Predigt über Hebräer 4,14-16

  • 18.02.2024 , 1. Sonntag der Passionszeit - Invokavit
  • The Reverend Dr. Robert Moore

Predigt zu Sonntag Invokavit

18. Februar 2024

Thomaskirche zu Leipzig

The Rev. Robert G. Moore, Ph.D.

ELCA Gastpfarrer

Predigttext: Hebräer 4,14-16

 

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

Am Aschermittwoch hat die Fastenzeit begonnen. Jedes Jahr frage ich mich, worauf ich verzichten sollte. Es fällt mir nie leicht, zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Ich könnte, zum Beispiel, auf Schokolade verzichten; aber davon bin ich nicht abhängig. Vor 25 Jahren hatte ich entschieden, in der Fastenzeit keinen Wein mehr zu trinken; aber nach einigen Wochen ist es mir aufgefallen, dass ich umso mehr Bier konsumierte. Irgendwie spürte ich: So wird die Fastenzeit trivialisiert. Also habe ich in den vergangenen Jahren auf das Fasten verzichtet.

Meine persönliche Geschichte ging weiter, als sich mir allerdings vorgenommen habe, ganz auf Alkohol zu verzichten – also kein Bier, keinen Wein! Es hat sich gut begonnen. Aber wenn ich ehrlich bin – und die selbstkritische Prüfung gehört auch zur Fastenzeit - muss ich zugeben: Ich habe auf Alkohol verzichtet, weil ich abnehmen wollte! Was für eine Eitelkeit: Als Christen sollen wir gerade in der Fastenzeit Buße tun und umkehren zu Gott, aber ich bin in mir selbst gefangen und habe nur mich selbst im Blick.

Darum gilt es zu unterscheiden zwischen der Trivialisierung der Sünde, wie im bekannten Schlager „Kann denn Liebe Sünde sein“ und dem wahren Sinn dessen, was wir Sünde nennen. Wir Menschen neigen dazu, die Sünden auf uns selbst zu beziehen. Wir wollen selbst bestimmen, was Sünde ist und was nicht. So versuchen wir unsere individuellen Taten oder Versäumnissen oder das Handeln von anderen zu beurteilen: Haben wir richtig gehandelt? Haben wir etwas Verbotenes vermieden? Wir führen innerlich unsere Listen und versehen die Taten mit Plus oder Minus. Sünde wird hier eher quantitativ als qualitativ verstanden. Das aber ist sehr selbstbezogen. Alles dient nur unserem eigenen Nutzen.

Hier liegt eine große Versuchung. Wir Menschen erfahren die Versuchung im Leben nicht in unseren Schwachheiten, z.B. im Konsum von Süßigkeiten, Alkohol, Essen, Internet. Vielmehr sind unsere Stärken der Ort der Versuchung. Wir bilden uns ein, dass wir uns mit unserer eigenen Kraft aus unserer Selbstbezogenheit erretten können, uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Überheblichkeit ziehen können. Doch tragischerweise versinken wir mit jeder Bestrebung, diese Befreiung zu erreichen, tiefer in uns Selbst. Auf dieses Selbst aber gilt es zu verzichten.

Ich möchte Euch eine Geschichte von einem „guten Jungen“ erzählen, der in einer großen Familie aufwuchs. Der Junge wollte besser sein als seine Geschwister. Er wollte die Liebe seiner Mutter gewinnen und sie an sich binden. Um das zu erreichen, tat er alles, um ihre Gunst und Zuwendung zu bekommen und damit seine Geschwister auszustechen. Bald fingen seine Bemühungen an, Früchte zu tragen – sein Plan ging so gut auf, dass er sogar den anderen erklären wollte, wie man der Mutter am besten gefällt.

Doch eines Tages musste der gute Junge erkennen, dass alle seine Bemühungen, der Mutter zu gefallen und ihre Liebe zu gewinnen, sich als ein endloser Kreislauf erwiesen. Er hat versucht zu verdienen, was nicht verdient werden kann.

Dann geschah, was geschehen musste. Sein ganzes Spiel zerplatzte wie eine Seifenblase. Er fand sich in einem Labyrinth eigener Bemühungen wieder, aus dem er sich selbst nicht befreien konnte. Es wurde ihm klar, dass er die bedingungslose Liebe seiner Mutter niemals durch seine eigene Taten erzwingen kann.

Auf die Selbsteinsicht folgte zunächst die Resignation. Der Junge zog sich in die Ecke seines Zimmers zurück und weinte sich in den Schlaf - ohne jede Hoffnung, jemals in einer Welt wieder aufzuwachen, in der seine Eltern, Geschwister und Freunde ihn lieben werden. Wie aber wird er sich aus dieser Situation, die er ja selber geschaffen hatte, befreien können? Wird ihn jemand befreien - eine Freundin, ein Lehrer, ein Seelsorger?

In der Geschichte vom „guten Jungen“ werden sich etliche unter uns wiedererkennen können. Es ist die Geschichte, die uns zeigt, in welche Sackgassen wir geraten, wenn wir versuchen, unser Leben dadurch selbst zu rechtfertigen, dass wir besser, erfolgreicher, anständiger sind als alle anderen.

Die Geschichte vom Jungen, der besonders gut sein wollte, spielt sich auch in der großen Politik ab. Wenn Menschen sich anmaßen, dass alles von ihnen abhängt. Wenn sie Staatsformen allein auf ihre Person zurechtschneidern oder wenn sie narzisstisch auftreten und ihr Ego über die Menschen und damit über Gott stellen. Eine solche krankhafte Selbstbezogenheit ist gefährlich. Aus ihr gibt es eigentlich nur einen Ausweg: sich bewusst zu machen, dass jeder Mensch sein Leben vor Gott zu verantworten hat und vor und nur durch ihn Rechtfertigung erfährt.

Genau diesen Weg hat Martin Luther aufgezeigt. Luther kritisierte das mittelalterliche kirchliche System, das aus den menschlichen Sünden ein Geschäftsmodell entwickelte. Die Kirche hielt den Zuspruch des Glaubens, dass jede Sünde vergeben werden kann, als Trumpf in der Hand: Sie wollte bestimmen, wem Gnade widerfährt und wem nicht. Nur der Priester durfte die Absolution erteilen. So wurde das Leben der Gläubigen wie ein Kontoblatt geführt, mit einer Haben- und einer Sollseite. Danach wurde der Wert eines Menschen bemessen. Doch damit wurde die Rede von Sünde und Vergebung zu einem Machtinstrument der Kirche.

Luther wuchs zunächst in diesem System auf. Als junger Mann hat er versucht, seine Sünden zu reduzieren, die Habenseite auf dem Kontoblatt zu füllen, um so zu einer positiven Bilanz zu kommen. Luthers Beichtvater, Johann von Staupitz der Generalvikar der Augustinereremiten, lehrte aber den jungen Mann Luther, dass Sünde kein Buchhaltungsposten ist, sondern eine Beziehungsproblem signalisiert: Der Mensch lebt in und von der Beziehung zu Gott. Diese Beziehung nennen wir Vertrauen, Glauben. Sie ist zuerst eine Gabe Gottes, das heißt: Gott schenkt uns seine Gnade. Alles andere folgt daraus.

Darum lehrte Luther, dass die Sünde nicht aus den einzelnen Verfehlungen des Menschen besteht. Vielmehr sind die Sünden Folge eines großen Versäumnis, dass wir nicht glauben, nicht vertrauen. Was also ist die Sünde? Es ist das Gegenteil von Vertrauen, von Glauben an Gott. Nicht was wir tun, sondern wer wir sind, hat die Priorität. Luther verstand die Sünde als die gebrochene Beziehung zwischen Gott, dem Schöpfer, und dem Menschen, das Geschöpf. Luther sah den sündigen Menschen als das Geschöpf Gottes, das seinem Schöpfer den Rücken zukehrt und nur sich selbst sieht.

Wenn wir Sünde so verstehen, eben als eine gebrochene Beziehung zwischen Gott und Mensch, dann folgt daraus, dass nicht wir die zerstörte Beziehung reparieren, erneuern können. Wir brauchen einen Vermittler. Diesen beschreibt der Predigttext aus Hebräerbrief im 4. Kapitel:

14 Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. 15 Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. 16 Darum lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit. (Hebräer 4.14-16)

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Der Autor des Hebräerbriefes versteht Jesus Christus als die Instanz, die zwischen Gott und dem Menschen steht und damit den tiefen Graben überbrückt. Das entspricht auch der Grundaussage des Evangeliums für diesen Sonntag, der Versuchungsgeschichte. Dort leidet Jesus unter Hunger und Durst wie alle Menschen. In dieser Schwäche trat der Teufel auf, um Jesus anzugreifen.

Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. (Matthäus 4,3)

Jesus lässt sich aber nicht auf die Ebene der Macht ziehen, auf der der Teufel agiert. Er nutzt nicht seine Möglichkeiten aus, um dem Ansinnen des Teufels zu folgen. Jesus wendet sich Gott zu – mehr noch: Er beschränkt sich auf Gottes Wort:

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.

Damit hat sich Jesus nicht auf seine Kraft verlassen, sondern er hat sich auf Gottes Wort eingelassen und damit ganz und gar Gott vertraut. Genau das zeigt sich auch bei den beiden anderen Versuchungen, in die der Teufel Jesus führt. Immer antwortet Jesus mit dem Wort Gottes. Dieses Vertrauen auf Gott zeigt den Weg zu Leben. Mit ihm können nicht nur Hunger und Durst überwunden werden. Mit ihm können wir der Versuchung widerstehen, uns über Gott zu stellen. Die Bahn, die Jesus durch sein Leiden (Versuchung!), Tod und Auferstehen bricht, ist der Weg, der uns aus der Gefangenschaft der Selbstbezogenheit befreit. So können wir im Vertrauen auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes auf das verzichten, was uns selbst und unserem Nächsten schadet, aber auch auf das, was unserem Nächsten hilft - ohne uns in Selbstsucht und Eigennutz zu verrennen.

So lasst uns diese Fastenzeit nutzen, um uns neu der Gnade Gottes zuzuwenden, also „freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit.“ Dann werden wir das Wesentliche vom Trivialen unterscheiden können. Denn die Fastenzeit ist keine Abspeckkur. Sie bietet vielmehr die Chance, unsere Beziehung zu Gott zu überprüfen und uns seine Gnade gefallen zu lassen. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen