Predigt über Galater 2,11-21

  • 12.08.2018 , 11. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrerin Taddiken

11. Sonntag nach Trinitatis, 12. August 2018

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
haben wir es dem Sommerloch zu verdanken, dass über eine einjährige Dienstpflicht für junge Leute diskutiert bzw. eher von einigen laut nachgedacht wird? Da beschwören einige die grandiose Wirkung eines Anti-Egoismus-Jahres, und weil man manche Menschen eben zum Jagen tragen muss, ginge das nur durch Pflicht. Nur dann würden viele sich mal in einem völlig anderen Bereich umgucken und etwas von dem wahrnehmen, was sich im Bereich von Pflege und Sozialwesen abspielt. Ein solches Jahr quasi als Gegenkraft gegen das, was der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa als eigentümliche Grundkraft der Moderne beschrieben hat: Eine „stumme normative Gewalt der Beschleunigung", die Unruhe und seelisches Seitenstechen kollektiv anwachsen und viele Zeitgenossen unter dem ökonomistischen Diktat der Fristen und Deadlines immer hektischer durch immer kleinere Zeitfenster krabbeln lässt. Hecheln als Grundpuls des modernen Menschen, der auch die G8-Generation der Abiturienten längst ergriffen hat, die nach dem Abitur meistens nicht sagen: Endlich geht es los, sondern von Punkt- und Prüfungsmarathon erschöpft erst dann fragen: Wo geht es jetzt hin? Andere versprechen sich durch das Dienstjahr zumindest Linderung im Pflegenotstand, wieder andere heben genau da die Arme: Um der Beschäftigten und der zu Pflegenden willen - bloß keine unlustigen und unmotivierten Zwangsrekrutierten in diesem Bereich, das braucht kein Mensch und verfassungsrechtlich ist all das obendrein im Moment schwer bis gar nicht zu begründen ob der fehlenden äußeren Bedrohung. Noch wieder andere meinen, solch ein Dienst würde den Zusammenhalt in Gesellschaft fördern, er führe zu mehr gelebter Verbundenheit mit der Gesellschaft, und für manche gar „mit unserem Land" - woraus auch immer sich das plötzlich unter Verpflichtung innerhalb von 12 Monaten entwickeln soll wenn es vorher nicht da war.

Ob man sich an diesem lauten Denken nun beteiligt oder nicht - bei all dem sind wir letztlich an einem Punkt, der die Christenheit seit 2000 Jahren bewegt. Beziehungsweise steht eigentlich ein ganzer Fragenkanon dahinter: In wie weit können Gesetze oder auch Zwänge Menschen besser machen bzw. sozialer, mitfühlender, barmherziger? In welchem Verhältnis stehen Gesetz und Freiheit des Einzelnen zueinander? Und wie verhält sich seine persönliche Freiheit zu den Erfordernissen der Institutionen, in denen wir nun einmal leben? Was heißt „Freiheit" eigentlich - und was zieht sie nach sich, was fordert sie uns ab, wo liegen ihre Grenzen - wenn sie denn welche hat? Dieser Fragenkanon hat schon die frühe Kirche bewegt und letztlich Jesus auch. Und unser heutiger Predigttext ist trotz des vielleicht abständigen zugrundeliegenden Problems an all diesen Fragen dran, die auch uns ja nicht nur im Sommerloch bewegen, sondern stets und ständig. Es ist ein Abschnitt aus dem Galaterbrief an eine Gemeinde im Gebiet heutiger Türkei. Der Hauptstreitpunkt damals war, inwieweit christliche Gemeinden noch nach den Regeln und Gesetzen des Judentums zu leben haben bzw. wie weit sie sich den Lebensformen ihrer Umwelt anpassen sollten. Wie wir hören, hat das zwischen Petrus und Paulus zum Zerwürfnis geführt:

