Predigt über Jeremia 20,7-11

  • 23.03.2025 , 3. Sonntag der Passionszeit - Okuli
  • Kirchenrat Lüder Laskowski

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Liebe Gemeinde,


keine Ahnung zu haben kann ein Segen sein. Vor drei Jahrzehnten, in meiner Lehre, habe ich auf der Baustelle den schönen Spruch schätzen gelernt: „Fünf Minuten dumm gestellt, eine halbe Stunde Arbeit gespart.“ Das hat mir jede Menge Stress erspart. Denn oft genug ging die Rechnung auf. Entweder die Angelegenheit hatte sich erledigt oder es hat sich jemand anderes darum gekümmert.
Aber auf Dauer ist solch eine Haltung nicht durchzuhalten. Denn irgendwann nimmt einen keiner mehr ernst. Niemand traut einem mehr etwas zu. Jenseits körperlicher Arbeit, im Blick auf die Wirkung von andauernd ausgestellter Ahnungslosigkeit, fragt keiner mehr um Rat. Dann gerät irgendwann der eigene Selbstwert in Zweifel, ist man doch eigentlich durchaus zu etwas in der Lage.
Sich dumm stellen geht nur eine Weile gut. Die Differenz zwischen dem eigentlichen Wissen und der nach außen zur Schau gestellten Ahnungslosigkeit ist kein Konzept auf Dauer. Nicht nur, weil es anstrengend ist. Nein, weil des Menschen Geist das, was er erkannt hat, nicht abstellen kann. Ich kann mir nicht vornehmen naiv zu sein.
Die Älteren haben schon einmal erlebt, wie ein ganzes Land versucht hat, zu lange so zu tun, als sei nicht existent, was nicht sein darf. Es war aber trotzdem so wie es war in der DDR. Da halfen all die behaupteten Realitäten nichts. Es ging bergab. Wirtschaftlich, moralisch, zivilisatorisch, ökologisch. Und schließlich hat sich in einer großen Entladung wieder verbunden, was lange getrennt war. Die Wirklichkeit war wieder eine, nicht zwei oder mehrere. Nicht eine öffentliche und eine private. Das sind Mechanismen, die immer wieder in Gang kommen. Doch ich bin froh, dass ich jetzt in einem Land lebe, in dem zu große Widersprüche in gesamtgesellschaftlichen Debatten – hoffentlich immer rechtzeitig – neu austariert werden.
„Unwissenheit ist ein Segen.“ Diesen an meinen Spruch aus der Lehre anschließenden Satz sagt der spätere Verräter an der Freiheit Cypher im Science-Fiction-Film Matrix. „Unwissenheit ist ein Segen.“ Dieser Satz fasst zusammen, woran Cypher letztlich scheitert. Warum er den Kompass für das Gute verliert. Er versinkt lieber im Bewusstseinsnebel, in der trügerischen Welt der Matrix, als sich der harten rauen Wirklichkeit zu stellen.
Solch eine Haltung ist ein leichtfertiger Wunsch. Sie setzt voraus, dass die Welt eine andere wird, nur weil ich mir Augen, Ohren und Mund zuhalte – nichts sehe, nichts höre, nichts sage. Wie kleine Kinder, die die Augen schließen und meinen, damit wäre der Andere, alles Bedrohliche vielleicht auch, weg. Was wir wahrnehmen ist. Auch wenn merkwürdige Menschen sich in Vollendung selbst betrügen, bis hin zu der Aussage, alle Wirklichkeit seit konstruiert, sei subjektiv. Und sich flüchten in die schrägsten Konstruktionen: in Verschwörungstheorien, in apokalyptische Szenarien wie zugleich in Beschwichtigungsversuche. Etwa so: Morgen geht die Welt unter, aber der Klimawandel ist nur erfunden. 
Nein, Wirklichkeit ist wirklich. Aus religiöser Perspektive müsste ich sagen: sie kann nicht anders sein als wirklich. Weil Gott uns in und bei vollem Bewusstsein in sie hineingestellt hat. Und damit ein Wissen, das wir nicht wegschieben sollen, nicht können. Nämlich das Wissen darum, was Heil bedeutet und was Unheil. Ganz real. Im jetzt. Nicht als Vision. Nicht als Entwurf. Sondern konkret erlebt. Unleugbar vor Augen.
Diese Erfahrung ist nicht neu. Bei dem Propheten Jeremia wird sie ganz lebendig geschildert. Propheten erkannten sich als von Gott dazu berufen, die Wirklichkeit zu predigen und damit anderen die Augen zu öffnen. Als Anwälte Gottes in der Welt. Rufer für Gerechtigkeit, Recht und Demut vor Gott. So konnte es nicht ausbleiben, dass viele Propheten zu Widerstandskämpfern gegen das Unheil wurden, indem sie es beim Namen nannten. Schon damals gab es viele, die das nicht hören wollten.
Jeremia war solch ein Prophet. Er ist Gott begegnet und hat die Wirklichkeit und den Zustand seines Volkes angesehen. Nicht vom Hörensagen. Nicht von anderen vorgekaut. Sondern indem er selbst hingesehen hat. Sich nicht scheute Augen, Ohren und schließlich auch den Mund aufzumachen. Jeremia möchte nun die göttliche Weltsicht teilen, die Menschen vor Gefahr rettet. Der Prophet will aus einem Leben befreien, das in Ketten und Dunkelheit liegt. Es geht ihm um Klarheit. Um ein heilvolles Leben für viele. Aber statt Dank für seine Botschaft erntet er Spott und Hohn. Er muss sogar um sein Leben fürchten. Für das Gute und Gerechte ausgelacht und bedroht zu werden, ist eine zutiefst kränkende Erfahrung. So bitter, dass Jeremia klagt mit den Worten unseres heutigen Predigttextes.
