Predigt über Jeremia 23,5-8
- 28.11.2021 , 1. Advent
- Pfarrerin Britta Taddiken
Predigt am 1. Advent (28. November 2021) über Jeremia 23, 5-8
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
es ist Advent – und die pandemische Lage eskaliert. Die Virologen reden von fünf nach zwölf, zehn nach zwölf oder schon halb eins. Die Politik reagiert panisch, sagt die schlimmste Corona-Phase an mit Zuständen, wie wir sie bisher nicht vorstellen konnten. Zu viel Panik? Oder braucht es noch ganz andere Maßnahmen jetzt? Keiner weiß was kommt. Aber es ist eben jetzt schon dramatisch auf den Krankenstationen. Viele Menschen mit schwersten Verläufen müssen versorgt werden. Die Pflegenden, die ohnehin am Limit sind, kümmern sich weit über ihre Kräfte hinaus. Erschöpft, wütend, resigniert müssen wir wohl sagen: Wir müssten nicht in dieser Situation sein, wenn wir im Sommer eine offensichtliche Tatsache nicht verdrängt hätten: Dieses Virus lässt sich mit den bisher angewandten Mitteln nicht eindämmen. Wo war die flächendeckende Impfkampagne, wo war – abgesehen von den Plakaten mit prominenten Oberarmen - die Werbung, die auch die anspricht, die keine Tageszeitungen lesen oder Tagesschau gucken? War es ein Thema im Wahlkampf? Habe ich da etwas verpasst? Klare Worte aus den Kirchen? Auch da hätte mehr und früher kommen können. Dabei haben wir uns weniger verschätzt als etwas verdrängt: Eine typisch menschliche Reaktion, die einen darin bestärkt, alles unter Kontrolle zu haben. Haben wir aber nicht. Und in all dem, waren wir sehr damit beschäftigt, zu unterscheiden, wen wir bei diesem Thema für wahre und für falsche Propheten halten. Und sind in unseren Partnerschaften, Familien, Gemeinden und anderswo an den Punkt gekommen, dass wir dieses Thema lieber meiden, weil wir im Gespräch darüber nicht weiterkommen. Wie finden wir wieder raus aus dieser Misere – persönlich und politisch – das ist eine große Frage und die Antwort offen. Die Debatte um die Impfpflicht wird uns für diesen Winter jedenfalls nicht helfen. Und wir können nur hoffen, dass jetzt wenigstens die Weichen für das nächste Jahr besser gestellt werden.
Aber das sollte nicht unsere einzige Hoffnung bleiben heute am ersten Advent. Es ist ein Segen, dass heute ein Predigttext aus dem Propheten Jeremia dran ist, der das versucht: mitten in der Krise Orientierung zu bieten. Gedanken ordnen, durchatmen, sich nicht verlieren in diesem falschen Film, in dem man sich wähnt. Denen, an die sich dieser Text richtig, ging es nicht viel anders als uns. Bevor wir ihn hören, möchte ich ihn etwas einordnen. Als Jeremia aktiv war, war das von König David geeinte Land in zwei Reiche zerfallen. Im Nordreich Israel gab es eine Regierungskrise nach der anderen, die zum großen Teil korrupten Könige versuchten es wechselweise mit Widerstand oder mit Anpassung an die bedrohlichen Großmächte rundum. Es endete in einer Katastrophe, ein Teil des Volkes geriet ins Exil. Im Südreich Juda, wo Jeremia lebte, war die Lage nicht besser. Direkt vor unserem Text findet sich beißende Kritik des Propheten an den ebenso schlechten königlichen Hirten. Tenor: Sie haben mit ihrer Politik eine verunsicherte Herde hervorgebracht, die sich in kleine Grüppchen zerstreut hat. Mit katastrophalen Folgen für das Zusammenleben – und einer bleiernen Lähmung auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Jeremia benennt das, aber belässt es nicht dabei. Für ihn ist klar: Um aus diesem Zustand der Lähmung heraus zu kommen, hilft nicht nur die Analyse der Gegenwart. Genauso unerlässlich ist der Blick auf das, was ich hoffen darf. Zu Jeremias Aufgaben gehört es, dass er auch dafür Gottes Sprachrohr ist. Und so richtet er den Blick seines Volkes auf einen König, der von ganz anderem Schlag ist als die bisherigen. Von neuer Qualität. Der regiert, ohne zu herrschen. Der nicht von Gottes Gnaden ist – sondern aus Gottes Gnade. Hören wir Jeremias Worte:
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. 6 Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR ist unsere Gerechtigkeit«. 7 Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«, 8 sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.
