Predigt über Johannes 3, 14–21

  • 16.03.2025 , 2. Sonntag der Passionszeit - Reminiszere
  • Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle

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Liebe Gemeinde,

drei Menschen finden sich nach ihrem Tod in der Hölle wieder – oder vielleicht eher im Wartezimmer zur Hölle, so ganz klar ist das nicht. Der Raum, in den sie geführt werden, ist grau, ohne Fenster. Ein bisschen warm ist es, aber sonst erträglich. Ab und zu öffnet sich die Tür und ein seltsamer Kellner kommt herein. Wie ein Teufel sieht er aber nicht aus.
Nachdem sich die drei in ihrer neuen Umgebung umgesehen haben – immer noch ratlos darüber, wo sie da eigentlich gelandet sind – beginnen sie zu reden: Da ist die Reiche Estelle, die Postangestellte Ines und der Journalist Garcin. Eigentlich warten sie darauf, dass bald jemand mit Folterwerkzeugen durch die Tür kommen oder man sie in die „richtige“ Hölle führen würde, denn jedes Mal, wenn die Tür aufgeht, wird es ein bisschen wärmer. Anfänglich geben sich alle drei Mühe, ihre Fassade aufrecht zu erhalten und sich von ihrer besten Seite zu geben. Aber je länger das Gespräch andauert, desto mehr kommen sie sich gegenseitig auf die Schliche, beginnen aneinander ihre dunklen Geheimnisse zu entlocken und schonungslos offenzulegen. Je länger, je mehr genießen sie es, einander zu verletzen und die eigene Verletzung mit Vergeltung zu erwidern. 
Und irgendwann dämmert es den dreien dann: Es wird kein Teufel kommen, es wird keine Folterwerkzeuge geben. Das braucht es gar nicht, denn sie sind sich gegenseitig schon Folter genug. Garcin, der Journalist, bringt es auf den Punkt und sagt: „Die Hölle, das sind die anderen.“ 
Dann geht auf einmal die Tür auf. Die drei sind frei zu gehen, keiner hindert sie daran. Aber da draußen würde nichts anderes, nichts Bessere auf sie warten als hier drinnen. Ihr einstiges Leben, das sie so gründlich vermasselt hatten, bietet keine Zuflucht mehr. Und so bitten sie den Kellner, die Tür wieder zu schließen. Der letzte Satz, der gesprochen wird, lautet: „Und so machen wir weiter.“
Diese Episode aus der Hölle stammt aus dem Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ von Jean-Paul Sartre. Das kam mir unmittelbar in den Sinn, als ich mich mit dem Predigttext für den heutigen Sonntag zu beschäftigen begann, der im 3. Kapitel des Johannesevangeliums steht. Es handelt sich um den Ausschnitt eines Gesprächs zwischen Jesus von Nazareth und einem Schriftgelehrten namens Nikodemus. Die beiden unterhalten sich nicht über die Hölle, sondern über das Gegenteil, das ewige Leben. Was muss man tun, was muss geschehen, damit man das haben kann – das ewige Leben, und zwar eben nicht in der Hölle, sondern, auf der anderen Seite, im Himmel?
Jesus antwortet so, als hätte er Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ gelesen: Menschen lieben die Finsternis, sagt er, nicht das Licht. Menschen tun böse Dinge und zwar bewusst und absichtlich. Und dabei wollen sie nicht ertappt werden. Menschen haben die erstaunliche Neigung und das Bedürfnis, sich die Hölle auf Erden heiß zu machen. 
Was Jesus da sagt, hat eine ungemütliche Plausibilität, weil einem unmittelbar Beispiele dazu einfallen – und nein, ich erwähne jetzt nicht Trump, Musk, Putin oder irgendwelche anderen Egomanen, die geradezu geschaffen sind für Sartres Hölle und sich dort vermutlich auch viel wohler fühlen würden als im Himmel. Nein, was Jesus meint, greift breiter und tiefer und betrifft jeden und jede von uns. Wie häufig eskaliert Streit? Wie oft werden Menschen auf ihre Schwächen und Defizite festgelegt, so als gäbe es nichts anderes an ihnen? Wie häufig findet man sich bestätigt, wenn man andere klein machen und herabsetzen kann. Das steckt in der Spezies Mensch offenbar drin. Auch Kinder tun das, ohne dass man es ihnen beigebracht hätte.
Die Hölle, das sind die anderen. Aber das heißt, wenn man es zu Ende denkt, ja auch: Für andere bin ich die Hölle. Nicht ganz so drastisch sagen wir das jeden Sonntag im Schuldbekenntnis und werden das auch nachher wieder tun: „Ich bekenne vor dir, mein Gott: Ich bin nicht so, wie du mich haben willst. Ich täusche andere. Ich denke schlecht von anderen und rede über sie. Ich übersehe ihre Not und drücke mich, wo ich helfen sollte.“ So formuliert klingt das noch recht erträglich. Der Jesus des Johannesevangeliums sagt es nicht ganz so gemäßigt. Dieser Jesus ist nicht der Meinung, dass Menschen ja eigentlich ganz okay sind, aber halt leider immer wieder vom Pfad der Tugend abkommen. Nein, er sagt etwas anderes: Menschen lieben das Dunkel mehr als das Licht. Punkt. 
Auf dem Satz muss man ein bisschen herumkauen, weil man das sicher nicht gerne hört und so normalerweise nicht von sich selbst denkt. Allerdings hat auch die kirchliche Lehre diesen Gedanken immer wieder aufgenommen. Der Kirchenvater Augustin und nach ihm Martin Luther sprechen vom in sich verkrümmten Menschen (homo incurvatus in se) – ein Bild, das fast ein bisschen wehtut, weil man sich ganz gut vorstellen kann, wie sich das anfühlt – verkrümmt, verkeilt, verbogen zu sein. Das Schlimme daran ist aber nicht nur, dass das wehtut, sondern dass man es irgendwann für natürlich, für normal hält. Der johanneische Jesus würde vielleicht sagen: Die Augen gewöhnen sich daran, wenn man lange genug im Dunkeln gelebt hat. Licht wäre dann unerträglich.
Eine Sorge, liebe Gemeinde, die mich umtreibt, ist, dass wir in Zeiten leben, in denen man sich an die Verkrümmung, an das Verquere und an das Dunkle gewöhnt. Man kann es sehen – jeden Tag im Fernsehen –, man kann es lesen – in Kommentaren auf den sozialen Netzwerken –, man kann es erleben und muss dazu nur vor die Tür treten. Ich sehe Menschen mit Kopfhörern und Ear Plugs, die hinunter auf ihr Handy starren, als sei das das Tor zu einer anderen, besseren Welt – und auch das sieht manchmal ziemlich verkrümmt oder zumindest so ein bisschen verloren aus. 
Aber das ist nicht alles, nicht das ganze Bild. Es gibt eine gute Nachricht. Am Anfang dieses Gottesdienstes hatte ich es schon erwähnt: Heute feiern wir im Kirchenjahr den Sonntag „Reminiszere“, den „Erinnerungssonntag“. Es geht darum, Dinge nicht zu vergessen, die wirklich wichtig sind, die aber leicht in Vergessenheit geraten. Das Johannesevangelium erinnert an etwas, das man in seiner ganzen Reichweite leicht übersieht. In unserem Predigttext steht der Satz: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“
Das ist ein Satz, an dem man schnell vorbeigeht, weil er nach frommer Kirchenspreche müffelt. Aber wenn man beginnt, ihn „auszupacken“, dann wird da etwas sehr Radikales gesagt. Es wird gesagt, dass Gott seinem ganzen Wesen nach Liebe ist – eine Liebe nicht irgendwo ‚da draußen‘, sondern eine Liebe, die mitten unter uns ist. Wenn Gott, der Schöpfer aller Dinge, liebt, dann kann das nichts anderes bedeuten, als dass wir von dieser Liebe umgeben, umfangen, eingehüllt sind, jetzt und hier, in jedem Moment unseres Lebens. Oder lassen sie es mich ein bisschen anders sagen. Für das Johannesevangelium ist Gottes Liebe die Luft, die wir atmen, das Plasma, in dem wir uns bewegen, die Erde unter uns und der Himmel über uns. Wenn Gott liebt – also wirklich Gott und nicht nur ein Kirchengöttchen –, dann ist das eine Urgewalt, oder, wie meine Studierenden sagen würden, dann hat das „Wums“. 
Aber das ist immer noch nicht ganz alles. Für das Johannesevangelium ist auch klar: Wenn wir Liebe erleben – in unseren Beziehungen und Begegnungen –, wenn wir profunde Mitmenschlichkeit wahrnehmen – und sei es nur in flüchtigen Momenten –, wenn wir die Freiheit haben, mehr beim anderen als bei uns selbst zu sein, dann sind all das Gestalten der Liebe Gottes. Wenn wir an Körper oder Geist oder Seele erfahren, dass wir nicht verkrümmt und verkurvt in uns selbst steckenbleiben, sondern über uns hinauskommen, dann ist es das, was der johanneische Jesus meint, wenn er vom „Sein in der Liebe Gottes“ spricht. 
Vermutlich kommen jedem und jeder von uns ohne langes Nachdenken Erfahrungen in den Sinn, wo man das schon einmal erlebt hat: Erfahrungen tiefer Verbundenheit; Erfahrungen, in denen man sich nicht egal war oder sich gar die Hölle heiß gemacht hat; Momente, in denen man die Welt hätte umarmen könne. Man denkt dabei wohl zuerst an Familie und nächste Freunde. Aber kennen sie das nicht auch, liebe Gemeinde, dass man sogar zu Menschen, die man noch nie zuvor getroffen hat, eine Verbindung spürt, ohne dass man so recht weiß, woher das eigentlich kommt? Liebe kann man nicht „leisten“, und selbst körperliche Liebe kann man nicht „machen“, auch wenn man das so sagt. Aber man kann in der Liebe sein – und darin bleiben. Daran will das Johannesevangelium erinnern. 
Was Jesus in diesem Gespräch mit Nikodemus sagt, ist schon ziemlich radikal: Ohne Gott gibt es nichts Gutes in der Welt – keine Liebe, keine Güte. Ohne Gott bliebe es so dunkel und kalt wie am Tag, bevor die Welt geschaffen wurde. Ohne Gott würden wir nichts anderes kennen und wollen als Sartres Hölle. Punkt. Aber jetzt kommt die gute Nachricht: Wir sind schon mittendrin in Gottes Liebe. Das Schwierige ist, das zuzulassen und sich davon tragen zu lassen, gerade dann, wenn so gar nichts dafürspricht. 
Wir haben mit Sartres Hölle begonnen, liebe Gemeinde, aber wie würde denn nun der Himmel aussehen – der Himmel in der Version des Johannesevangeliums? Nikodemus wollte ja genau das von Jesus wissen. Was heißt denn ewiges Leben, wenn man damit etwas Gutes und Erstrebenswertes meint? Die Antwort könnte etwa so lauten: Ewiges Leben heißt, aus nichts anderem mehr leben zu müssen als aus Gottes Liebe – ohne Dunkel und ohne den Drang nach dem Bösen, das an jedem Körper haftet. Ewiges Leben heißt auch, dass alles Übel, das man getan und erlitten hat, keine Macht mehr hat, sondern nur noch eine Erinnerung ist – eine Erinnerung an etwas Vergangenes, Überwundenes, Versöhntes. Oder um es noch einmal in den Worten unseres Predigttexts zu sagen: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“
Lohnt es sich, darauf zu hoffen, darauf zu setzen? Die Verheißung des johanneischen Jesus ist, dass das Sein in der Liebe schon begonnen hat – zart und unscheinbar vielleicht, aber doch kraftvoll und bestimmt. „Und so machen wir weiter.“
Amen.