Jer 20,7 Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. 8 Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. 9 Da dachte ich: Ich will seiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, verschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht. 10 Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« 11 Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. … Gott segne an uns dieses Wort.
„Da dachte ich: Ich will nicht mehr an Gott denken und nicht mehr in seinem Namen predigen.“ Das kommt mir vor wie „fünf Minuten dumm gestellt …“ oder wie die Behauptung „Unwissenheit ist ein Segen.“ Jeremia ist in einer Lage, in der er sich entscheiden muss. Gehe ich den Weg des Selbstbetruges? Tue ich so, als ob ich keine Ahnung hätte, verschließe mir Augen, Ohren, Mund? Drücke mich damit auch vor der Verantwortung, die mit der Hellsichtigkeit einhergeht, die Gott ihm schenkt.
Jeremia schaut noch einmal zurück auf seinen mühevollen Weg. Es gelingt ihm, seinen Blick von den schlechten Erfahrungen zu lösen. Als höre er den Wochenspruch aus Jesu Mund: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ Jeremia erkennt, dass ihn seine Fixierung auf die Vergangenheit, auf früher erfahrene Verletzungen lähmt, das Land für die Zukunft zu bestellen. Das Pflügen soll die Erde fruchtbar machen und dazu braucht es gerade Furchen. Solche gelingen nur mit dem Blick nach vorn. Jeremia schafft es weiterzugehen, weil er nicht mehr nur zurück, sondern auch nach oben schaut – zu Gott.
Okuli ist der Name des heutigen Sonntags – entnommen dem Psalm 25. „Meine Augen sehen stets auf den HERRN, denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen“ – aus dem Netz der vergangenen Enttäuschungen. Jeremias eigene Worte lauten: „Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held.“
Fragen heute an uns lauten für mich daher: Lassen wir uns lähmen von Enttäuschungen? Schließen wir die Augen angesichts der Bosheit und Lügen, die sich der Wirklichkeit bemächtigen? Hören wir auf Stimmen die sagen: „Siehst du, bringt doch nichts, sich für andere einzusetzen. Schmeiß dein ehrenamtliches Engagement hin, deine alltägliche Nachbarschaftshilfe, dein freundliches Lächeln für fremde Menschen, dein Mülltrennen, dein Einkauf regionaler und fairer Produkte. Andere tuscheln schon hinter deinem Rücken, du seist ein naiver Weltverbesserer, ein Gutmensch, und wer noch an Gott glaubt, dem traut man auch zu, an den Weihnachtsmann zu glauben.“? So könnte der Spott heute klingen.
Sich auf Gottes Seite stellen, seine Sicht auf diese Welt teilen und anderen näherbringen kann viel Kraft kosten, und spätestens seit Luther wissen wir: Dieser Kraftakt gilt allen Getauften – denn jeder Christ ist ein Priester oder eine Priesterin, die vor den Menschen für Gottes Sache eintreten. Unser Glaube will uns helfen anders zu leben, gemeinsam anders zu leben. Okuli. Unsere Augen schauen auf Gott. Es braucht Widerstandskraft, wer auf Gottes Wegen geht und sich damit dem Anspruch aussetzt, den wir in der Bibel an vielen Stellen, auch bei Jeremia, begegnen. Der und die braucht Gott als Kraftquelle, die hilft, trotz der Enttäuschungen, die nicht ausbleiben werden, auf dem Weg zu bleiben. Das Unheil anzugehen um des Heils willen.
Nun habe ich am Anfang gesagt, niemand könne sich vornehmen, naiv zu sein. Und dann rede ich von der Kanzel so naiv. Jedenfalls würden mir das viele in unserem Land vorwerfen. Sie würden sagen, ich solle doch endlich die Augen öffnen und die verborgenen bösen Mächte nicht leugnen, die die Welt steuern. Die Gefahr sehen, in die wir hineingehen, wenn wir unbekannten Menschen freundlich begegnen. Die Laschheit beklagen, die sie in dem Willen erkennen, Kompromiss über Rechthaberei zu stellen. Denn ich höre, wie viele heimlich reden: „Schrecken ist um und um!“ „Verklagt ihn!“ „Wir wollen ihn verklagen!“ 
Nein, wer gegen das Unheil angeht ist nicht naiv. Er ist ganz nah dran an der Wirklichkeit. Er macht sich nichts vor. Er ist unterwegs im Auftrag des Herrn. Jeremia spricht sich selbst Mut zu: „Der Herr ist bei mir wie ein starker Held.“
Alles nur Tropfen auf den heißen Stein? Ja, vielleicht. Aber wir lassen diese Tropfen nicht abreißen. Solange noch ein Tropfen auf den heißen Stein fällt, gibt es Hoffnung auf Regen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.