Predigt über Jeremia 31,31-34

  • 13.05.2018 , 6. Sonntag nach Ostern – Exaudi
  • The Reverend Dr. Robert G. Moore

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen Liebe Gemeinde, der heutige Sonntag trägt den Namen Exaudi. Auf Deutsch „höre (mich)". Das Wort stammt aus dem 27. Psalm. Dort heißt es: „HERR, höre meine Stimme, wenn ich rufe". Im Kirchenjahr befinden wir uns an diesem Sonntag zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten. Jesus ist weg und der versprochene Heilige Geist ist noch nicht da. In dieser leeren Kluft betet die Kirche: Gott erhöre uns! Lass uns nicht allein! Fülle mit deinem Wort die Leere unserer Existenz!

Diesem Wort begegnen wir heute im Predigttext - ein Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jeremias im 31. Kapitel:
31 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, 32 nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, mein Bund, den sie gebrochen haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR; 33 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. 34 Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
Deutsche Bibelgesellschaft. Lutherbibel revidiert 2017 - Die eBook-Ausgabe: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Mit Apokryphen (German Edition) (Kindle Locations 50592-50604). Deutsche Bibelgesellschaft. Kindle Edition.
Der Prophet Jeremia wirkte im 6. vorchristlichen Jahrhundert in Jerusalem und Juda. Er hat seine Stimme gegen die Machthaber in der Regierung und die etablierten Priester im Tempel erhoben. Er hat den Herrschenden in Israel vorhergesagt, dass sie für ihre ungerechte Politik, für ihre Heuchelei bestraft werden; dass der Feind in das Land einmarschieren, der Tempel zerstört und die führende Schicht ins Exil nach Babylonien, dem heutigen Irak, verschleppt werden. Doch nun, da Israel praktisch aufgehört hatte zu existieren, da der Tempel in Schutt und Asche lag, da die verschleppten Menschen an Euphrat und Tigris nicht mehr darauf hoffen konnten, ihre Heimat jemals wiederzusehen, gab Jeremia der Hoffnung eine Stimme: Gott wird sein Volk nicht verlassen; er wird eine neue Beziehung mit Israel herstellen.
Die Beziehung zwischen Gott und Israel wurde von Israel als ein Bund verstanden - aber ein Bund zwischen zwei ungleichen Partnern: auf der einen Seite Gott, auf der anderen Seite das Volk Israel. Gott bestimmt die Bedingungen, auf denen die Beziehung beruht. Wenn das Volk diese Bedingungen nicht einhält, ist die Beziehung gefährdet.
Die Bedingung für den Bund zwischen Gott und Israel war das Gesetz, die Tora - also alles, was wir in den fünf Bücher Mose lesen können. Dieses Gesetz ist zusammengefasst in den 10 Geboten. Diese Gebote sind aber kein Paragraphenwerk. Vielmehr handelt es sich um Angebote für ein sinnvolles Leben. Denn es geht in den Geboten um Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, gegenseitige Rücksichtnahme, um Fürsorge der Mitmenschen. Die Gebote beschreiben, was Gottesdienst, was Dienst an Gott ist: nämlich dem Nächsten, dem Menschen zu dienen, ihm in Gerechtigkeit zu begegnen, mit ihm eine Leben stiftende Beziehung aufzubauen. Genau das aber war in der Gesellschaft zur Zeit des Jeremia unterentwickelt. Darum kritisiert der Prophet Israel und warnt: Gott wird diesen Zustand der Ungerechtigkeit nicht länger dulden. Das Volk muss die Konsequenzen tragen, und diese werden katastrophal sein.
Was hier deutlich wird: Die Gebote, die den Menschen zu einem sinnvollen Leben anleiten sollen, überführen ihn gleichzeitig seines Versagens. Darum beinhalten die Gebote nicht nur Angebote für das Leben. Sie machen deutlich: der Mensch ist zu schwach, um das Gesetz erfüllen zu können. Er scheitert immer wieder. Dieses Scheitern aber bedeutet: der Bund, den Gott einst mit Mose geschlossen hat, ist gebrochen. Die Heilung dieses Bruchs sieht Jeremia nicht in der Erneuerung der Gesetzestafeln. Darum sagt Jeremia dem Volk Israel: Gott wird einen neuen Bund schließen. Das Gesetz, die Regeln des Bundes, werden nicht mehr in Stein gemeißelt sein, sondern Gott wird sie in die Herzen der Menschen schreiben.
Damit verdeutlicht Jeremia die Absichten Gottes, die er mit dem neuen Bund verfolgt:
- Gott wird die Gebote in die Herzen und Sinne, also in die Seele der Menschen einpflanzen, so dass sie sich mit der Existenz des Menschen verschmelzen. Zwischen dem Menschen und den Geboten soll es keinen Graben, keine Kluft mehr geben.
- Gott wird und will Gott der Menschen sein, so wie wir Menschen in diesem Gott unseren Herrn und Schöpfer erkennen sollen.
- Gott wird den Menschen zuerst und vor allem Vergebung widerfahren lassen. Nun stellt sich für uns als Christen ein Problem. Über Jahrhunderte wurde in der Kirche gelehrt: mit Jesus Christus hat Gott den alten Bund mit Israel abgelöst. Daraus resultierte bei vielen Christen die Überzeugung: Der alte Bund, Israel, ist vergangen. Für uns trifft das, was in der Tora steht, nicht mehr zu. Für uns gelten die Gesetze nicht mehr. Doch wenn wir heute den Propheten Jeremia hören, dann erfahren wir: Gott hat schon lange vor Jesus Christus den Bund mit Israel erneuert. Seine Verheißung gilt gleichermaßen Israel und der Kirche. Das darf nicht getrennt werden. Diese Überzeugung vertritt auch der Apostel Paulus im Römerbrief. Dort schreibt er:
4 Sie sind Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, 5 denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch. (Römer 9,4-5) Deutsche Bibelgesellschaft. Lutherbibel revidiert 2017 - Die eBook-Ausgabe: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Mit Apokryphen (German Edition) (Kindle Locations 82887-82892). Deutsche Bibelgesellschaft. Kindle Edition.
Später zitiert Paulus den Propheten Jeremia: »Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« (Römer 11,27) Das bedeutet: Die Verheißung, die Jeremias dem Volk Israel verkündigt, richtet sich an Juda und Israel. Ihnen verspricht Jeremia: Gott wird euch aus dem Exil zurückführen in das verheißene Land. Das trat dann auch ein. Das Volk kehrte zurück. Jerusalem wurde wieder aufgebaut, der Tempel wurde neu errichtet. Aber eines hatte sich geändert: die Gebote sollten keine steinerne Angelegenheit mehr sein. Sie konnten nur dann wirken, wenn die Menschen sie verinnerlichen; wenn der Gottesglaube nicht mehr an äußerlichen Dingen festgemacht wird.
Genau da setzte Jesus mit seiner Botschaft an. Es ging ihm um Glaubwürdigkeit, um die innere Annahme der Gebote Gottes. Jesus versuchte den Menschen klar zu machen: der neue Bund, den Gott uns anbietet, hat mit Äußerlichkeiten, mit der Institution zunächst wenig zu tun. Es kommt darauf an, dass jeder einzelne Mensch sich in einem Bündnis mit Gott sieht. In den Einsetzungsworten zum Abendmahl heißt es:
Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird zu Vergebung der Sünden.
Wir glauben, dass Gott seinen Bund mit jedem Menschen schließt, der sich auf Jesus Christus einlässt, durch Brot und Wein an ihm teilhat. Das gilt auch für Menschen, die innerlich noch ganz weit weg sind, die sich noch im Exil des Glaubens befinden. Mit Jesus Christus aber kommt Gott auf uns zu, überwindet alle Ferne, teilt mit uns das irdische Leben, die fleischliche Existenz, das menschliche Sterblichkeit. Im Leben, Wirken, Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu erfahren wir den Gott, der uns den Sinn alles Seins in die Seele schreibt. So macht Gott abgestorbenes Leben wieder lebendig.
Das ist das Geheimnis des Glaubens. Dieses Geheimnis wurde schon damals den Israeliten durch den Propheten Jeremia offenbart. Schon damals wollte Jeremia den Menschen klar machen: Es kommt nicht allein darauf an, pedantisch Gesetze zu befolgen und die Einhaltung der Gesetze pedantisch zu kontrollieren. Daran wird der Mensch, daran werden Institutionen, daran wird auch die Kirche scheitern. Wichtig ist, dass wir das Angebot Gottes, sinnvoll, also aus der Vergebung heraus, zu leben, annehmen; dass wir uns durch seine Gnade die Gebote ins Herz schreiben lassen. Dies hat Gott mit Jesus Christus noch einmal bekräftigt.
Was das für uns konkret bedeutet? Wer im neuen Bund Gottes lebt, wer Jesus Christus nachfolgt, der kann frei und ohne jeden Zwang die Regeln und Gebote einhalten - weil er weiß: Gottes Ja zu meinem Leben hängt nicht davon ab, dass ich alles richtig mache. Gottes Ja bleibt bestehen, auch wenn ich einmal gegen ein Gebot verstoße. Diese Kultur der Barmherzigkeit verdanken wir dem neuen Bund, verdanken wir Gottes Gnade. Diese Kultur der Barmherzigkeit soll uns in Fleisch und Blut übergehen, oder wie wir im Amerikanischen sagen „by heart". Ja, „by heart" wird die Kultur der Barmherzigkeit nur dann sein, wenn wir früh damit anfangen, die biblischen Grundregeln unseren Kindern einzupflanzen. Ganz einfach: Wer „Bitte" und „Danke" sagen kann, wer also lernt, dass das eigene Leben ohne das Leben des anderen nicht möglich ist, der braucht keine Paragraphen. Denn er lebt das, was Gott uns Menschen damals wie heute eingeschrieben hat.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

The Reverend Dr. Robert G. Moore