11 Als Petrus später in Antiochia war, stellte ich ihn öffentlich zur Rede, weil sein Verhalten unentschuldbar war. 12 Zuerst nämlich nahm er zusammen mit den nichtjüdischen Brüdern und Schwestern an den gemeinsamen Mahlzeiten teil. Aber dann kamen Leute aus dem Kreis um Jakobus, die das jüdische Gesetz streng befolgen. Da zog sich Petrus von den gemeinsamen Mahlzeiten zurück und aß aus Furcht vor ihnen nicht mehr mit den Nichtjuden. 13 Auch die anderen Juden in der Gemeinde blieben gegen ihre Überzeugung den gemeinsamen Mahlzeiten fern, sodass sogar Barnabas angesteckt wurde und genau wie sie seine Überzeugung verleugnete. 14 Als ich sah, dass sie damit die Wahrheit der Guten Nachricht preisgaben, sagte ich zu Petrus vor der ganzen Gemeinde: »Obwohl du ein Jude bist, hast du bisher die Vorschriften des jüdischen Gesetzes nicht beachtet und hast wie ein Nichtjude gelebt. Warum zwingst du dann jetzt durch dein Verhalten die nichtjüdischen Brüder und Schwestern, so wie Juden nach den Vorschriften des Gesetzes zu leben?«

15 Es stimmt, wir sind von Geburt Juden und nicht Sünder wie die Angehörigen der anderen Völker. 16 Aber wir wissen, dass kein Mensch deshalb vor Gott als gerecht bestehen kann, weil er das Gesetz befolgt. Nur die finden bei Gott Anerkennung, die in vertrauendem Glauben annehmen, was Gott durch Jesus Christus für uns getan hat. Deshalb haben auch wir unser Vertrauen auf Jesus Christus gesetzt, um durch das Vertrauen auf ihn bei Gott Anerkennung zu finden und nicht durch Erfüllung des Gesetzes; denn mit Taten, wie sie das Gesetz verlangt, kann kein Mensch vor Gott bestehen. 17 Auch wir als Juden suchen also durch Christus vor dem Urteil Gottes zu bestehen, und damit geben wir zu, dass wir genauso Sünder sind wie die Menschen der anderen Völker. Soll das heißen, dass es nicht mehr auf gut und böse ankommt und demnach Christus der Sünde Vorschub leistet? Auf keinen Fall! 18 Vielmehr mache ich mich selbst zum Sünder, nämlich zum Übertreter des Gesetzes, wenn ich durch mein Verhalten das Gesetz zuerst für ungültig erkläre und es dann doch wieder in Geltung setze. 19 Das Gesetz hat nichts mehr von mir zu fordern: Es hat mir den Tod gebracht, deshalb bin ich für das Gesetz tot und lebe jetzt für Gott. Weil ich aber mit Christus am Kreuz gestorben bin, 20 lebe in Wirklichkeit nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Das Leben, das ich jetzt noch in diesem vergänglichen Körper lebe, lebe ich im Vertrauen auf den Sohn Gottes, der mir seine Liebe erwiesen und sein Leben für mich gegeben hat. 21 Ich weise die Gnade Gottes nicht zurück. Wenn wir vor Gott damit bestehen könnten, dass wir das Gesetz erfüllen, dann wäre ja Christus vergeblich gestorben.

