Predigt über Johannes 12,20-24
- 14.03.2021 , 4. Sonntag der Passionszeit - Lätare
- Prof. Dr. Andreas Schüle
Liebe Gemeinde,
Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 12. Kapitel des Johannesevangeliums:
Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest. 21 Die traten zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollen Jesus sehen. 22 Philippus kommt und sagt es Andreas, und Andreas und Philippus sagen's Jesus. 23 Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. 24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
Nun haben wir die erste Woche einer vorsichtigen Lockerung des Lockdowns hinter uns. Mich selber hat es nicht in die Läden gezogen, wo man mit Terminen und „click and meet“ nun wieder einkaufen kann. Nein, das wirkt alles noch ein bisschen steril, gezwungen und weithin spaßbefreit. Aber ich habe es sehr genossen, einige der kleineren Leipziger Galerien zu besuchen, die nun, abseits des großen Kommerzes, wieder an die Oberfläche kommen. Ich schaue mir Kunst sowieso gerne an; aber gerade in diesen Tagen empfinde ich das als Befreiung. Farben, Formen, Visionen. Die eigene Phantasie auf Reisen schicken, die Welt, wenn auch nur in Gedanken, wieder etwas größer werden lassen. Ab Dienstag hat das Museum für Bildende Künste wieder offen – natürlich nur mit Terminbuchung. Ich denke ich werde hingehen.
Endlich auch mal wieder etwas anderes sehen als diese unsäglichen Bilder, die man nun Tag für Tag im Internet und im Fernsehen vorgesetzt bekommt. Ich frage mich ernsthaft, was so faszinierend daran sein soll, dauernd Bilder von Impfampullen, aufgezogenen Spritzen, und Menschen in Impfstationen anzuschauen, die ihren Oberarm in die Kamera halten. Mehr scheint es gerade nicht zu geben. Oder man bekommt Politiker und, nun ja, vermeintliche Experten in Pressseräumen gezeigt, die das Wenige, das es wirklich zu sagen gibt, episch breit und mit den immer gleichen Worthülsen von sich geben.
Unsere Welt ist kleiner und flacher geworden. Das sieht man an den Bildern, die sie produziert; das hört man an den Worten, die gebraucht werden; das spürt man, wenn man durch die Stadt geht und sieht, wie Menschen aneinander vorbeigehen.
Bilder sind wichtig, weil sie unsere Welt weit und groß machen können. Aber auch umgekehrt: die falschen Bilder bringen Enge und Beklemmnis. Bilder setzen sich in unserem Kopf fest und arbeiten an uns, wie wir denken, sprechen und fühlen.
Auch in unserem Predigttext steht ein Bild im Mittelpunkt – ein vertrautes und eigentlich ganz unspektakuläres Bild; Jesus spricht von einem Saatkorn, das in die Erde fällt und eine Ähre und neue Saat aus sich hervorbringt. Es ist ein natürliches, organisches Bild. In einer Naturkundesendung im Fernsehen würde man dieses Geschehen vielleicht im Zeitraffer gezeigt bekommen: ein Korn, das erst auf den Boden fällt, langsam ins Erdreich einsinkt, dort erste Wurzeln und einen Keimling treibt, der dann die Erde wieder durchbricht und schließlich zur Ähre heranreift, die im Wind schaukelt.
Wenn man im Neuen Testament liest, wird man dieses und ähnliche Bilder immer wieder finden. Jesus selbst spricht in seinen Gleichnissen immer wieder davon, dass der Glaube wie auch Gottes Handeln in der Welt etwas ganz Natürliches, Organisches an sich haben.
Aber wie ist das nun im heutigen Predigttext gemeint? Die Episode, die sich da ereignet, spielt in der Jahreszeit, in der auch wir uns befinden. Es ist Frühjahr. Das Osterfest steht an. Im Judentum ist dies das Passahfest. Dazu kamen Menschen aus allen Teilen des Landes und sogar von noch weiter her nach Jerusalem. Auch ein paar „Griechen“, wie es da heißt. Und wenn man schon einmal auf dem Weg nach Jerusalem in die große Stadt war, dann wollte man auch wissen, was es Neues gab. Offenbar hatten diese Griechen schon etwas von diesem charismatischen aber auch irgendwie mysteriösen Jesus gehört und wollten sich den nun einmal aus der Nähe anschauen. Jesus war nicht der einzige Wanderprediger in diesen Tagen. Zeugnisse aus der antiken Welt sagen, dass es davon gar nicht so wenige gab, die entweder mit philosophischen oder eben religiösen Reden unterwegs waren und daraus sogar einen Lebensunterhalt machen konnten.
Diese Griechen wollen nun also wissen, wer dieser Jesus ist und was er zu sagen hat. Das, was sie von ihm hören, dürfte sie aber kaum befriedigt haben. Jesus spricht davon, dass die Zeit gekommen ist, in der er ‚verherrlicht‘ werden würde, und das erklärt er durch das Bild vom Saatkorn. Dermaßen in Rätseln zu sprechen, ist nicht gerade werbetauglich oder verbraucherfreundlich. Und die Griechen in unserem Text, so stelle ich mir das jedenfalls vor, werden sich vielleicht den Zeigefinger an die Stirn gehalten und ziemlich schnell das Weite gesucht haben.
