Predigt über Hebräer 4,14-16

  • 09.03.2025 , 1. Sonntag der Passionszeit - Invokavit
  • Pfarrer i.R. Christian Wolff

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Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben,
so beginnt - für heutige Ohren mehr als befremdlich – der Predigttext aus dem Hebräerbrief. Hoherpriester – benötigen wir eine solche Figur? Sollten wir nicht – gerade als Protestanten - eine natürliche Skepsis an den Tag legen, wenn sich uns jemand als Hoherpriester, als Messiasgestalt andienen will? Der Papst mag ja noch durchgehen als Hoherpriester. Doch wenn wir an die selbsternannten Hohenpriester dieser Welt denken? An den peinlichen wie hybriden Moment, als sich Donald Trump in seiner Inaugurationsrede am 20. Januar 2025 im Capitol auf dem Hintergrund des auf ihn verübten Attentats im Juli des vergangenen Jahres als ein von Gott geretteter Führer inszenierte:
Ich wurde von Gott gerettet, um Amerika wieder großartig zu machen.
Tatsächlich wird Trump von nicht wenigen evangelikalen Christenmenschen in den USA als Messias, als Heilsbringer angehimmelt, dem man allein deswegen jeden Seitensprung, jeden Ausraster, jede Ruchlosigkeit verzeiht. Brauchen wir solche Hohenpriester? Brauchen wir Influencer:innen, die in Sekundenbruchteilen zu Ikonen im Netz werden und den Menschen virtuelle Scheinwelten als Wirklichkeit verkaufen? 

Mit diesen Fragen sind wir mitten in der Problemlage, auf die auch der Hebräerbrief zu reagieren versuchte. Diese Schrift ist am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt entstanden, also drei Generationen nach Jesus von Nazareth. In ihr werden die aufblühende Kirche, die jungen Gemeinden der Christinnen und Christen in Israel/Palästina, in Griechenland, Italien, Nordafrika als wanderndes Gottesvolk dargestellt - also als Menschengruppen, die – geographisch, ideologisch, politisch – nicht an einen Ort gebunden sind. Vielmehr sind sie ständig im Aufbruch begriffen, lassen sich nicht in ein Glaubenssystem zwängen, sondern verstehen sich als Suchende.

Für die Christengruppen stellte sich die Frage: Woran orientieren wir uns in einer Welt, die voll ist von Heilsangeboten anderer Religionen, von Ideen, Ideologien, von Göttern und Idolen? Wie positionieren wir uns gegenüber dem Glauben, in dessen Tradition wir stehen, von dem wir uns aber auch zunehmend emanzipiert haben – nämlich dem Judentum? Aktuell und auf uns bezogen stellen sich ähnliche Fragen: Wie leben wir unseren Glauben in einer multireligiös und multikulturell gewordenen Gesellschaft – einer Gesellschaft, die sich schwer damit tut, aus ihrer eigenen Tradition heraus eine kulturelle Identität und Kontinuität zu finden, um anderen Religionen und kulturellen Prägungen angstfrei und offen begegnen zu können? Welches sind unsere unaufgebbaren Orientierungspunkte?

Mit diesen Fragen im Hinterkopf hören wir den Predigttext im Zusammenhang:
Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.
Hebräer 4,14-16

Eines ist allen Idolen und Vorbildern, allen weltlichen Hohenpriestern gleich: Aufgrund ihres herausgehobenen Status oder ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten eignen sie sich besonders gut als Projektionsfläche für unsere Träume und Sehnsüchte. In sie hinein können wir all unsere unerfüllten Wünsche legen; aus ihnen heraus können wir unsere Idealwelt entwickeln. Denn in ihnen vermögen wir ein bisschen Himmel auf Erden zu erkennen, Zufluchtsorte aus der Wirklichkeit – und zwar unabhängig davon, dass die irdischen Hohenpriester auch nur mit Wasser kochen. Denken wir an den Hohenpriester Kaiphas und die zwiespältige Rolle, die er in der Leidensgeschichte Jesu spielt. Er wird ja verantwortlich gemacht für die Auslieferung Jesu an die römische Besatzungsmacht, die Jesus das Genick brach.