Wie sind diese kritischen Töne gegenüber Petrus und dem alttestamentlichen Gesetz zu verstehen? Zunächst fällt auf: Bei aller Kritik redet Paulus nicht der Gesetzlosigkeit das Wort: Das sei ferne, dass es auf Gut und Böse nicht mehr ankommt. Dass das Gesetz notwendig ist, um Chaos zu vermeiden, in dem am Ende alles untergeht, bestreitet er nicht. Die Gefahr, die Paulus sieht, ist vielmehr diese: Dass Gemeinden eine Art „Glaubenssicherheit" in Gesetzen suchen, die ihnen vertraut waren. Und dass sie am Ende doch wichtiger werden als das, was Jesus selbst im Umgang mit diesen Gesetzen vorgelebt hat. Sprich: Es geht weniger um das Gesetz an sich als um eine Gesetzlichkeit, die den Glauben einengt - aber auch jede Form von Leben. Das geht schnell, denn bei aller notwendigen Regelung, um die äußere Ordnung aufrechtzuhalten, hat jedes Gesetz auch immer etwas Einengendes, das sich bei gesetzlicher Anwendung erheblich verstärkt. Wer einmal in das Bürokratiedickicht einer städtischen Verwaltung gerät (auch kirchliche sind da oft nicht besser), der trifft manchmal vor allem auf Leute, die gerade nicht zuständig sind. Sie sind es aber meistens deshalb nicht, weil sie vor lauter Unsicherheit, einem sich immer mehr ausdifferenzierenden Gesetz nicht zu genügen, lieber erst mal gar nichts tun. Sobald diese Einzelheiten sich vor den Überblick über die Gesamtsituation legen, geht in der Regel nichts mehr voran. Und wo Angst regiert, leidet auch der Wille, etwas voranzubringen. Da wird das große Ganze nicht mehr betrachtet, alles hängt von Kleinigkeiten ab. Und es hat schon etwas Absurdes, wie wir gerade darauf als Menschen gern reagieren: Mit noch mehr Gesetzen, die dann aber doch endlich alles unhinterfragbar regeln. Und im gleichen Moment stöhnen wir darüber. Wir wissen, dass das eigentlich nicht funktioniert, tun es aber trotzdem und sind darüber hinaus sogar geneigt, gut und schlecht danach einzuteilen: Wer sich ans Gesetz hält ist gut, wer nicht, ist schlecht. Gerade da macht Paulus hier im Galaterbrief deutlich: Mit dieser Form von Gesetzlichkeit, mit der wir denken, gut zu sein, konterkarieren wir das, worum es im Glauben an das Evangelium von Jesus Christus eigentlich geht: Dass wir in uns walten lassen, was diesen Jesus Christus bewegt hat und wie wir dessen Haltung zur Gewichtung bzw. Reihenfolge von Gesetz und Freiheit verinnerlichen können. Ihm ist es laut dem Zeugnis der Evangelien immer darum gegangen, solch eine Form von Gesetzlichkeit zu überwinden - bzw. das, was wir zu Gesetzmäßigkeiten gemacht haben. Deswegen geht er zu den Zöllnern und Sündern, zu den Huren, zu den Abgewrackten, zu all denen, denen man allenfalls auf Abstand begegnete. Zu Leuten, bei denen klar war und denen auch selbst klar war: Ich kann es nicht aus eigener Kraft schaffen, gut zu sein, bzw. den Ansprüchen des allgemeinen Moralempfindens zu genügen. Deswegen auch die Wunder Jesu als Zeichen dafür, dass Gott sich nicht an die von uns aufgerichteten Gesetzmäßigkeiten hält, wenn es um die Rettung von Menschen geht. Deswegen der gleiche Lohn auch für die Arbeiter im Weinberg, die nur eine Stunde in der Hitze geschafft haben statt den ganzen Tag. An ihnen wird besonders deutlich wie es bei Gott in Bezug auf uns alle läuft: Er macht den ersten Schritt auf uns zu. Seine Gnade, seine Barmherzigkeit, die uns heilt, die uns verändert, die uns wieder zu Sehenden macht, zu Gehenden, zu Nachfolgenden, zu Liebenden. So herum läuft es doch bei Jesus. Erst die Ermutigung zum Leben, die Zusage: So wie Du bist, bist Du schon geliebt - und nicht erst als die Person, die Du vielleicht gern wärst. Es ist jetzt schon so weit. Daraus folgt dann der zweite Schritt: dass ich mich aus Vertrauen zu ihm versuche, an die Gebote bzw. das Gesetz zu halten. Einer der Kernsätze in der Lehre Jesu ist das Doppelgebot der Liebe: Gott lieben und seinen Nächsten wie sich selbst. Das steht allem voran! Daran sind alle einzelnen Gebote und Gesetze zu messen, ob sie dem gerecht werden und ob sie darauf abzielen. So ist der Sabbat um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Das Gebot zur Aufrechterhaltung der Kraft von Gott, Mensch und Tier wird konterkariert, wo es der Rettung von Leben im Weg steht. Andererseits gilt aber auch das, was Jesus in der Bergpredigt sagt: Kein Jota des Gesetzes soll vergehen oder weggenommen werden. Was uns heilig ist, will ernstgenommen werden. Aus der Erfahrung, frei zu sein, folgt gerade kein Larifari und ich mache nur noch, was ich will - sondern es folgt daraus die freie Entscheidung zum Guten.