Jesus ist hier an einem Punkt angekommen, an dem er sich nicht mehr dafür interessiert, was andere über ihn denken. Er spricht nicht mehr über sein Leben, sondern über seinen nahenden Tod. Es geht um die Passion, um die Ereignisse von Golgatha, die nun ihre Schatten vorauswerfen und auf die auch wir schauen. Heute in drei Wochen ist Ostern.
Es geht um Jesu Passion und seinen gewaltvollen Tod am Kreuz. Das ist das Bild, auf das uns diese Zeit des Kirchenjahres vorbereiten will. Gewiss kein Bild von Hoffnung und Freude, sondern ganz im Gegenteil – ein gewaltvolles und betrübliches Bild. Wir haben es auch jetzt gerade hier vor uns: Oben unter der Decke das Rennaissance-Kreuz, das schon Martin Luther vor Augen hatte, als er in dieser Kirche predigte, und mir gegenüber das Crucifix des Bornschen Altars, der zu Bachs Zeit in dieser Kirche stand.
Auf dieses gewaltsame Ereignis schaut auch der Jesus unseres Predigttextes. Aber er wechselt das Bild aus. Nicht das blutige Kreuz verrät das Geheimnis seines Lebens und Sterbens, sondern das Bild vom Saatkorn. Damit ein Leben Frucht tragen kann, muss es sterben, muss es sich verwandeln und etwas anderes, Neues werden. Das ist der Lebenskreis der Passion Jesu. Wäre das nicht geschehen, hätte es kein Golgatha und keinen Ostermorgen gegeben, und dann säßen wir heute auch nicht hier. Denn die Frucht, von der Jesus spricht, die aus seinem Tod wächst, so wie die Ähre aus dem Saatkorn, das sind wir – die Gemeinschaft des Glaubens oder, wie es im Credo heißt, die Gemeinschaft der Heiligen. In uns, das ist die verborgene Botschaft, geht dieses Samenkorn auf und will zur Reife gelangen, das vor langer Zeit schon in die Erde gefallen ist.
Ich finde das kolossal ermutigend. Der Gedanke, dass unser Leben nicht nur auf der Oberfläche so vor sich hin schlittert und dann früher oder später endet, sondern dass es eine irdische Tiefe und eine himmlische Höhe hat, dass es in jedem Moment den Keim der Verwandlung und des Neuwerdens in sich trägt, ist eine große Zusage. Das sollte man sich nicht nehmen lassen, gerade in Zeiten, wo alle auf Impfampullen und Sieben-Tage-Indizes starren.
Natürlich erspart einem auch dieses Bild des Saatkorns und die Erwartung von Verwandlung und Reife nicht den Blick auf die harten Realitäten. Auch der stärkste Glaube bleibt nicht unbeeindruckt und nicht unangefochten von dem, was geschieht -- was uns derzeit klein macht und herunterzieht. Und ja, Gott sei Dank gibt es nun die begründete Hoffnung, dass moderne Medizin und Technik uns dabei helfen werden, wieder zu frei atmenden Wesen zu werden.
Aber ich denke wir lernen in diesen Passionstagen auch, uns nicht davon abhängig zu machen, dass uns jemand sagt, ob wir nun gerade verzweifeln oder jubeln sollen. Heut hüh, morgen hott. Wer sich auf dieses Spiel einlässt, wird schnell verschlissen zwischen der Furcht vor steigenden Infektionszahlen und der Aussicht auf die vielleicht rettende Impfung.
Nein für all das, was uns gerade emotional hin und herreißen mag, braucht es einen Rahmen, eine Deutung und ja, ein Bild. Genau das will uns die Rede Jesu vom Saatkorn geben, das stirbt und lebt, das sich hergibt, verwandelt und zu einer neuen Gestalt gelangt.
Jesus sagt von sich, dass er in diesem bildhaften Geschehen „verherrlicht“ wird. „Verherrlichung“ ist ein altes Wort unserer Bibelübersetzungen, das vermutlich kaum jemand auf der Straße noch verstehen wird. Etwas wörtlicher aus dem Griechischen übersetzt, heißt es „einen Glanz bekommen“ – wie durch eine Vergoldung, die zu strahlen beginnt. Wenn aber dieses Bild vom Leben, Sterben und Auferstehen des Saatkorns nicht nur Jesus vorbehalten ist, sondern eben auch für uns gilt, dann dürfen auch wir daran glauben, dass dieser Glanz auf unser Leben abfärbt und es strahlen lässt. Das mag sich nicht immer so anfühlen. Und das mögen andere auch nicht immer in uns erkennen. Aber dieser Glanz ist da, und ihn zu entdecken, könnte ein wohltuende Glaubensübung sein – gerade in der Passionszeit, gerade am Sonntag Lätare. Freut euch!
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.