Der neue König wird einen besonderen Namen tragen. „Der Herr ist unsere Gerechtigkeit“. Das ist durchaus ein Seitenhieb auf den regierenden König Zedekia, der zur Perversion seines eigenen Namens mutiert war. Zedekia – „meine Gerechtigkeit ist Jahwe“. Bei ihm wie bei seinen Vorgängern war das passiert, was nicht nur Königen und Politikern passieren kann, sondern jedem von uns: Dass aus „Gott ist meine Gerechtigkeit“ schnell werden kann „Meine Gerechtigkeit ist (mein) Gott“. Dafür muss man nicht mal an Gott glauben, sondern nur fähig sein, sich einen zu machen. Und das ist der Mensch. Auch wenn er nicht mehr an Gott glaubt, nimmt anderes seinen Platz ein. Und was daraus folgt, das kann uns schon sehr schwer hemmen in Momenten, wo es drauf ankommt, das gemeinsame Problem auch gemeinsam zu lösen. Wie jetzt in der Pandemie – und in Sachen Klimaschutz wird es nicht anders sein. Unser Egoismus, unser bequemes Gefühl zu den Guten zu gehören, die es blicken und die Recht haben, unser Trotz wie auf der anderen Seite auch unsere Angst, mit unpopulären Entscheidungen anzuecken, werden uns nicht helfen. Mit Corona so leben zu lernen, dass es keine tödliche Bedrohung mehr ist, werden wir auf dieser Welt nur gemeinsam - oder gar nicht.
Deshalb geht es darum, auf den zu schauen, der „unsere Gerechtigkeit“ ist. Und da verkündet Jeremia für seine verunsicherten Zuhörer Unglaubliches: Ihrer größten Anfechtung wird das größte Befreiungserlebnis ihrer Geschichte mit Gott nicht nur gegenübergestellt, sondern es wird sogar noch „getopt“. Sie werden noch Größeres erleben als die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei. Gott wird seinen Bund mit seinem Volk nicht nur halten und fortsetzen, sondern komplett erneuern. Sie werden auf eine Art und Weise frei sein, von der sie noch gar nicht wissen. Jeremia, nein Gott selbst, ruft uns zu: Gebt dieser Sehnsucht Raum in Euch, liebe Menschen, wagt es, das zu denken. Und auf der Basis dieses Denkens und Hoffens zu handeln. Und zwar schon jetzt. Die Geschichte mit Gott und Euch geht immer weiter, allem Anschein zum Trotz, es gibt keinen Grund, länger als nötig zu verzagen und zu verstummen. Es ist großartig, wie Bach diese Botschaft in seiner eben gehörten Kantate umsetzt. Noch ganz still, so als suchten sie noch nach Worten, singen alle vier Chorstimmen nacheinander die erste Zeile aus dem Choral „Nun komm der Heiden Heiland.“ Vier Stimmen - aus allen Himmelsrichtungen. Es ist die ganze Welt, die da ruft. Es ist die Menschheit: Komm zu uns allen – du unsere Gerechtigkeit. Unsere eigene wird uns nicht retten.
