Predigt über 2. Brief an Timotheus 1,7-10

  • 27.09.2020 , 16. Sonntag nach Trinitatis
  • Landesbischof i. R. Christoph Kähler

7 Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.  8 Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit für das Evangelium in der Kraft Gottes.  9 Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt,  10 jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.

 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.

Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde!

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Dieser kräftige Bibelspruch wurde und wird gern Kindern bei der Taufe oder Jugendlichen bei der Konfirmation auf ihren Lebensweg mitgegeben, weil man hofft, dass Mädchen und Jungen sich in dem Spruch wiederfinden können – immer wieder. Gerade in einem Alter, wo sie innerlich doch ziemlich unsicher und ungefestigt sein können. Denn niemand kann voraussehen, wohin die Lebensstraße sie einst führen wird. Da könnte eine Ermutigung: „Keine Furcht! Aber Kraft!“ den Rücken stärken.

Und Liebe – braucht jeder Mensch. Jugendliche in ihrer Unsicherheit sowieso, auch wenn sie sich das oft nicht anmerken lassen wollen und manche Fürsorge sie eher nervt. Stattdessen wären sie lieber die Überlegenen, die ganz cool bleiben, weil sie den Überblick behalten und unabhängig sein wollen. Hat das nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Stichwort „Besonnenheit“? „Besonnenheit“ ist gewiss kein Wort aus der Jugendsprache. Aber meinen „cool“ und „besonnen“ nicht beide die Ruhe und die Übersicht, die Unabhängigkeit und Überlegenheit verschaffen und gerade dadurch für andere anziehend wirken? „Keine Furcht! Aber Kraft und Liebe und Besonnenheit.“ Das ist kein schlechter Wunsch. Wenn man das alles nur hätte! Haben wir es denn als Erwachsene? Wohl kaum an allen vier Zipfeln! Aber es wäre ja nicht schlecht, wenn andere das an mir entdecken könnten!

Darum möchte der alte Briefeschreiber seinem jungen Schüler dies ins Herz schreiben, was sein Name bedeutet: Timotheus. Das übersetzen wir ins Deutsche mit „Fürchtegott“. So  mag der stolze Satz anklingen: „Wir fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt.“ Schön, wenn es so wäre. Vor allem, wenn der Anfang stimmte: „Wir fürchten Gott!“ Um seinen Wegweisungen Nachdruck zu verleihen, erinnert der Briefeschreiber den jungen Timotheus-Fürchtegott in diesem Brief an seine vorbildliche Großmutter und die glaubensfeste Mutter. Sie sind doch Beispiele für Kraft, Liebe und Besonnenheit! Soll er sich doch an denen ein Beispiel nehmen.

Ist dann alles gut damit – oder nicht? Eben nicht, jedenfalls, wenn man die Lage der Menschen bedenkt, die der Brief nennt. Er weist darauf hin: Paulus saß im Gefängnis und hat es lebendig nicht mehr verlassen, weil er hingerichtet wurde. Die Gemeinden wussten das, als sie den Brief lasen. Auch die Aufforderung an Timotheus-Fürchtegott, mit Paulus für das Evangelium zu leiden, ist für seine Schwestern und Brüder damals nicht neu und nicht fremd.
Denn sie werden verfolgt, weil Christen als gefährlich galten. Eine Erfahrung, die uns Älteren, als gelernten DDR-Bürgern, nicht so ganz fremd war. Die Vorsicht und gelegentliche Scham bei dem Satz: „Ich bin Christ“, ist uns als  Gefühl nicht vertraut: heute wie vor 1900 Jahren.  Die Ursachen mögen dafür von Land zu Land und von Zeit zu Zeit wechseln.

Wir sind zwar nicht im Gefängnis wie es Paulus einst war, und wie wir es in einer Epoche kennen, die erst vor 30 Jahren endete. Doch dieser Brief richtet sich an Christen, die gefangen sind in ihrer Furcht und ihren Ängsten. Denn der Geist der Furcht trägt alle möglichen Gesichter  und hat die verschiedensten Gründe.