Wie gesagt, zumindest, es zu probieren. Den Reformatoren war es an der Stelle ganz wichtig zu betonen: Selbst wenn Du das versuchst, wirst Du immer wieder erleben: An diesem Vorhaben scheiterst Du. Es wird Dir nie gelingen, die Gesetze und Gebote zu halten. Denn auch das ist ihre Aufgabe: Dem Menschen zu zeigen, dass er genau das aus eigener Kraft nicht schafft. Das hat nichts mit Demütigung zu tun, sondern mit dem Mut, sich zu dem zu bekennen, was wir sind. Es hat schon etwas Tröstliches und zutiefst von Menschenkenntnis Geprägtes, dass auch viele der biblischen Gestalten daran scheitern. So wie König David, seine Sündenfallgeschichte, wenn man so will, haben wir gehört. Oder eben auch jemand wie Petrus, der letztlich an nichts anderem scheitert als an dem, was die Freiheit einem abfordert: Sich seine Gesetzlichkeit abzugewöhnen - oder sie, wenn einem das nicht gelingt, sie zumindest nicht einem anderen überzuhelfen. Darum geht es Paulus in seiner Kritik an Petrus. Darum, frei zu werden von dem Zwang, immer das Richtige tun zu müssen. Bzw. sich nicht von den ganzen Richtigkeitsfanatikern herunter ziehen zu lassen, von denen, die die guten Gebote auf gesetzliche Art und Weise verengen. Heutzutage hat sich das Problem längst aus der Kirche herausverlagert in die Ersatzreligion der Ratgeberliteratur. Wie kann ich noch gesünder oder veganischer leben oder als veganischster von allen - um ja keiner von denen zu sein, die so wahnsinnig sind, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen, weil sie Fleisch essen oder Eier. Das soll kein Veganer-Bashing sein, sondern nur ein modernes Beispiel von Zöllner und Sünder im Tempel. Die Neigung zur Gesetzlichkeit ist genauso weit dort verbreitet, wo kein Gott ist, geglaubt oder gebraucht wird - es lebt ein Petrus in uns allen.

So ergibt sich auch für die Sommerloch-Frage (oder ist sie es nicht?) des gesetzlichen Pflichtjahrs die Frage: Kommen wir nicht viel weiter damit, Menschen zu motivieren, etwas freiwillig zu tun und sich dafür zu entscheiden? Dass man sie dabei begleitet statt sie zwangszubeglücken mit einem Eingriff in ihre Freiheit nach dem Motto: „Du hast Deinem Land auch gefälligst etwas zurückzugeben"? Wenn ich Paulus in diesem Brief an die Galater und auch sonst richtig verstehe, dann geht es so herum: Auf die Überzeugung folgt die Tat. Aus dem, was Jesus Christus in mir angeregt und was er in mir zum Leben erweckt hat. Dass es das ist, was einen beflügelt. Vielleicht - nein bestimmt - gibt es das auch auf sehr säkularisierte Art. Für uns Christen ist der Urheber an der Stelle klar. Und das gilt nach Paulus für alle Bereiche unseres Lebens, für das große Ganze. Wer aus diesem Geist Jesu lebt, der wird sich wahrscheinlich bei seinen Gesetzlichkeitsrückfällen selbst ertappen. Der mag selbstkritischer werden und es auch besser abkönnen, wenn jemand in Anwendung seiner Freiheit im Glauben zu anderen Ansichten und Konsequenzen kommt. Der muss nicht, wie der Pharisäer im Tempel davon leben, dass er andere abwertet und daraus selbst Bestätigung zieht. Eine solche Gelassenheit, die aus Freiheit kommt und sich auch auswirkt zum Wohle aller - die kann kein Gesetzgeber anstoßen geschweige denn bewirken. So gilt es wohl, eine weitere Diskussion in diesem heißen Sommer zu eröffnen: Die über das, was uns frei und getrost werden lässt. Getrost bzw. getröstet darüber, in welchem Zustand ich mich selbst befinde mit meiner Widersprüchlichkeit und meinem Hang zur kleinlichen Gesetzlichkeit. Christus ist und lebt in mir. Gehe ich doch mit, auch das ist Nachfolge und traue ihm schlicht und ergreifend. Gott bewahre uns darin durch seine Gnade und seinen Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche