kolosser 1, 12-20

  • 07.04.2023 , Karfreitag
  • Landesbischof Tobias Bilz

Predigt – St. Thomas Leipzig – Karfreitag – 07.04.23

Text: Kol 1, 12-20

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Predigttext für den Karfreitag steht im Brief an die Kolosser im 1. Kapitel:

 

Mit Freuden 12 sagt Dank dem Vater, der euch tüchtig gemacht hat zu dem Erbteil der Heiligen im Licht. 13 Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes, 14 in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden.

15 Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. 16 Denn in ihm wurde alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen. 17 Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm. 18 Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, auf dass er in allem der Erste sei. 19 Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen 20 und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.

 

Liebe Gemeinde,

in unserem Predigttext am heutigen Karfreitag geht es um das große Ganze! Viele Fragen, die uns im täglichen Leben als Christen bewegen und die uns als Gesellschaft insgesamt beschäftigen, können wir nur beantworten, wenn wir sie in den großen Zusammenhang des Weges Gottes mit dieser Welt, mit seiner Kirche, mit uns als Christen und letztlich aller Menschen stellen. Das wird heute unser Fokus sein. Das wird uns durch den Predigttext geschenkt.

Der Verfasser des Kolosserbriefes entfaltet dafür nicht eine philosophische oder theologische Lehre, sondern er nutzt ein Lied.

Ich freue mich, heute hier in der Thomaskirche zu sein und mit ihnen sowie den Thomanern zusammen den Karfreitagsgottesdienst zu erleben.

Es ist eben ein Unterschied, ob wir beten:

 

Erlöser der Welt, rette uns, der du uns durch das Kreuz und dein Blut erlöst hast, hilf uns, wir bitten dich unser Gott.

 

Oder ob wir (freilich auf Latein) es mit dem „schwebenden“ Satz des englischen Organisten und Komponisten Thomas Tallis singen oder hören, uns davon erheben lassen und damit selbst zu dem erhoben werden, an den sich das Gebet richtet.

Unser Predigttext ist ein Hymnus! Der Hymnus zieht den Menschen nach oben. Es ist ein Preis- und Loblied auf etwas, was man verehrt. Denken sie nur an die Ergriffenheit mancher, wenn im Sport die Nationalhymne gespielt wird…

Der Hymnus ist damit ein Gegenstück und Gegenmittel zu dem, was uns „runterziehen“ will!

Haben Sie Erfahrungen, Sorgen und Ängste, die ihnen die Hoffnung nehmen? Ich schon. Dafür brauche ich nur in meinen Verantwortungsbereich in der Kirche zu schauen: Das gibt es einen langanhaltenden Mitgliederschwund und Aufarbeitung von Versagen. Wir können Pfarrstellen und andere Stellen im Verkündigungsdienst nicht besetzen und haben mit unserer eigenen Unbeweglichkeit zu kämpfen.

Der Blick in die Welt macht es nicht besser. Es ist bei uns angekommen, dass der Krieg eine machtvolle Realität ist, obwohl wir doch meinten, das sei zumindest bei uns überwunden.

Viele gesellschaftliche Spannungen erwecken den Eindruck, dass sich das Wort Jesu aus Matthäus 24 gerade erfüllt: „…aufgrund der Gesetzlosigkeit wird die Liebe in Vielen erkalten…“.

Lassen sie uns heute – ja, ausgerechnet am Karfreitag – diesem scheinbar dunkelsten Tag der Bewegung derer, die sich zu Jesus von Nazareth gehalten haben und noch halten – nicht unser und der Welt Schicksal betrachten, sondern uns nach oben ziehen!

Denn genau so hat Jesus von Nazareth seinen Tod vorab gedeutet: Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen. (Joh 12, 32)

Es geht bei jeder Theologie des Kreuzes nicht darum, das Leid zu bestaunen, es zu meditieren und dabei ganz zerknirscht oder gar peinlich berührt den eigenen Anteil daran zur Kenntnis zu nehmen!

Sondern es geht darum, in der Betrachtung des Leidens Christi dem mitleidenden Gott zu vertrauen und sich von ihm aus dem eigenen Leiden emporziehen zu lassen!

Ich habe für die Predigt zwei Strophen des Hymnus identifiziert. Bevor ich mich darauf beziehe, möchte ich mich der Einleitung zuwenden:

 

Mit Freuden 12 sagt Dank dem Vater, der euch tüchtig gemacht hat zu dem Erbteil der Heiligen im Licht. 13 Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes, 14 in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden.

 

Als die, die wir durch Taufe und Glauben zu Jesus Christus gehören, haben wir Teil an der göttlichen Welt. Dafür werden bildhafte Vergleiche gefunden. Das ist atemberaubend!

Wir sind den Heiligen, also denen, die bereits bei Gott sind, gleichgestellt! Diesem Reich des Lichtes werden wir zugeordnet! Das heißt im Umkehrschluss, dass wir von aller Finsternis befreit sind und jede Sündenstrafe getilgt wurde.

 

Ihr seid bereits im Himmel – so ist es gemeint! Eure Beine laufen noch über diese Welt aber eure Seelen haben bereits eine neue Heimat gefunden! Ihr müsst keine Angst mehr haben, dass das durch euer mangelhaftes Verhalten in Frage gestellt wird!

 

Überhaupt: Was die Menschen damals „runtergezogen“ hat, war ihr Versagen – weniger die negativen Lebensumstände. Sie waren sich dessen bewusst, dass diese Welt nicht das Paradies ist. Oft gehörten sie zu den niederen sozialen Schichten. Sie hofften aber auf den Himmel! Deshalb war es für sie existentiell wichtig, dass sie den Himmel nicht verspielen!

Sie hatten ein schlechtes Gewissen, wenn sie in verzwickten Situationen nicht genau wussten, wie sie sich richtig verhalten sollen und sie meinten, dass es Mächte zwischen Himmel und Erde gibt, die ihnen den Weg zu Gott abschneiden!

Mir kommt es manchmal so vor, als ob das meilenweit von den Problemen der Menschen heute entfernt ist…

Haben Sie mit einem schlechten Gewissen zu kämpfen? Das Gewissen ist manchmal ein furchtbarer Verkläger! Es fixiert uns auf unser Versagen und raubt uns die Lebensfreude. Das Gewissen ist auch nicht objektiv. Es macht oftmals kleine Sünden groß und das wirkliche Versagen verschleiert es. Wie könnten wir sonst aushalten, dass wir mit unserer Art zu leben eine Belastung für die Welt sind?

Der Kolosserbrief will nicht, dass wir uns vom anklagenden Gewissen bestimmen lassen, sondern davon, was Jesus Christus dafür getan hat, dass wir davon frei werden:

Ihr seid wie die Heiligen, die ihr verehrt!

Christus hat euch freigekauft!

Ihr seid im Licht Gottes!

Sündenbekenntnisse – auch in diesem Gottesdienst vor der Mahlfeier – sind dafür da, dass wir uns neu unserer Würde bewusst werden! Sie ermutigen uns, gemäß dieser Würde zu leben (wörtl.: von Gott „fähig gemacht habend“) zu Erben! Dass wir uns neu unseres Standes bewusst werden. Keineswegs aber sollen die Sündenbekenntnisse dazu dienen, dass wir wieder in den Stand der Erlösten zurückkehren! Wir sind und bleiben es!

Immer noch bin ich bei der Einleitung. Aber sie ist so wichtig, damit wir uns singend auch emporziehen lassen. Damit wir nicht denken, wir seien unwürdig!

 

Aber nun komme ich zur ersten Strophe:

Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes.

Erstgeborener aller Schöpfung.

Denn in ihm wurde alles geschaffen

Im Himmel wie auf Erden.

Und er ist es, der vor allem ist,

und alles hat in ihm seinen Bestand.

Und er ist es,

der das Haupt des Leibes ist.

 

Diese Liedstrophe macht Christus größtmöglich groß! Lange bevor überhaupt irgendetwas entstanden ist, war er da. Und als die Welt entstanden ist, ist es mit ihm und durch ihn geschehen. Was soll damit ausgedrückt werden?

Es gibt nichts in Raum und Zeit, was ihn übertrifft!

Christus ist konkurrenzlos: keine Götter, keine Menschen und keine Herrscher können ihm das Wasser reichen. Seine Macht ist grenzenlos!

Mit ihm seid ihr verbunden, wie der Körper eines Menschen mit dem Kopf. Er herrscht und steuert und nichts kann das beeinträchtigen und stören.

Über dem Singen dieser geistlichen Wahrheit fängt sie an, die Existenz zu bestimmen! Es ist manchmal ein „Ansingen“ gegen die anderen Realitäten unseres Lebens und dieser Welt.

Sie können nicht argumentativ entmachtet werden, sondern durch den Lobpreis dessen, der der Herr der Lage ist!

Zugespitzt: Wir werden nicht fröhlicher dadurch, dass unsere Probleme kleiner werden, sondern indem wir in der Verehrung Gottes fröhlicher werden, verlieren die Probleme an Macht und Einfluss auf unser Leben.

Es hängt also so viel davon ab, in welchem Horizont wir unser Leben betrachten! Freilich, es ist eben leichter gesagt als getan. Das Unmittelbare der sichtbaren Welt hat so große Macht. Deshalb braucht es den Sprung des Glaubens in die geistliche Wahrheit der Offenbarung über Christus!

Ich schaffe diesen Sprung, wenn ich ermutigt werde. Im Betrachten der großen Taten Gottes, im Hören auf ermutigende Zusagen im Gottesdienst und in der Schriftlesung, in ermutigender Gemeinschaft und eben auch im Singen der großen Heilslieder!

Für diese Ermutigung brauchen wir einander! Dass wir uns gegenseitig gute Worte zusprechen, wenn wir niedergeschlagen sind: Worte des Verständnisses und Worte, die uns wechselseitig daran erinnern, welche Möglichkeiten uns gegeben sind.

 

Wenden wir uns der zweiten Strophe zu:

Er ist der Anfang,

Erstgeborener von den Toten,

damit er in allem der Erste sei.

Denn in ihm beschloss die ganze Fülle zu wohnen

und durch ihn alles zu versöhnen auf ihn hin,

Frieden stiftend durch sein Blut am Kreuz

mit dem, was auf Erden und was in

den Himmeln ist.

 

Jetzt geht es darum, worauf alles hinausläuft.

Das große Geheimnis der Menschwerdung Gottes in Christus dient dem einen Ziel, dass am Ende die ganze Schöpfung mit Gott versöhnt zum Frieden findet. Darauf steuert die Weltgeschichte zu. Dafür sind wir in der Welt da, wenn wir dem „Ersten“ als die weiteren folgen. Wir stehen als Christen und als Kirche für Versöhnung und Frieden mit Gott und untereinander.

Dabei geht es zunächst nicht um die Einzelfrage, wie man am besten einen kriegerischen Konflikt löst oder wie wir uns als Versöhnte in der Schöpfung verhalten.

Alles fängt damit an, dass wir uns selbst als Versöhnte verstehen. Dass von uns Frieden ausgeht und nicht Gewalt. Wir haben es schlicht nicht nötig, unsere Interessen gegen andere durchzusetzen, weil wir zu dem gehören, dem sowieso alles gehört.

Ich möchte das gern noch ein wenig beschreiben:

Das Leiden und Sterben von Jesus Christus, an das wir heute denken, steht dafür, dass Gott seine Interessen nicht mit Gewalt durchsetzt. Es liegt ihm nichts daran, „gegen die Welt zu siegen“. Er will sie vielmehr für sich und den Himmel gewinnen.

Es gibt keinen stärkeren Ausdruck für diese Haltung, als die Bereitschaft dafür zu bluten. Das Kreuz ist das ultimative Symbol dafür, dass es Gott in Christus nicht um sich selbst geht, sondern um die, mit denen er Frieden schließen will.

