Predigt über Hebräer 12, 1-3

  • 09.04.2017 , 6. Sonntag der Passionszeit - Palmarum
  • Vikarin Dr. Teresa Tenbergen

I Anführer
Er hatte einigen Staub aufgewirbelt. Natürlich, Wanderprediger auf trockenem Boden wirbelten für gewöhnlich Staub auf. Aber dieser war anders. Er hatte Umkehr gepredigt. Und Liebe. Er hatte sich zur Stimme der Stummen gemacht. Er war radikal und scharfzüngig. Und sanft und vergebend. Er hatte von Gott erzählt wie es nur einer kann, der ihn wirklich kennt. Und dann war er in Jerusalem eingezogen. Auf einem Esel. Am Wegesrand ein Spalier aus Menschen. Manche neugierig, manche aus Gewohnheit da, manche mit echter Hoffnung. Die Zeiten waren schließlich unruhig. Das Land besetzt, die Machtkämpfe offen. Was, wenn er tatsächlich der Eine wäre? Der Anführer. Der, der die Verhältnisse verändern würde. Der, in dem sich alle Sehnsucht erfüllte. Also warfen sie ihm ihre Mäntel hin und die Zweige ihrer Hoffnung und ließen ihn passieren. Und die Rufe ihrer Erwartung versuchten ihn einzufangen: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna!" Es währte nicht lange. Denn er durchbrach das Spalier der Erwartungen. Er lebte das erste Gebot bis in die letzte Konsequenz: „Macht euch kein Bild von Gott. Er ist doch ganz anders." Der Mann auf dem Esel ließ sich nicht zum König und nicht zum Heerführer machen. Er überließ sich den Mechanismen der Macht. Er ließ zu, dass aus den Hosianna-Rufen solche wurden, die seinen Tod forderten. Er ließ sein Gesicht in den Staub pressen, den er aufgewirbelt hatte. Er sah, wie sich die enttäuschten Gesichter von ihm abwandten. Er sah das Erstarren in den Augen derer, die ihm gefolgt waren. Er starb. Elend langsam. Er riss alle Projektionen mit in den Abgrund seines Todes. Und danach kam die große Stille. Das Licht des Ostermorgens. Und ein neue Spur auf den von Tränen benetzten Wegen Gottes. Weniger deutlich zu erkennen. Der Staub blieb aufgewirbelt.
Aber es gab die, die sich in Bewegung setzten. Die, die seinem Weg folgten und seine Spuren suchten, als längst kein Esel ihn mehr durch die Straßen trug. Er war doch ein Anführer geworden. Das Rad der Geschichte drehte sich weiter. Und sie folgten ihm nach und suchten nach seinen Spuren in der Wolke aus Staub.
Aus jenen, die ihm nachgingen, als er noch predigte, ist ein ganzer Zug der Menschheit geworden. Die Geschichte des Christentums ist ein Weg durch die Jahrhunderte, voller Irrungen und Wirrungen, voller Hoffnungen, voller Glaube und Hingabe, voll des Leids und der Freude. Eine Suche nach Wahrheit. Der Weg nach Jesus, der Weg Jesus nach.

II Die Wolke
Jahrzehnte nach Jesu Tod schrieb einer einen Brief. Es ist nicht genau zu rekonstruieren, wer dieser Verfasser war und an welche Gemeinde genau sich seine eindringlichen Worte richteten. Ganz sicher aber sind die Adressaten Menschen, die den Spuren jenes Wanderpredigers zu folgen versuchten. Ich lese aus dem 12. Kapitel des Hebräerbriefes: „Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns umstrickt. Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, dass ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst."
Jesus hatte einigen Staub aufgewirbelt. Durch sein Leben und durch sein Sterben. Die Menschen, die ihm folgten, haben sich damit immer wieder auseinandersetzen müssen. Und die Frage, wer der war und ist, an den sie glauben und wohin es führt, ihm nachzugehen, stellte sich von Anfang an. Für das Unterwegssein der Nachfolge verweist der Verfasser des Hebräerbriefs auf die „Wolke der Zeugen". Auf all die, die den Weg des Glaubens schon gegangen waren. Auf die, die ihn noch gehen würden. Und auf die, die gerade jetzt zur Gemeinschaft derer gehören, die die Spuren des Auferstandenen im Staub der Gegenwart suchen. Er greift dabei ein schönes Bild auf. Im Griechischen steht die Wolke für die Fülle, das Überfließende, einen ganzen Schwarm von Menschen. Aber auch das meteorologische Gebilde hat Eigenschaften, die der Bedeutung der Glaubenden vor, nach und neben uns entsprechen: Wolken sind nicht statisch, sie verändern sich permanent, sie sehen an unterschiedlichen Orten unterschiedlich aus. Wolken verdunkeln bisweilen, spenden aber auch Schatten. Bringen erfrischenden oder zerstörenden Regen. Und sie bestehen aus vielen einzelnen Tropfen. Oder Sandkörnern. In der Wolke der Zeugen, die dahinzieht durch die Geschichte und in der Gegenwart des Christentums, sehe ich Menschen, die mich beeindrucken und solche, die mich abstoßen. Durch alle Jahrhunderte. Bis in die Gegenwart. Berühmte und namenlose Menschen. Menschen in ihren Zweifeln. In ihrem Glauben. In ihrer Tat für Andere. Menschen auf Abwegen. Menschen, die lieben. Menschen in ihren Kämpfen.