Doch im Hebräerbrief wird der Begriff „Hoherpriester“ durch einen einzigen Namen neu qualifiziert: Jesus Christus. Er ist es allein,
der die Himmel durchschritten hat,
und dem darum dieses Prädikat „Hoherpriester“ zukommt. Damit ist eben nicht der Vorsteher einer Religionsbehörde, der Anführer eines religiösen Wächterrates oder ein politischer Heilsbringer gemeint. Vielmehr knüpft der Schreiber des Hebräerbriefes an die Figur eines Hohenpriesters an, die im hebräischen Teil unserer Bibel Erwähnung findet: Melchisedek, der König der Gerechtigkeit. Von diesem Melchisedek wird erzählt, dass er einst Abraham auf seinem Weg mit Brot und Wein entgegengekommen ist, den Frieden angeboten und ihn gesegnet hat. (1. Mose 14,17-20).

Doch geht der Hebräerbrief noch ein Stück weiter: Er will uns dazu veranlassen, an dem grundsätzlichen Unterschied zwischen Jesus Christus und uns Menschen, zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und seinen Geschöpfen festzuhalten. Er will Jesus nicht mit unseren Idolen, mit politischen und religiösen Führungspersönlichkeiten auf eine Ebene stellen. Dieses Bekenntnis zur absoluten Differenz sollen, ja dürfen wir niemals aus den Augen verlieren. Denn niemand kann an die Stelle Jesu Christi treten - kein Revolutionär, kein Autokrat, auch kein Papst oder Friedensnobelpreisträger. Mögen all diese Menschen Berührung mit dem Himmel gehabt haben oder haben, mögen sie über religiöse Erfahrungen verfügen, die uns Normalos verschlossen bleiben - sie gehören wie wir alle auch zu denen, die schon einmal, und zwar unsanft, aus allen Wolken gefallen und hart in der Wirklichkeit aufgeschlagen sind, die also auch eine Versagensgeschichte aufzuweisen haben. Jesus aber kam aus dem Himmel, von Gott, auf diese Erde – nicht als gefallener Engel, sondern als Retter, als Heiland, ein Gerechter und ein Helfer, geboren in Krippe und Stall. Und alles, was er verheißen hat, kann durch keine noch so große Niedertracht von uns Menschen zerstört werden.

Was das zu bedeuten hat, erläutert der Hebräerbrief so:
Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
So entrückt uns manch abgehobener Star erscheint, so unnahbar für uns Promis, Könige und Präsidenten sind - Jesus, der alle Himmel durchschritten hat, der der Hohepriester ist, macht keinen großen Bogen um die dunklen Seiten des Lebens. Er wurde allen Menschen zum Bruder, zum Freund, auch denen, die an sich selbst gescheitert sind, und hat sich so allen Versuchlichkeiten ausgesetzt, ohne ihnen zu erliegen.

So betrachtet befremdet der zunächst so religiös-verbrämt daherkommende Abschnitt aus dem Hebräerbrief nur noch bedingt. Denn wir können in ihm eine aufklärende Aktualität entdecken. Wir erleben ja nicht nur, wie sich Menschen an Idolen orientieren, sich ihrer Faszination ausliefern und dabei nicht selten und allzu vertrauensselig ihren Verstand ausschalten. Wir werden auch Zeugen davon, wie aufgeblasen, arrogant sich Menschen gerieren, wenn sie sich wie Hohepriester aufspielen: ob es diejenigen sind, die – wie die kapitalistischen Neu-Götter Elon Musk, Mark Zuckerberg, Jeff Bezos - meinen sich von allen gesellschaftlichen Normen verabschieden zu können; oder jene, die in ihren jeweiligen Himmeln jeden Bezug zur Wirklichkeit, auch zur eigenen, verloren zu haben scheinen, so dass sie gar nicht merken, dass sie in den Himmeln, in denen sie sich wähnen, den gleichen Versuchungen ausgesetzt sind wie auf Erden, und wie schnell sie sich im freien Fall ins Nichts der Wüste befinden. Es ist ja eine besonders bittere Ironie der menschlichen Existenz, dass diejenigen, die sich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung, auch aufgrund ihrer fast hohenpriesterlichen Funktion, allen Versuchungen überlegen fühlen, diesen besonders elendig erliegen können. Man denke nur an die Priester, Pfarrer, Ordensleute und Internatserzieher, die jahrelang ihnen anvertraute Schüler:innen sexuell missbraucht haben und dachten, dass das niemals aufgedeckt wird. Doch damit wird nur eine Schwäche offenbar, die in jedem Menschen wuchert: sich anzumaßen, Hoherpriester zu sein, um über andere Macht ausüben zu können.

Was wir daraus lernen können und müssen: Es gibt für uns Menschen keinen Bereich, auch keine gesellschaftliche Position, die uns vor Anfechtung, vor Versuchung, vor dem, was wir Sünde nennen, bewahren könnte. Zu einer solchen Souveränität ist nur Jesus Christus in der Lage. Er konnte in der Wüste die teuflischen Attacken des Satans abwehren. Die Versuchungsgeschichte haben wir als Evangelium gehört (Matthäus 4,1-11). Sie bildet den Hintergrund der Aussage des Hebräerbriefes, dass Jesus
… versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
Da ist sie wieder: die absolute Differenz zwischen uns Menschen und Jesus Christus. In drei Szenen wird das in der Versuchungsgeschichte eindrücklich geschildert:
•    Jesus hat die Steine nicht in Brot verwandelt, also nicht wie einst Adam in den Apfel gebissen, obwohl er nach 40 Tagen Fasten in der Wüste großen Hunger hatte. Also musste sich Jesus auch nicht wie Adam verstecken, sich aus seiner Verantwortung stehlen (vgl. 1. Mose 3,1-19), sondern konnte dem Teufel widerstehen.
•    Jesus ist nicht das Risiko eingegangen, von der Tempelmauer zu springen - wie einst Eva, die mit vollem Risiko dem verlockenden Angebot der Schlange erlegen ist – und dann aus dem Paradies in die Tiefe des irdischen Daseins gestoßen wurde.
•    Schließlich hat Jesus nicht um den Preis der Unterwerfung das verlockende Angebot des Teufels angenommen, Herrscher einer neuen Weltordnung zu werden.
Stattdessen hat sich Jesus an die Seite der Menschen gestellt, an die Seite der Armen, der Hungrigen, der Benachteiligten, der Kranken, aber auch an die Seite der Korrupten, der Reichen, der Starken und ihnen so zu neuer Würde, zu neuer Freiheit, zu neuen Lebensperspektiven verholfen. Dabei ist Jesus ohne Sünde geblieben – aber nicht in dem Sinn, dass er sich die Finger nicht schmutzig machen wollte, dass er sich aus allem herausgehalten, sich zum unangreifbaren Religionsführer aufgeschwungen hat. Nein, Jesus, der vom Himmel kam, lebte als Mensch unter Menschen, nahm Anteil an der Schwachheit von uns Menschen – und vermochte dennoch in der widersprüchlichen Welt die Konturen der neuen Welt Gottes aufzuzeigen, ohne den Anspruch zu erheben, diese jetzt sofort errichten zu wollen und zu können. 

Das aber hatte Folgen – und diese bedenken wir in der Passionszeit: Jesus weckte Hoffnungen, aber enttäuschte sie auch. Er konnte die Massen begeistern, aber zog gleichzeitig den Volkszorn auf sich. Er führte den Menschen ihre Möglichkeiten vor Augen, setzte Hoffnungskräfte frei - aber zeigte ihnen auch die Grenzen ihres Vermögens und ihrer Verlässlichkeit auf. Das verursachte das Leiden Jesu. Das bekamen die Jünger und besonders Petrus zu spüren: Trotz bester Vorsätze scheiterten sie im Garten Gethesemane, bei der Gefangennahme und während des Prozesses gegen Jesus am eigenen Anspruch – und Jesus hatte ihnen das vorausgesagt. Doch entscheidend ist, dass Jesus in dieser Situation nicht von den Menschen abließ, sondern sich ihren, unseren Widersprüchen auslieferte. Auch als der im Stich Gelassene, auch als der Verratene, auch als der Gekreuzigte bleibt Jesus der Hohepriester, der Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat. Er bleibt der, bei dem alle Widersprüche aufgehoben werden und bei dem wir – trotz unserer Unzulänglichkeit - Rettung erfahren. Davon zeugt der dritte Vers des Predigttextes.
Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

Ehe wir Menschen an unserer Hybris kaputtgehen, die Welt doch selbst retten zu wollen, ehe wir daran zerbrechen, dass all unser Tun und Lassen doch nur zum Scheitern verurteilt ist, und ehe wir uns vor lauter Groll und Verunsicherung in die innere Immigration zurückziehen, sollten wir uns dem dritten Weg zuwenden, den der Hebräerbrief aufzeigt: Wir können uns als Christen, als Gemeinde, als wanderndes Gottesvolk, aufmachen zum „Thron der Gnade“; also dorthin, wo wir Jesus Christus begegnen; dorthin, wo er uns entgegenkommt wie einstmals Melchisedek dem Abraham: uns Frieden verheißt und Segen spendet. Auf diesem Weg werden wir auch an denen vorbeikommen oder von denen begleitet, die aus der Gnade heraus immer wieder Kraft gefunden haben, sich auf dieser Erde um all das zu kümmern, worauf es Jesus Christus ankommt und zu dem er uns beruft: sich dem Nächsten zuzuwenden, den Gestrauchelten aufzurichten, für Gerechtigkeit zu sorgen, mit dem Feind ein friedliches Zusammenleben zu vereinbaren. Dabei entdecken wir nicht selten, dass es sich bei so herausragenden Christenmenschen wie ein Dietrich Bonhoeffer, eine Sophie Scholl, ein Nelson Mandela, aber auch bei den vielen, vielen Menschen, die sich als Mitglieder der christlichen Gemeinden tagtäglich um Obdachlose, Gestrauchelte, Geflüchtete kümmern, nicht um Held:innen handelt, sondern auch um oft einsame, in sich zerrissene, verzagte und verunsicherte Persönlichkeiten – der Sünde ausgeliefert. Aber in einem waren und sind sie gewiss und ziehen daraus ihre Zuversicht, Kraft und Orientierung: In Jesus Christus finden wir Barmherzigkeit und Gnade. Das unterscheidet sie dann von denen, die voller zynischer Selbstbezogenheit im Zweifelsfall die Grundüberzeugungen Jesu schleifen. Eine solche Gewissheit haben wir gerade in Zeiten nötig, da zu viele Menschen allzu anfällig geworden sind für die Verlockungen der säkularen Hohenpriester. Daraus erwächst die gegenwärtige Gefahr, den ideologischen Scharlatanen insbesondere aus dem Lager rechter Menschenverfeindungsstrategen die Einfallstore weit zu öffnen.

Darum lasst uns immer wieder an den „Thron der Gnade“, an den Tisch des Herrn, treten, damit wir empfangen, was uns niemand geben kann als Jesus Christus allein und was uns niemand nehmen kann: Brot und Wein, die Zeichen des Friedens, welcher höher ist als alle Vernunft; der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Christian Wolff, Pfarrer i.R.
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