Predigt über Johannes 8,3-11
- 14.07.2019 , 4. Sonntag nach Trinitatis
- Prof. Dr. Andreas Schüle
Gnade sei mit uns und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt.
Der Predigttext steht im Johannesevangelium, Kapitel 8, V 3-11.
Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden.5 Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?6 Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.7 Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.9 Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand.10 Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?11 Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.
Liebe Gemeinde,
Wir haben es mit einer ziemlich gruseligen Geschichte zu tun. Nicht nur, weil das, worum es hier geht – eine fast vollzogene Hinrichtung – abstößt, sondern weil diese Geschichte gar nicht so weit von uns weg ist, wie das vielleicht gerne hätten. Auch heute noch werden in manchen Gegenden Menschen, vor allem Frauen, gesteinigt, und zwar aus ganz ähnlichen Gründen, wie die in unserer Geschichte. Wer sich Berichte von Menschenrechtsorganisationen durchliest, wird früher oder später auf das Stichwort Steinigung stoßen.
Aber ganz so weit muss nicht einmal schauen. Auch bei uns, im schönen Leipzig, wurden und werden Steine geworfen, und es sind meistens Bilder von Fanatismus und Verachtung, die sich einem da zeigen. Wer Steine wirft, will seinem Hass Luft machen, will sich abreagieren. Wer Steine wirft, nimmt zumindest in Kauf und hofft vielleicht sogar darauf, dass dabei jemand verletzt wird, dass Blut fließt. Steinewerfer kommen selten allein, sondern in Gruppen, da fühlt man sich dann stärker. Und wenn andere das auch tun, dann muss es ja richtig. Man braucht dann nur den einen, der anfängt; man braucht den ersten Stein, der alles ins Rollen bringt.
Da ist eine Gruppe von Männern – Gesetzeslehrer und Pharisäer, also die religiösen Autoritäten der Zeit –, die eine Frau vor sich her treiben. Eine Ehebrecherin sei sie. Auf frischer Tat habe man sie ertappt, und nach dem Gesetz solle sie nun dafür bestraft werden. Sie wird in die Mitte gestellt, alle sollen die Schandtäterin sehen, und allem Anschein nach ist man bereit, das Urteil sofort zu vollstrecken.
An diesem Bild ist jedes Detail furchterregend: Die Erniedrigung der Frau, die Schuldzuweisung an sie allein – also ob zum Ehebruch nicht immer zwei gehören –, und vor allem die offensichtliche Geilheit der Ankläger, Blut fließen zu sehen. Irgendwie kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es hier nicht um Recht und Gerechtigkeit geht, sondern darum, dass ein Exempel zu statuieren. Ehebrechende Frauen, die arglose Männer vom Pfad der Tugend wegführen, will man nicht haben, will man beseitigen.
Die Ankläger unserer Geschichte sind sich ihrer Sache sehr sicher, weil sie das „Gesetz“ auf ihrer Seite sehen. Auf Ehebruch steht Steinigung, so steht es im „Gesetz“ geschrieben, und zwar nicht in irgendeinem Gesetz, sondern in dem, das Gott selbst dem Mose vor langer Zeit auf dem Berg Sinai gegeben hat. Das Gesetz ist der Wille Gottes, und weil das so ist, gibt es für diese Frau keine Gnade. Es ist schon kurios, dass Menschen ausgerechnet dann am unbarmherzigsten und fanatischsten sind, wenn sie meinen, sich dabei auf Gottes berufen zu können. Damals wie heute ist Gott ein Ventil von Chauvinismus und Selbstgerechtigkeit; denn all das braucht es, wenn man in Gottes Namen einen Stein aufhebt und gegen einen anderen Menschen schleudert.
Seltsam, dass das so ist. Mit ihren heiligen Büchern in der Hand haben Menschen einander gnadenlos Gewalt angetan. Aber warum braucht es eigentlich die Berufung auf eine höhere Instanz, wenn es darum geht, den eigenen Fanatismus auszuleben? Religiöse Menschen aller Zeiten haben ihre dunklen Seiten auf Gott projiziert und auf diese Weise mit der Aura einer monströsen Heiligkeit umgeben. Vielleicht weil unsere nackten Abgründigkeiten ohne diese Gloriole einfach das sind, was sie sind – dunkel, platt, unmenschlich. Und wir reden hier nicht nur von roher physischer Gewalt, sondern von den vielen kleinen Morden, die jeden Tag geschehen – den Rufmorden, den gezielten Verleumdungen, den Selbstgerechtigkeiten und Selbstgefälligkeiten, für die es immer einen Grund, ein Recht, ein Gesetz, eine höhere Instanz gibt, die das rechtfertigt, was man tut.