Und heutige Ursachen der Furcht erleben wir als Christen ja nicht allein. Wie viele Befürchtungen teilen wir mit unseren Mitbürgern, die eine Kirche nur von außen kennen?
Ursachen aber für eine verbreitete Furcht und den allgegenwärtigen Schrecken müssen wir nicht lange suchen: Es reicht ein Gang durch unseren Stadtwald. Was ist da an Umweltschäden bereits sichtbar? Wieviel Bäume sind da bereits vertrocknet?
Kraft und Besonnenheit sind da gefragt. Es reicht eine Nachrichtensendung für die bange Frage. Wo überall herrscht kalter oder heißer Krieg auf dieser Welt? Liebe und Besonnenheit sind bitter nötig. Es reicht ein Blick in die Zeitung für die Unsicherheit: Wer hat denn nun recht mit seinen Demonstrationen und Gegendemonstrationen und seinen harschen Vorwürfen an die Politiker? Wie finden wir uns in diesen Auseinandersetzungen zurecht? Was ist richtig und gut und was muss man beherzt eine Lüge nennen?

Noch vor 20 Jahren glaubten viele von uns, das Internet brächte uns freie Informationen, mit denen wir uns ein zutreffendes Bild von unserer Welt machen können! Und heute? Zu viele lesen dort nur noch, was sie in ihrer Meinung bestätigt, und nichts anderes! Zu viele resignieren, weil das alles doch nicht mehr begreifen! Parteien hören zu selten aufeinander, weil sie fürchten müssen, dass sorgfältige und ausführliche Argumente keine Wählerstimmen bringen. Nur Lärm und Streit scheinen die notwendige Aufmerksamkeit zu erzeugen. Man kann schon froh sein, wenn ein Wissenschaftler zu sagen wagt: „Das wissen wir nicht. Das muss erst noch erforscht werden. Darüber darf man – fair – streiten.“ Doch wie halte ich selbst Unsicherheiten und Widersprüche aus? Wie gehe ich damit um, dass ich nicht alles wissen und schon gar nicht alles verändern kann? Wollten wir aufzählen, wovor wir uns zu Recht fürchten, wir könnten ellenlange Listen anfertigen und würden immer noch nicht fertig damit.

Was hilft dann aber? Genauer gefragt: Wer hilft? Wer ist in der Lage dazu? Wenn es dabei allein auf uns und unseren guten Willen ankäme, wie weit würde uns das führen? Die Frage muss offen bleiben, weil wir sie nicht wirklich beantworten können. Und wir müssen sie auch nicht wirklich beantworten. Denn so schreibt der Ältere an den Jüngeren, an Timotheus:
Gott hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken,
sondern nach seinem Ratschluss und nach seiner Gnade.

Das ist die Basis aller guten Wünsche an Konfirmanden, für jede Aufforderung, Kraft, Liebe und Besonnenheit zu üben: Nur einer kann helfen, gerade dann, wenn wir äußerlich schwach sind wie Paulus im Gefängnis, oder uns doch alles zu viel wird. Nur einer kann helfen und uns Kraft geben und Liebe und Besonnenheit, wenn unsere Stärke endet, oder wir uns selbst überschätzen. Doch angesichts der Wunden dieser Welt öffnet uns Gott die Augen für Wunder, die wir in unserer Welt erleben können. Denn das Chaos verschluckt uns nicht, sondern Rettung in Gefahr ist möglich und wir dürfen auf sie hoffen. Die zentrale Antwort, die die ersten Christen gaben, bleibt auch unsere letzte Zuflucht. Der zweite Brief an Timotheus verweist vor 2000 Jahren auf Ostern, auf die Auferstehung Jesu:
unser Heiland Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht.

Daran halten sich die Zeugen in Gefangenschaft, im Unrecht und in der Verfolgung fest: Die tödlichen Gefahren sind nicht zu leugnen. Aber sie sind nicht das Letzte. Der Letzte ist der, der durch Leiden und Tod hindurch gegangen ist. An ihm hat Gott uns Menschen gezeigt, dass hinter aller bitteren Dunkelheit das Osterlicht aufscheint. Ihm gehen wir entgegen im Leben und im Tod. Von ihm geht die Kraft und die Liebe und die Besonnenheit aus – für uns alle.

Und der Friede Gottes, der alle Vernunft umgreift, bewahre unsere Herzen und Sinne in diesem Christus Jesus. Amen