III Kampf
„Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens".
Als der Morgen über Flossenbürg graute an jenem 9. April 1945, führte man ihn seinem Schicksal entgegen. Schon viele Monate hatte er in Haft verbracht. Es hatte nicht lange gedauert, bis die Spuren nach dem gescheiterten Attentatsversuch auf Hitler auch zu ihm führten. Er hatte dem Unrecht nicht tatenlos zusehen können. Er hatte handeln, predigen, Widerstand leisten müssen. Seine Schriften waren von großer Klarheit. Seine Ethik bestechend. Seine Worte ein Trost für viele, bis heute. Von guten Mächten sah er sich geborgen, trotz allem. An jenem Morgen endete sein Kampf, als die SS ihn aus seiner Zelle holte. Bonhoeffer, Dietrich stand auf seiner Akte.

„Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens."
Die junge Frau strich sich nervös die Haare aus dem Gesicht. Wenn sie jetzt einer anhalten würde und fragte, wo sie hinwolle? Würde sie dann sagen, dass sie zum Friedensgebet unterwegs sei? Sie wollte sich nicht unnötig in Gefahr bringen. Zuhause waren die Kinder. Beim Abschied hatte sie schlimmes Herzklopfen gehabt. Man wusste nicht, wie dieser Abend ausginge. Würde es Verhaftungen geben wie in Dresden vor ein paar Tagen? Sie hatte Angst, aber sie war auch getragen von einer tiefen Überzeugung, das Richtige zu tun. Als sie die Kirche betrat, wurde sie ruhiger. Und ganz laut sang sie mit. „We shall overcome, some day." Nicht ein Stein flog an diesem Abend. Nicht einer.

„Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens."
Sein Chef hatte ihn gebeten, die Buchstaben von der Haustür zu schrubben. „Volksverräter" war drangeschmiert worden. Bis zum „S" war er schon gekommen. „Verräter" stand jetzt noch da. Wer verriet hier eigentlich wen, fragte er sich. Sein Chef das Volk, weil er den beiden Syrern Asyl gewährt hatte in der Kirche? Das Volk seine Werte, die es doch eigentlich hochhalten wollte? Oder er seinen Chef, weil ihm die Kirche egal geworden war? Er schrubbte und das Rot der Farbe tropfte von seinen Fingern.

IV Blicke
Nicht alle Kirchen sind an diesem Sonntag so gut gefüllt wie unsere. (Und glauben Sie mir, Sie sind ein herrlicher Wolken-Anblick von hier!). Der Lauf im Glauben behält seine Herausforderungen. Sie heißen heute nicht mehr politische Repression oder Verfolgung. Zumindest nicht für uns Christinnen und Christen hier in Mitteleuropa. Sie heißen aber vielleicht Strukturanpassung, Beliebigkeit, Populismus. Sie bestehen vielleicht in einer schweren Diagnose, in zerbrochenen Hoffnungen, in der Angst vor dem Morgen. Die Kämpfe, die jeder und jede von uns austrägt, fordern mitunter genau die Geduld, die der Verfasser des Hebräerbriefs bewarb. Und sie erfordern - damals wie heute - zwei Blickrichtungen: Den Blick nach oben, weg von sich selbst und hin zu Jesus, der den widerständigsten aller Wege schon gegangen ist. Und - nicht minder wichtig - den Blick rundum in die Gemeinschaft der Glaubenden, die da war und die da ist.
Mut habe ich nötig. Denn auch an diesem Palmsonntag reicht es nicht, Spalier zu stehen. Der dereinst den Staub aufwirbelte mit seinem Leben und Sterben, der zieht mich mit hinein in seine Geschichte. In die Tiefe dessen, was wirklich Leben ist. Leicht ist das nicht. Mut habe ich nötig für diesen Lauf. Gutes Schuhwerk. Und ein paar grüne Zweige der Hoffnung vielleicht auch. Aber geduldig ist sein Blick, als er mir zuruft: „Sieh dich um. Draußen wird der Marathon gelaufen. Geh und lauf den deinen. Und du kannst gut und gerne ein bisschen Staub aufwirbeln dabei."

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.

Vikarin Teresa Tenbergen (teresa.tenbergen@web.de)