Für uns ist Jesus der König von dieser neuen Qualität. Er ist es, der sein Volk - alle Welt – in die Freiheit führt. Der „Heiland“. Er holt die Aussätzigen in die Gemeinschaft zurück. Er ermöglicht Menschen, die ihr Leben verfehlt haben, einen neuen Anfang, er richtet sie auf, die Lahmen, Tauben und Blinden. Er weckt ihre Fähigkeiten zu glauben, dass sie frei sein können von dem, was sie in ihrem Zustand plagt. Ermutigt sie, sich nicht abzufinden mit ihrer momentanen Lage. Davor zittern die Kleinkönige, denn das wird ihnen gefährlich. In dieser Spannung zieht Jesus in Jerusalem ein und wie es geschieht, zeigt seinen Anspruch: Regieren, ohne zu herrschen. Und das in aller Klarheit, denn das Erste, was er in Jerusalem tut, ist ganz und gar nichts Sanftmütiges: er vertreibt die Wucherer aus dem Tempel, er streitet mit Schriftgelehrten und Hohepriestern über alles, was ein König im Blick haben muss – über das, was recht und gerecht ist. Und dann erst, nachdem diese Dinge klargerückt sind, beginnt das, was in der Tat unsere Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens noch bei weitem überhöht. Er geht seinen Weg konsequent auch durch Leid und Tod. Damit gibt er aller Welt eine neue Sicht auf die Dinge: Der Tod hat nicht das letzte Wort, er kann Gottes Bund mit uns nicht zerstören. Neues Leben wird sein – für ihn und dann auch für uns.
Für den Advent mitten in der Pandemie brauchen wir diese Botschaft: Dieser König steht gerade jetzt vor unserer Tür und klopft bei uns an – vielleicht haben Sie das eindrückliche Bass-Rezitativ aus der Kantate noch im Ohr. Er klopft an mit seinem ständigen Pochen auf die Würde des Menschen. Es ist ganz wichtig, dass wir das für uns heute mitnehmen, wo wir denken, wir sind doch irgendwie im falschen Film. Und es ist wichtig, es an andere weiterzugeben oder aber zumindest für sie mit zu hoffen: Wo wir zerrissen sind, ängstlich, müde und resigniert, steht er vor unserer Tür und klopft: Er, der er uns zu verbinden versucht, die zerrissene, verunsicherte Herde. Er, der unsere Gerechtigkeit ist. Er kommt in unser Leben, in unsere Stadt, in unser Herz – so wie es Bach den Sopran am Ende der Kantate singen lässt: „Bin ich gleich nur Staub und Erde, will er mich doch nicht verschmähn, seine Lust an mir zu sehen, dass ich seine Wohnung werde. O wie selig werd ich sein!“
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Fürbitten 1. Advent 2021
Unser Gott, in Deinem Sohn Jesus Christus machst Dich auf den Weg zu uns. Immer wieder von Neuem. So komm in diesen Wochen des Advents zu uns. Nimm Wohnung in uns und in unserem ganzen Leben. Schenk uns allen klare Gedanken und mach uns besonnen für das, was jetzt in diesen Wochen zu tun ist. Wir bitten um Weitsicht für alle, die ein politisches Amt haben und in Verantwortung stehen. Gib ihnen Kraft und Mut, Entscheidungen zu treffen.
Wir bitten Dich für die, die in den Krankhäusern liegen und für die, die sich um sie dort kümmern. Wir bitten Dich für die, die gestorben sind und für die, die um sie trauern. Wir bitten Dich um Gelassenheit für die, die vor Sorgen nicht mehr wissen, wohin. Und wir bitten um Besinnung für die, die jetzt zu sorglos sind.
Wir bitten Dich für die Menschen, die zwischen Polen und Weißrussland gestrandet sind. Für alle, die irgendwo auf dieser Welt auf der Flucht der Kälte ausgesetzt sind - auch der menschlichen.
Gott, wir warten auf den, der unser aller Gerechtigkeit ist. Dein Sohn Jesus Christus. Hilf uns, ihm zu vertrauen und dem, was er uns vorlebt: Die Liebe zu Dir und den Menschen, die ohne Furcht ist. Für die Liebe, die immer mit mehr rechnet als jetzt ist und weiß: Der Tod hat nicht das letzte Wort. So lass uns im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung, die nur Du uns schenken kannst, unsere Wege gehen. Darum bitten wir Dich mit den Worten Jesu:
Vaterunser…
Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org