Die tötungswillige Menge unserer Erzählung kommt nun also zu Jesus und führt ihm die Ehebrecherin vor. Was er zu diesem Fall zu sagen habe, wollen sie wissen. Als ob das noch einen Unterschied macht! Die Frau muss sterben, das ist klar. Jetzt geht es nur noch darum, vielleicht auch gleich noch diesen unliebsamen Jesus der Gottlosigkeit zu überführen, sollte er es wagen, dem Gesetz zu widersprechen. Fanatische Menschen sind immer irgendwie auf dem Kreuzzug, kennen kein Maß und wittern überall Verrat, und es ist gefährlich sich ihnen in den Weg zu stellen.
Jesus reagiert zunächst einmal gar nicht. Ich stelle mir da eine lange Pause vor, in der nichts geschieht. Alle warten auf eine lange Rede, auf ein Gleichnis, auf irgendetwas, das Jesus sonst auch schon gesagt hat. Aber es folgt etwas anderes, etwas Überraschendes: Jesus beugt er sich nieder und führt seine Hand zum Boden. Die Erzählung bewegt sich in Zeitlupe, jedes Detail ist jetzt wichtig. Was macht Jesus da? Für einen Moment sieht es so aus als würde er sich zum Boden beugen, um einen Stein zu greifen. Würde er am Ende derjenige sein, der den ersten Stein aufhebt und wirft? Das hätte ihn in den Augen der Fanatiker zum Helden gemacht: ‚Endlich ist er einer von uns, endlich denkt er so wie wir.’ Aber dann bleibt er am Boden, lässt die Steine liegen und beginnt stattdessen mit dem Finger auf die Erde zu schreiben. Nein, er malt da nicht einfach Kreise oder dergleichen. Das Wort, das an dieser Stelle steht, ist graphein, „schreiben“. Die Umstehenden sehen es, wundern sich und werden, wie alle fanatischen Menschen, ungeduldig. ‚Was hast Du nun zu sagen?’, wollen sie wissen. Die Dinge sollen ihren Lauf nehmen. Verzögerungen sind nicht vorgesehen und würden die ganze Inszenierung stören. Diese namenlose Frau soll ja möglichst jetzt und hier zu Tode kommen. Mord braucht Momentum.
Aber Jesus sagt nichts, sondern schreibt und steht wieder auf. Es bleibt ein Geheimnis, aber ich glaube, dass er den Umstehenden nun das vorliest, was er da gerade in den Boden geschrieben hat – diesen einen Satz, der jetzt alles verändert: „Wer von euch ist ohne Sünde, der werfe den ersten Stein.“ Da stehen also die einen, die auf den Buchstaben des Gesetzes pochen, auf die steinernen Tafeln, von denen es heißt, dass Gott sie mit seinem eigenen Finger beschrieben habe. Und da steht Jesus, der nun mit seinem Finger ein Gesetz schreibt.
Keiner sagt etwas, nichts geschieht – kein Wortgefecht und keine fliegenden Steine. Dieser Satz tut seine Wirkung. Aber warum eigentlich? Warum sollten Menschen, die gerade noch so fanatisch auf dem Gerechtigkeitstrip waren, sich von einem solchen Satz beeinflussen lassen. Auf den ersten Blick klingt dieser Satz, Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein, doch eher nach harmloser Alltagsmoral. Und so verwenden wir ihn ja heute auch – als eine Art geflügeltes Wort. Tu nicht so als wärst Du besser als andere! Du hast doch selber genug auf dem Kerbholz, also spiel dich mal nicht so auf!
Aber dieser Satz geht doch noch etwas weiter unter die Haut, weil er uns tief in unserem Gewissen anspricht: Willst Du wirklich Richter sein? Kannst du das? Und tu nicht so, also würdest ja gar nicht in eigener Sache den ersten Stein aufheben, sondern nur weil Gott das so will. Niemand, aber auch wirklich gar niemand hat dich zum Racheengel Gottes bestellt! „Wer unter euch ist ohne Sünde, der werfe den ersten Stein.“ Dieser Satz ist so etwas wie das 11. Gebot, weil es uns daran erinnert, dass wir nicht zu Richtern taugen. „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, so haben wir es vorher in der Evangelienlesung gehört.
Dieser Satz Jesu, dieses 11. Gebot, das er mit dem Finger in den Boden schreibt, ist ein Satz gegen jede Art von Fanatismus. Fanatiker meinen, dass es zu dem Recht, der Moral, dem Weltbild, das sie für wahr und richtig halten, keine Alternative gibt und rechts und links davon nur noch der Abgrund kommt. Und wer nicht in diesen schmalen Korridor der Wahrheit passt, der lebt gefährlich. Und da spielt es keine Rolle, ob das Buch, auf das sie sich berufen, die Bibel, der Koran, das kommunistische Manifest oder einfach nur das Bürgerliche Gesetzbuch ist. Wenn das Recht fanatisch wird, fliegen Steine. Wenn man hinter dem Recht nicht mehr den Menschen sieht, der am Ende des Tages so ist wie man selber, dann fließt Blut. Jesus hält den Pharisäern und Schriftgelehrten den Spiegel vors Gesicht und fragt sie: Wollt ihr wirklich immer noch werfen?
Wieder vergeht eine Weile, in der Jesus auf den Boden schreibt. Dann sieht er auf und schaut um sich herum. Ist denn niemand mehr da, der dich verurteilen will, fragt er die Frau. Und nun zum ersten Mal erhält auch sie das Wort: ‚Niemand mehr, Herr’. Das Exekutionskommando hat sich aufgelöst, die Steine sind liegengeblieben. Der Hype, der Wahnsinn sind verpufft, die Blase des tödlichen Fanatismus’ geplatzt. Zumindest für dieses Mal. Da stehen nur noch Jesus und die Frau: „Geh’ hin, sündige von nun an nicht mehr.“
Das ist auch so ein einfacher Satz, der es auf den Punkt bringt. Es geht nicht darum, den Sünder umzubringen, sondern darum, dass Menschen nicht mehr sündigen. Das will Gottes Gesetz. Wenn es anders wäre, wenn Gott den Tod des Sünders wollte, müsste es vom Himmel Steine hageln. Aber der Himmel (auch über Leipzig) ist glücklicherweise offen und weit und steinfrei, und darum sollte es auf den Straßen und Plätzen unten drunter auch so sein. Und vielleicht lohnt sich ja vor allem an einem schönen Tag der Blick nach oben, um uns daran zu erinnern, dass wir glücklicherweise nicht immer das bekommen, was wir verdienen. „Der Vater im Himmel lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerecht und Ungerechte“, so heißt es in der Bergpredigt. Gott sei Dank! Und wenn wir den Blick dann wieder senken und in unsere Welt hineinschauen, in der fleißig gesündigt wird und in der wir selber fleißig sündigen, dann tun wir gut daran, uns die Ermahnung zu Herzen zu nehmen, die Jesus seinen Jüngern mit auf den Weg gibt. Auch das haben wir vorher schon gehört: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.“ Auch das ist 11. Gebot – das Gebot, das Jesus auf die Erde schreibt, auf der wir leben.
Liebe Gemeinde, beim Meditieren über unseren Predigttext kam mir immer wieder eine andere Geschichte in den Sinn und wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. Auch das ist eine Geschichte, in der jemand – diesmal ein Mann – in die Mitte gestellt wird und in der die Menschen drum herum, gesetzgierig und mordgeil, dessen Tod fordern. Aber dieser Mensch findet niemand, der für ihn spricht; niemand, der diesmal den Fanatikern den Spiegel vors Gesicht hält, als sie rufen: „Kreuzige ihn!“ Diesmal ist da ein korrupter Statthalter, der keinen Finger rührt, sondern seine Hände in Unschuld wäscht und der Lynchjustiz ihren Lauf lässt. Diese Geschichte, Jesu eigene Geschichte, geht nicht gut aus. Der, der wirklich ohne Sünde war, endet am Kreuz. Und Gott lässt es geschehen. So gibt Jesu eigenes Geschick unserer Geschichte über die namenlose Frau eine nochmal andere Pointe: Nicht einmal Gott selbst wirft den ersten Stein, sondern hält an seiner Barmherzigkeit in einer Weise fest, die jedes rationale Maß übersteigt.
Keine Angst, diese Predigt wird nun nicht mit dem Appell enden, dass wir es Gott gleichtun sollen. Nein, so groß sind wir nicht. Aber vielleicht arbeitet es an uns, vielleicht macht es etwas mit uns zu wissen, dass die Welt, in der wir Steine werfen, auch die Welt ist, in der Gott barmherzig und vergebend gegenwärtig ist. Vielleicht wird es uns nicht in Ruhe lassen, dass da etwas nicht zusammenpasst, dass da eine Dissonanz besteht zwischen unserem Leben und Gottes Gegenwart. Und wie das so ist mit Dissonanzen, irgendwann hat man sie satt und kann sie nicht mehr hören. Dann fängt man an zu üben, bis man das Stück richtig spielt. Das Stück in diesem Fall heißt ‚Leben’, die Tonart ‚Gnade’, und es sollen unsere Finger sein, die es spielen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen uns Sinne in Christus Jesus. Amen.
Prof. Dr. Andreas Schüle, andreas.schuele@uni-leipzig.de