 

Liebe Gemeinde,

ich wünsche mir so sehr, dass es uns aufgrund unserer neuen Würde als Erlöste und Erleuchtete, als Errettete und Bürger des Himmels gelingt, Frieden und Versöhnung in die Welt zu tragen. Dafür brauchen wir die Gewissheit des Glaubens, dass wir tatsächlich diese neue Identität haben.

Es geht nicht mehr um uns, weil wir bereits versöhnt und im Frieden mit Gott sind.

Jetzt geht es darum, dass alles (buchstäblich alles Geschaffene) in diesen großen Prozess des Friedens und der Versöhnung mit hineingezogen wird.

 

Wenn wir uns also den Fragen der Bewahrung der Schöpfung zuwenden, dann deshalb, weil die ganze Welt von ihrem Anfang und ihrem Ende her die Welt von Jesus Christus ist!   

Deshalb gilt es, „von Christus her“ über diese Fragen nachzudenken. In ihm treten Schöpfung und Erlösung zueinander.

 

Lassen sie mich Jürgen Moltmann zitieren („Wer ist Christus für uns heute?“ 1997):

„Wir müssen der Bedrohung der Natur eine Christologie der Natur entgegenstellen, nach welcher die Erlösungsmacht nicht nur das Gemüt und die Sittlichkeit der Menschen, sondern die ganze Natur ergreift. Eine solche Christologie wird Leidenschaft für die bedrohte Erde entfachen.“

 

Vielleicht ist das einen Hauch zu idealistisch.

Aber: Wo soll eine echte, positive, lebensbejahende Kraft ihren Ausgangspunkt haben, wenn nicht von dem Gedanken, dass der am Kreuz erhöhte Christus auch der ist, dem alle Macht gegeben ist (Himmelfahrt)?

Ich ziehe es jedenfalls der Angst vor dem Untergang der Welt und allen anderen möglichen Sorgen im Blick auf negativen Entwicklungen vor zu glauben, dass Jesus Christus der Herr über alle Mächte ist! Das zieht mich nach oben!

Liebe Gemeinde,

es ist ein Hymnus! Er besingt ein Phänomen. Dieses Phänomen besteht in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus.

Lassen Sie mich mit einer persönlichen Erfahrung schließen: Manchmal erlebe ich es, dass sich aus meinem Inneren heraus Lieder melden.

Gestern bin ich durch die Innenstadt von meinem Arbeitszimmer zur kath. Kathedrale gelaufen, um dort das Zittauer Fastentuch zu betrachten, welches gerade den Altar verhüllt.

Über dem Gehen hat sich ein Lied eingestellt.

Ich weiß nicht, wie viele Jahre es zurückliegt, dass ich es zuletzt gesungen habe:

„Bei dir Jesu will ich bleiben“

Mein Unterbewusstsein hat es mir ab der zweiten Strophe zugerufen:

 

2) Könnt ich's irgend besser haben

als bei dir, der allezeit

soviel tausend Gnadengaben

für mich Armen hat bereit?

Könnt ich je getroster werden

als bei dir, Herr Jesu Christ,

dem im Himmel und auf Erden

alle Macht gegeben ist?

 

3) Wo ist solch ein Herr zu finden,

der, was Jesus tat, mir tut:

mich erkauft von Tod und Sünden

mit dem eignen teuren Blut?

Sollt ich dem nicht angehören,

der sein Leben für mich gab,

sollt ich ihm nicht Treue schwören,

Treue bis in Tod und Grab?

 

4) Ja, Herr Jesu, bei dir bleib ich

so in Freude wie in Leid;

bei dir bleib ich, dir verschreib ich

mich für Zeit und Ewigkeit.

Deines Winks bin ich gewärtig,

auch des Rufs aus dieser Welt;

denn der ist zum Sterben fertig,

der sich lebend zu dir hält.

Damit ist für mich „das Große und Ganze“ der Heilsgeschichte bei mir angekommen – durch ein Lied. Damit weiß ich neu, wo ich herkomme und wohin mein Leben führt. Das ist das, was mich emporzieht.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.