Predigt über BWV 97 "In allen meinen Taten"

  • 08.10.2023 , 18. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfr. i.R. Christian Wolff

Ansprache im Kantatengottesdienst

„In allen meinen Taten“, BWV 97

18. Sonntag nach Trinitatis

08. Oktober 2023, Thomaskirche Leipzig

 

Johann Sebastian Bach (1685-1750, Thomaskantor 1723-1750)

In allen meinen Taten

Kantate „per ogni tempi“, BWV 97

 

1. Coro
Oboe I/II, Fagotti, Violino I/II, Viola, Continuo

In allen meinen Taten
Lass ich den Höchsten raten,
Der alles kann und hat;
Er muss zu allen Dingen,
Solls anders wohl gelingen,
Selbst geben Rat und Tat.

 

 

2. Aria B
Continuo

Nichts ist es spät und frühe
Um alle meine Mühe,
Mein Sorgen ist umsonst.
Er mags mit meinen Sachen
Nach seinem Willen machen,
Ich stells in seine Gunst.

 

 

3. Recitativo T
Continuo

Es kann mir nichts geschehen,
Als was er hat ersehen,
Und was mir selig ist:
Ich nehm es, wie ers gibet;
Was ihm von mir beliebet,
Das hab ich auch erkiest.

 

 

4. Aria T
Violino solo, Continuo

Ich traue seiner Gnaden,
Die mich vor allem Schaden,
Vor allem Übel schützt.
Leb ich nach seinen Gesetzen,
So wird mich nichts verletzen,
Nichts fehlen, was mir nützt.

 

 

5. Recitativo A
Violino I/II, Viola, Continuo

Er wolle meiner Sünden
In Gnaden mich entbinden,
Durchstreichen meine Schuld!
Er wird auf mein Verbrechen
Nicht stracks das Urteil sprechen
Und haben noch Geduld.

 

 

6. Aria A
Violino I/II, Viola, Continuo

Leg ich mich späte nieder,
Erwache frühe wieder,
Lieg und ziehe fort,
In Schwachheit und in Banden,
Und was mir stößt zuhanden,
So tröstet mich sein Wort.

 

 

7. Aria (Duetto) S B
Continuo

Hat er es denn beschlossen,
So will ich unverdrossen
An mein Verhängnis gehn!
Kein Unfall unter allen
Soll mir zu harte fallen,
Ich will ihn überstehn.

 

 

8. Aria S
Oboe I/II, Continuo

Ich hab mich ihm ergeben
Zu sterben und zu leben,
Sobald er mir gebeut.
Es sei heut oder morgen,
Dafür lass ich ihn sorgen;
Er weiß die rechte Zeit.

 

 

9. Choral
Oboe I/II col Soprano, Violino I/II, Viola, Continuo

So sei nun, Seele, deine
Und traue dem alleine,
Der Dich erschaffen hat;
Es gehe, wie es gehe,
Dein Vater in der Höhe
Weiß allen Sachen Rat.

 

Ansprache

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Er war Arzt, er reiste viel und er kannte die Schrecken des 30-jährigen Krieges: Paul Fleming, der Dichter des Liedes „In allen meinen Taten“. Nichts Tragisches, nichts Menschliches, kein Unglück, keine Katastrophe waren ihm fremd. Krieg, Pest, frühes Sterben - all das gehörte zum Alltag im 17. und 18. Jahrhundert. Leben in der Dauerkrise. Von 1623 bis 1628 war Fleming Thomasschüler, lebte also hier am Thomaskirchhof. Danach studierte er an der Universität Leipzig Medizin und entwickelte sich zu einem bedeutenden Lyriker. 1633 ging Fleming auf Einladung des Schriftstellers Adam Olearius nach Holstein. Dort engagierte Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf ihn als Hofjunker, Arzt und Truchsess. Als solcher gehörte Fleming einer Gesandtschaft an, die sich 1633 dorthin aufmachte, wo heute nur noch wenige hinreisen: nach Russland, nach Moskau und später dann nach Persien, in den heutigen Iran. Insgesamt war Fleming sechs Jahre unterwegs, davon zwei Jahre in Reval, dem heutigen estnischen Tallin, und ebenfalls zwei Jahre im persischen Isfahan. Wir können uns die Reisejahre nicht abenteuerlich genug vorstellen – per Schiff, per Kutsche, zu Fuß. Nachdem Fleming 1639 aus Persien zurückgekehrt war, erwarb er 1640 an der Universität Leiden die medizinische Doktorwürde. Er beabsichtigte, sich als Arzt in Reval niederzulassen. Doch im selben Jahr starb er an den Folgen der mehr als strapaziösen Reisejahre.

Offensichtlich hat Paul Fleming vor Reiseantritt 1633 das Lied gedichtet, das Johann Sebastian Bach dann ein knappes Jahrhundert später als textliche Grundlage für die Kantate „In allen meinen Taten“ benutzt hat. Aus welchem Anlass Bach die Kantate komponierte, ist unbekannt. Es könnte sein, dass es eine Trauung war. Es könnte aber auch sein, dass Bach diese Kantate „für alle Fälle“ bereithalten wollte und sich durch den Text des Liedes ansprechen ließ. Dieser passt eben immer – weil es in dem Choral um ein Grundanliegen von uns Menschen geht – völlig unabhängig davon, ob und welcher Glaubensrichtung wir angehören oder wie wir weltanschaulich ticken: Wie können wir auf unserer Reise durchs Leben, auf der Fahrt ins Ungewisse Orientierung, Vertrauen, Identität finden? Wie können wir uns das erhalten angesichts der Bedrohungslagen, der Dauerkrisen, denen wir in sehr unterschiedlicher Weise ausgesetzt sind?

Was ich in zwei Fragen gefasst habe, findet in der ersten Strophe des Liedes sofort eine Antwort:

In allen meinen Taten

Lass ich den Höchsten raten,

Der alles kann und hat;

Das ist die Ausgangslage: Was der Mensch auch vermag und was ihm widerfährt - über allem thront Gott. Er ist der einzige Maßstab, die einzige Autorität, an der alle anderen Beanspruchungen zerschellen. Bach gestaltet diese Erkenntnis und dieses Bekenntnis zunächst mit den Instrumenten sehr feierlich, geradezu majestätisch, ehe dann die Sopranstimme den Cantus firmus des Chorals aufstrahlen lässt, umgeben von den drei Unterstimmen und dem Orchester, quasi die Repräsentant:innen der Vielfalt, auch der Verworrenheit des Lebens. Die Botschaft ist eindeutig: Angst, Vorurteile, Katastrophenszenarien und Ideologien – das alles sind nicht nur schlechte Ratgeber. Sie erweisen sich auch als überflüssig, wenn ich in Allem auf Gottes Rat und seine Tat vertraue.

Natürlich steht sofort der Einspruch im Raum: Wer vermag sich denn heute noch in dieser Weise zum Gottvertrauen zu bekennen – in einer Welt, in der vielen Menschen das Gegenüber Gott weitgehend abhandengekommen ist? In der vergangenen Woche traf ich einen guten Bekannten im Waldstraßenviertel. Er war wie ich mit dem Fahrrad unterwegs. Mit unseren Rädern versperrten wir auf der Hinrichsenstraße die schnelle Durchfahrt für Autos. Da hielt ein Firmenwagen an, ein Hüne von Mann in Monteurkleidung sprang aus dem Auto. Wir dachten, er würde uns jetzt maßregeln. Aber nichts war. Er rief laut und erregt: Was haben wir Wessis falsch gemacht, dass es hier noch solche Straßen gibt? Völlig überrascht von diesem nicht erwarteten Anwurf antwortete ich: Na ja, fahren Sie mal nach Duisburg, Bottrop oder Gelsenkirchen. Da finden sie auch schlecht sanierte Straßen. Die Erregung des Mannes ließ nicht nach: Vor 10 Jahren bin ich nach Leipzig in den Osten gekommen, aber ich bin hier nie angekommen. Dabei bin ich ein Linker. Ich erzählte ihm, dass auch ich ein Wessi bin und seit über 30 Jahren hier lebe – und das sehr gerne. Er blickte mich überrascht und ein bisschen verständnislos an: Ich habe alles verloren, mein Haus in Norddeutschland, meine Frau, die Kinder. Ich dachte, hier ist alles besser. Morgen habe ich Geburtstag. – Oh, sagte ich, am Tag der Deutschen Einheit. Wie schön! Da haben Sie ja frei. - Das nutzt mir nix. Ich muss morgen wohl alleine eine Flasche leeren. Ich empfahl ihm, es bei einem Glas zu belassen. Während wir redeten, mühten sich die nachfolgenden Autos, sich an dem Firmenwagen vorbei zu schlängeln. Den Monteur interessierte das nicht. Er wollte noch mehr loswerden. Nachdem ich mich als Pfarrer geoutet hatte, sagte er: Jesus war doch auch Kommunist. - Ja, da ist durchaus etwas dran, antwortete ich. Nur: Jesus hat nicht den Fehler gemacht, seine Ziele sofort und hier auf Erden zu erreichen zu wollen. Das war das große Missverständnis der Kommunisten. Sie wollten das Paradies auf Erden. Jesus kam es darauf an, dass wir Menschen uns trotz aller Widrigkeiten einem sinnvollen Leben hier auf Erden annähern. Für diese Annäherung benötigen wir Zielvorstellungen und Orientierung. Das fällt nicht einfach vom Himmel. Der Monteur schaute mich mit großen Augen an und wurde etwas ruhiger. Ich wünschte ihm alles Gute für seinen Geburtstag. Er stieg in sein Auto und machte die Straße frei.

Was mir nicht nur in dieser unverhofften Begegnung aufgefallen ist: Wie viele Menschen derzeit außer sich sind, nicht wissen, wohin mit all ihrem Frust, ihrer Wut, ihrer Unzufriedenheit. Das ist nicht nur durch die seit Jahren andauernde multiple Krisenlage zu erklären. Krisen gibt es zu allen Zeiten. Es ist auch eine der gesellschaftlichen Folgen vom Bedeutungsverlust der Kirche und einer um sich greifenden Rat- und Hilflosigkeit, mit Verwerfungen umzugehen - das genaue Gegenteil von dem, womit das Lied von Paul Fleming endet und was ich selbst als den größten Ertrag des Glaubens empfinde:

So sei nun, Seele, deine

Versus 9

Mit dieser Zeile beginnt die Schlussstrophe und bedeutet so viel wie: Sei ganz du selbst. Bekenne dich zu deiner Identität einschließlich all der Schwierigkeiten, in denen du derzeit steckst. Versuche, mit dir eins zu werden. Wo aber ist eine solche Identität zu finden, worin gründet sie? Die Antwort finden wir in der Fortsetzung des 9. Verses:

Und traue dem alleine,

Der dich geschaffen hat;

Es gehe, wie es gehe,

Dein Vater in der Höhe

Weiß (in, zu) allen Sachen Rat.

Ob der Monteur mit einer solchen Botschaft besser durch sein verkorkstes Leben käme? Ob er in einem solchen Vertrauen neue Festigkeit, neuen Lebensmut erfahren könnte? Ich weiß es nicht. Aber welchen Rat sollen wir ihm sonst geben als diesen:

So sei nun, Seele, deine

Komme endlich zu dir! Entdecke den Ort, an dem du neue Kraft findest:

Und traue dem alleine,

Der dich geschaffen hat;

Das Problem des Monteurs ist ja kein rein materielles. Zwar erzählte er mir, dass er lediglich 13 Euro pro Stunde verdiene. Das ist wahrlich nicht viel. Aber sein Verdruss hat andere Ursachen. Er sucht als völlig verunsicherte Person seinen Platz, er sucht Anerkennung, Orientierung, menschliche Begegnung, er sucht sein Ich. Das aber ist die Grundbotschaft des Liedes und des Glaubens: Gott hat dir Mensch mit deiner Geburt einen Platz in dieser Welt zugewiesen. Den kann dir niemand streitig machen. Einen Platz mit der Zusage, dass du, Mensch, dich in allen Dingen an Gott, den Schöpfer, wenden kannst – allerdings ohne die Garantie, dass dir nun alles gelingt, aber mit der Zusage, „dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“ (Dietrich Bonhoeffer).

Damit sind wir bei einer weiteren Grundbotschaft des Liedes. Das Gottvertrauen wird hier nicht beschrieben als eine Art Lebensversicherung: Jetzt kann mir nichts mehr passieren. Nein, dieses Lied kalkuliert die dramatischen Herausforderungen, denen wir Menschen auf unserer Lebensreise ausgesetzt sind, voll ein: Krankheit, Trennung, berufliches Scheitern, Tod. Das alles bleibt eine Wirklichkeit im irdischen Leben:

Hat er es denn beschlossen,

So will ich unverdrossen

An mein Verhängnis gehn!

Kein Unfall unter allen

Wird mir zu harte fallen,

Ich will ihn überstehn.

Versus 7

heißt es in der 7. Strophe. Hier ist es wie in fast jeder Strophe: Paul Fleming betrachtet alles von zwei Seiten. Da ist zum einen eine erstaunliche Gottergebenheit: Ich nehme mein Verhängnis an. Zum andern ist da die Widerstandskraft, die dem Menschen daraus erwächst: sich nicht unterkriegen zu lassen. Es ist sicher kein Zufall, dass Bach diesen Vers als Duett zwischen Sopran und Bass gestaltet. Genauso wie in der 8. Strophe: Auch da kommt es zu einem Duett zwischen zwei Oboen.

Ihm hab ich mich ergeben

Zu sterben und zu leben,

Sobald er mir gebeut.

Gott ist der Herr über Leben und Tod. Wann aber der Tod eintritt, ist allein Gottes Sache:

Es sei heut oder morgen,

Dafür lass ich ihn sorgen;

Er weiß die rechte Zeit.

Diese realistische Perspektive auf das jederzeit mögliche Ende meines Lebens soll uns Menschen davor bewahren, alles ins irdische Dasein zu packen, immer mit der Erwartung versehen, dass alles gelingen muss. Auf Dauer erwächst daraus eine gnadenlose Überforderung. Gleichzeitig ist es eine Ursache dafür, dass Menschen heute oft so verbittert sind, oft so maßlos auftreten, sich gegenseitig nichts mehr gönnen. Sie sehen die kurze Zeitspanne ihres Lebens, wollen alles mitnehmen, geraten in Panik, etwas zu verpassen. Doch am Ende bleibt nichts anderes übrig als Angst - Angst vor dem Leben und vor dem Sterben. Das Gottvertrauen will uns aber ermöglichen, die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod verantwortlich und angstfrei zu gestalten – in Erwartung der neuen Welt Gottes. Das reflektiert Fleming in der 4. Strophe, von Bach musikalisch in eine eindrucksvolle Tenor-Arie, überlagert von einer konzertanten Geige, gefasst. Auch hier taucht sie wieder auf: die doppelte Perspektive, diesmal von Gnade und Gesetz:

Ich traue seiner Gnaden,

Die mich vor allem Schaden,

Vor allem Übel schützt.

Dann folgt der Auftrag, den Gesetzen zu folgen – so wie wir es auch in der Lesung vom wichtigsten Gebot gehört haben:

Leb ich nach seinen Gesetzen,

So wird mich nichts verletzen,

Nichts fehlen, was mir nützt.

Damit werden die zwei Kraftquellen für Gottvertrauen benannt:

  • Gottes Gnade und Zuwendung, durch die wir Menschen vor falschen Weichenstellungen bewahrt und durch die uns Neuanfänge ermöglicht werden.
  • Gottes Gebote, durch die wir Orientierung und Gewissheit gewinnen.

Sehen wir es als großes Glück, als Segen an, in diesem Vertrauen unsere Reise durch das Leben unverdrossen und wohlgemut fortsetzen zu können - und dies in einer Zeit, da uns abseits von jeglichem Gottvertrauen und abseits der Orientierungsmarkierungen Jesu wieder die stillschweigende Akzeptanz von kriegerischer Gewalt und die Absage an menschliche Grundwerte zugemutet werden, obwohl uns genau das nur an die Abgründe unserer Existenz führt. Da möchte ich doch lieber „In allen meinen Taten“ den raten lassen, der uns den Weg des Friedens und der Gerechtigkeit weist.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Christian Wolff, Pfarrer i.R.

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