Predigt über Jesaja 62,6-12

  • 05.08.2018 , 10. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrerin Taddiken

10. Sonntag nach Trinitatis, 5. August 2018

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
mir ging das immer mal wieder in letzter Zeit durch den Kopf bei dieser schier endlosen Hitze: Was machen eigentlich die Leute, die in Syrien in ihren zerstörten Städten hausen. Die Leute im Jemen oder an den vielen anderen Orten, wo überhaupt niemand weiß, wie es da eigentlich mal weitergehen soll. Wann und wie irgendwie so etwas wie ein geordnetes Leben wieder möglich sein wird. Woraus schöpfen Leute ihre Hoffnung, woher bekommen sie die Kraft, etwas wieder aufzubauen und neu anzufangen?

Die meisten von uns haben so etwas nicht erlebt: Dresden, Hiroshima oder Mossul. Aber vielleicht etwas, was zumindest auf der Ebene der persönlichen Erfahrung vergleichbar ist. Wo sich der gut fundierte Lebensentwurf in Luft aufgelöst hat, warum auch immer. Und wo man zwar nicht in realen Ruinen herumirrt aber doch zwischen Bruchstücken des eigenen Lebens. Wo man noch nicht weiß, wie weiter und wo man auch noch meilenweit davon weg ist, die Situation anzunehmen geschweige denn gegenan gehen zu können. Und wenn das, was bisher getragen hat, nicht mehr trägt, wenn einem gar der Glaube zu entweichen scheint, wo man gehofft hat, er würde doch gerade jetzt tragen. Es gibt keine Patentrezepte, wie man damit umgehen kann. „Verstehen kann man das Leben rückwärts; leben muss man es aber vorwärts.", schrieb einst der Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard. Solch eine Situation, wo Menschen versuchen, die Bruchstücke wieder zusammenzusetzen und noch nicht so richtig wissen, wie, müssen wir uns als Hintergrund für den heutigen Predigttext vorstellen. Hier werden Menschen angesprochen, die mit dem Nachhall und der Krise der Zerstörung ihrer eigentlichen Heimat Jerusalem umgehen mussten. Und all dem, wofür diese Stadt stand: für den Mittelpunkt der Welt, für die Schnittstelle zwischen Gott und Mensch, markiert durch das Allerheiligste im Tempel. Im Exil in Babylon hatten sie gelernt, damit umzugehen. Nun durften sie nach Jerusalem zurückkehren, aber an eine vermeintlich gute alte Zeit anzuknüpfen, funktioniert nicht. Der noch in Trümmern liegende Tempel war ein ganz gutes Bild für die innere Verfassung vieler, die nun aus dienen Ruinen wieder etwas bauen bzw. aufbauen sollten. Ein Prophet versucht die Hoffnungen und Kräfte dieser Menschen zu wecken:

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums. Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.

Wie diese Worte damals angekommen sind - wir wissen es nicht. Und für uns? Taugen sie noch heute zum Trost, richten sie uns auf, weisen sie einen Weg? Schauen wir, was Jesaja macht:

Er spricht zunächst von „Wächtern". In der Tradition waren das Gelehrte und Weise, die die Menschen an die Werte der Tora erinnern sollten. Jesaja baut das weiter aus und stellt als allererstes klar: Liebe Leute, passt auf, in diesem ganzen Durcheinander, das Ihr erleben mögt, da sind aber Menschen da, die das haben, was Euch selbst im Moment fehlt und die von ihrem Standort aus überblicken, was Ihr nicht mehr zu sehen in der Lage seid. Die mit Energie, Kraft und Durchhaltevermögen am Werk sind und auch Euch in deinen Versuchen für das Leben nach außen und innen schützen und unterstützen. Sie geben keine Ruhe, den Menschen nicht und Gott nicht. Sie arbeiten schon an dem, was nach Gottes Willen allen zukommen soll: ein Leben, in dem sich jeder aus eigener Kraft ernähren kann. Wo es Freiraum gibt für Fest und Feier, für Lebensfreude. Für die eigene Gottesbeziehung - und nicht zuletzt ein Recht auf Aufnahme in eine sichere Stadt, in eine sichere Gemeinschaft. Unablässig sollen sich die Wächter der Stadt dafür einsetzen. Ich denke, es ist ziemlich entscheidend, dass der Prophet von Wächtern spricht, und nicht nur von einer einzelnen Gestalt. Die Mehrzahl löst ja auch gleich die Frage aus: Gehöre ich sogar vielleicht selbst dazu mit meiner kleinen Kraft? Es liegt angesichts der Situation, in die der Prophet hineinspricht, ja auf der Hand: Da werden als Wächter nicht plötzlich irgendwelche Gestalten vom Himmel fallen, die mit übermenschlichen Kräften ausgestattet sind! Die Angesprochenen sind alle von der momentanen Situation gezeichnet, nach Orientierung für das neue Leben in dieser Stadt und den eigenen Platz darin zu suchen. Menschen, die zu Wächtern bestellt werden können sind da, aber sie sind halt, wie sie sind: normale Menschen. Also: Warum sollte nicht jeder selbst dazugehören können? Wächter einer Stadt lösen sich bei ihrem Dienst ja rund um die Uhr ab und garantieren so, dass dauerhaft genug Kraft und Energie da sind, um beständig und unablässig die Ziele zu verfolgen, an denen zu arbeiten man als einzelner überfordert ist. Es werden die gebraucht, die die anderen wecken und davor warnen, die Zeit zu verschlafen, wenn der Feind vor den Mauern steht. Es werden die gebraucht, die genau hinschauen und die Zeichen der Zeit kritisch zu lesen und zu deuten wissen. Und es werden die gebraucht, die sich selbst immer wieder skeptisch fragen, ob das, was sie denn von den Mauern aus zu sehen meinen, nicht doch schon verzerrt oder verschwommen ist durch Blendung oder Kurzsichtigkeit, an die sie selbst und andere sich schon gewöhnt haben. Dass sie da sind und von Gott offenbar immer wieder neu berufen werden - das schafft schon etwas Linderung und korrigiert jegliches resignierendes „Wird ja doch nichts..."

So bleiben die Wächter beharrlich dran an dem, was nach Gottes Willen sein soll. Zunächst: Dass jeder das Getreide auch essen darf, das er einsammelt. In der Tat: Wo da auf Dauer etwas ins Ungleichgewicht gerät, macht sich Verunsicherung breit. Damals wie heute gilt das nicht nur für das Thema Arbeit, die einen ja eigentlich erst dann wirklich erschöpft, wenn man ihren Sinn nicht mehr sehen kann und wenn einem das abgeht, was nach Jesaja mit dem Essen des Getreides unmittelbar verbunden ist: Er spricht von „Essen und den Herrn rühmen". Ohne die Zutat der Dankbarkeit schmeckt das Gericht des Lebens nicht. Und auch nicht ohne Fest, Feier und Pflege nicht nur des Leibes, sondern auch der Seele: „Wein trinken in den Vorhöfen des Herrn". So hat dieses tröstliche Bild durchaus auch kritisches Potenzial: Gebt dem Leben in der neu entstehenden Stadt dafür Raum - und haltet ihn nicht nur für Euch selbst vor. Denn damit unmittelbar verbunden ist das Bild des Tempels mit seinen offenen Toren: „Bereitet dem Volk den Weg, macht Bahn, räumt die Steine hinweg. Richtet ein Zeichen auf für die Völker."

Jetzt nimmt Jesaja die Getrösteten in die Pflicht. Es reicht nicht, aus Steinen nur immer Mauern zu bauen. Wo eine lebenswerte Stadt entstehen soll, ein funktionierendes Miteinander oder auch ein neuer persönlicher Weg, geht es auch ums Wegräumen. Um aktive Bewältigung von Problemen, ums Anpacken. Das soll interessanterweise zum Zeichen für die Völker werden: Steine wegzuräumen und Menschen einen Weg bahnen. Nicht der Tempel selbst soll beeindrucken, sondern das, diese Haltung: Wege bereiten und bahnen zu wollen. Vielleicht kann man sagen: Die Bereitschaft, gemeinsam Lösungen zu finden. Sich zu überlegen, wie Menschen zusammen leben können und das Miteinander funktioniert. Steine wegräumen im Gegensatz zum Aufschichten, das momentan Konjunktur hat, Grenzen und Mauern hochzuziehen und tatsächlich daran zu glauben, das Problem bliebe dann schon dahinter und muss nicht mehr gelöst werden. Steine wegzuschaffen, die im Weg liegen ist ohne Frage viel schwerer als damit zu mauern. Ich empfinde Jesaja da als sehr drängend in seinem Aufruf an Kopf und Herz: „Macht, räumt, richtet zu, richtet auf" usw. Er setzt ganz klar die Leitlinien für das Zusammenleben im neuen Jerusalem. Es soll dadurch zum „Lobpreis auf Erden" werden, dass jeder erkennen kann: In Jerusalems Mauern können Menschen sicher, gleichberechtigt und in ihren Grundbedürfnissen geachtet leben. Und damit sind wir bei einer wichtigen Sache, die Christen und Juden bis heute verbindet. Israelsonntag: bei dem wofür Jerusalem steht. Für die Hoffnung, dass das möglich sein wird. Dass sich erfüllen wird, woran die Wächter im Moment noch arbeiten, wozu sie unermüdlich rufen und womit sie den Menschen und auch Gott rund um die Uhr in den Ohren liegen: dass sich seine Verheißung erfüllen wird, vor seinem Angesicht miteinander zu leben und dass er alle Tränen abwischen wird, die auch und gerade in den jetzt zerstörten Städten dieser Welt noch geweint werden. Jerusalem ist für Juden wie für Christen sowohl die irdische als auch die himmlische Stadt, und als solches ein Symbol der Hoffnung, dass sich Gottes Verheißungen erfüllen werden - auch wenn aller Augenschein dagegen sprechen mag. Diesen Status hat die Stadt Jerusalem trotz ihrer vielen Zerstörungen und auch in ihrer jetzt noch zu beobachtenden Zerrissenheit nie verloren. Und so gibt auch der Prophet ihr neue Namen, die das abbilden, was Jerusalem noch nicht ist, aber einmal sein soll: „Gesuchte" und „Nicht mehr verlassene Stadt".

Jerusalem - eine Stadt, über die man spricht und nach der man sich sehnt. Wir brauchen Visionäre, wie diesen unbekannten Propheten, die voller Zuversicht an das glauben, was die momentane Realität noch übersteigt. Wir brauchen Visionäre bzw. Wächter, die in Jungen und Alten die Hoffnung auf Überwindung des Schreckens zu wecken, die einen den zerstörerischen und Menschen verachtenden Kräften entgegentreten lässt, die uns den Atem rauben und ratlos fragen lassen: Was soll da bloß werden? Dazu brauchen wir solche Worte, wie diese, hinreißende Visionen, fast ekstatische Sätze und Bilder von großer Klarheit: Wächter, die ununterbrochen an den Verheißungen festhalten und für sie eintreten. Die Menschen helfen, aus ihrer Müdigkeit und Depression herauszufinden, so dass das nicht unbemerkt bleibt. Wie gesagt: Vielleicht gehören wir auch schon dazu. Sind vielleicht auch schon dazu berufen mit dem, was in uns ist an Hoffnung, Zuversicht und Glaubensstärke. Und wenn wir damit nur einen Teil einer Nachtwache übernehmen können, dann ist es schon viel. Dazu helfe uns der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche