Predigt über 1. Petrus 1,13–21
- 03.03.2024 , 3. Sonntag der Passionszeit - Okuli
- Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle
Predigt über 1. Petrus 1,13–21 (Okuli), Thomaskirche zu Leipzig
Prof. Andreas Schüle
Liebe Gemeinde,
was, wenn ich ihnen sagen würde, dass sie am Ende dieser Predigt wissen, wie man ein heiliges Leben führt? Vermutlich würden sie mindestens eine Augenbraue hochziehen (und tun das vielleicht gerade) und sich fragen, was das denn sein soll. „Heiligkeit“ ist nicht unbedingt etwas, das der moderne Mensch besonders attraktiv findet. Das Wort hat etwas Sakrales, auch etwas Gestriges, und nach Vergnügungssteuer klingt es auch nicht unbedingt. Im Kloster ja, da mag Heiligkeit ihren Platz haben, aber doch eher nicht in der normalen Welt, wo wir ja auch demnächst alle legal Cannabis konsumieren dürfen. Nein, so richtig attraktiv scheint das mit der Heiligkeit nicht zu sein.
Aber wie dem auch sei: Für den Autor unseres Predigttexts, den wir gleich hören, ist die Frage des heiligen Lebens das beherrschende Thema. „Seid heilig, so wie auch Gott heilig ist“ steht da zu lesen. Dieser Autor schreibt einen Brief an eine noch junge christliche Gemeinde. Wo und wann dieser Brief entstand, ist nicht bekannt. Vielleicht ging er nach Rom an eine der dortigen Gemeinden, und vielleicht ist sogar der Apostel Petrus höchstselbst der Verfasser.
Jedenfalls war die Lage ernst. Diese junge Gemeinde sah sich großen Bewährungsproben ausgesetzt. Von außen wurde sie misstrauisch beäugt, wenn nicht sogar angefeindet. Diese neue Bewegung – die Christen – war suspekt. Sie brachte Sitten und Gebräuche mit sich, die niemand so recht kannte. Sie hatte Lebensgewohnheiten, feierte Feste, die nicht so recht in den Kalender und in den Zeitgeist passten. Und dazu noch dieser seltsame Glaube an einen Heiland, der doch schändlich am Kreuz verreckt war. Nein, das war für die Mehrheitsgesellschaft im alten Rom doch sehr abseitig. Und wie das mit suspekten Minderheiten so ist, man grenzt sie aus, verdächtigt sie, und wenn man einen Sündenbock braucht, weil es nicht vorangeht im Land, dann weiß man, auf wen man zeigen muss. Nein, Christsein war nicht einfach.
Aber auch im Inneren der jungen Gemeinde kriselte es. Die ersten Jahre waren von großem Enthusiasmus getragen. Christ oder Christin wurde man, weil das einen Neuaufbruch versprach in einer ansonsten ziemlich erstarrten und verkrusteten Gesellschaft. Christen fragten nicht danach, woher man kam, welcher Schicht man zugehörte, wie reich oder arm man war. Und dann war da die Botschaft von einem neuen und anderen Leben, zu dem der Gekreuzigte und Auferstandene die Tür aufgestoßen hatte.
In alle dem war ein Aufbruch zu spüren, ein Ruck. Christ/Christin sein – das war ein Projekt, etwas, das frische Luft verströmte – nicht für alle, nicht für die Masse, aber für diejenigen, die bewusst etwas Neues für sich wollten. Aber wie das so ist, irgendwann holt einen dann die Normalität wieder ein, fallen Menschen in alte Muster und Gewohnheiten zurück. Und so war das wohl auch bei den Adressaten unseres Briefes. Ob das zarte Pflänzchen Christentum überleben und wachsen würde, war jedenfalls alles andere als sicher.
In diese Situation hinein schreibt unser Autor also folgende Zeilen:
13 Darum umgürtet eure Lenden und stärkt euren Verstand, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch dargeboten wird in der Offenbarung Jesu Christi. 14 Als gehorsame Kinder gebt euch nicht den Begierden hin, in denen ihr früher in eurer Unwissenheit lebtet; 15 sondern wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig sein in eurem ganzen Wandel. 16 Denn es steht geschrieben: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.« 17 Und da ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person einen jeden richtet nach seinem Werk, so führt euer Leben in Gottesfurcht, solange ihr hier in der Fremde weilt; 18 denn ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen Wandel nach der Väter Weise, 19 sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes. 20 Er ist zwar zuvor ausersehen, ehe der Welt Grund gelegt war, aber offenbart am Ende der Zeiten um euretwillen, 21 die ihr durch ihn glaubt an Gott, der ihn von den Toten auferweckt und ihm die Herrlichkeit gegeben hat, sodass ihr Glauben und Hoffnung zu Gott habt.
Da ist es also, das Stichwort „Heiligkeit“, liebe Gemeinde, und allem Anschein nach hatten die Adressaten dieses Wort nicht zum ersten Mal gehört. Nein, Heiligkeit, heilig sein, das war es doch, wofür sie einmal angetreten waren; das war es, war Christsein so anders, so interessant gemacht hatte.
Was aber war damit gemeint? Ich höre das so, das Erste, was unser Autor seiner Gemeinde sagen will ist dies:
„Traut euch zu, eine selbstbewusste Minderheit zu sein!“
Christ oder Christin zu werden, sich (meist als Erwachsener) taufen zu lassen, war eine bewusste Entscheidung, nicht mehr im Mainstream mitzuschwimmen – damit aber auch auf die Annehmlichkeiten und Sicherheiten zu verzichten, die einem das Mitschwimmen hätte bieten können. Christ wurde man, weil sich das alles alt, verbraucht und falsch anfühlte. Christ wurde man, weil man sich nicht wohl fühlte in der Haut, die einem irgendwann einmal angezogen worden war. Dem zu entkommen – von dieser alten, verbrauchten und falschen Identität erlöst zu werden – war die große Verheißung, die über dem Christsein stand: „Denn ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid … sondern mit dem teuren Blut Christi.“ So heißt es in unserem Brief.
Aber wie sich die Dinge geändert haben! Heute hat die Kirche Angst davor, Minderheit zu sein. Die Rede von den Volkskirchen (ohnehin ein seltsames Wort) oder gar vom christlichen Abendland ist allenfalls noch ein Restbeständ einer mehr oder weniger glorreichen Vergangenheit. Die Zahlen sind inzwischen sattsam bekannt. Eine Studie zur Kirchenmitgliedschaft, die die Ev. Kirche in Deutschland alle zehn Jahre in Auftrag gibt, erbrachte 2022 das Ergebnis, dass in Gesamtdeutlichland ziemlich genau die Hälfte der Bevölkerung konfessionslos ist. Das klingt erst einmal gar nicht so schlecht. Aber wenn man dann fragt, wer sich als aktives Mitglied einer Kirche oder ganz allgemein als gläubiger Mensch bezeichnet, dann ändert sich das Bild noch einmal. Nur 13% der Bevölkerung sagen das noch von sich. In Ostdeutschland noch einmal deutlich weniger – 8%. Es ist eigentlich nicht mehr die Frage, ob das Christentum eine Minderheit ist. Die Frage lautet nun: „Ist das schlimm?“
Unsere Brüder und Schwestern vor fast 2000 Jahren hätten solche Zahlen erstaunlich gefunden. Jeder Zehnte ein aktiver Christ! Wow! Natürlich kann man das nur schwer miteinander vergleichen. Aber der Blick zurück, der Blick auf das Christentum der Bibel macht deutlich: Doch, man kann auch so Christ sein. Nicht Mehrheit, gerade nicht „Volks“Kirche, sondern etwas Heiliges, etwas Kostbares mit einem breiten Kreuz – im christlichen Sinn des Wortes. Das ist nichts für Jedermann, aber für diejenigen, die mehr wollen als ihnen die Zeitgeister bieten.
Ein zweiter Aufruf unseres Briefeschreibers lautet so:
„Seid heilig, nicht ideologisch!“
Wenn ich ab und an zu meiner Familie nach Süddeutschland fahre, begrüßt mich mein Bruder, ein schwäbischer Bauunternehmer, mit den Worten: „Ach, eure Heiligkeit ist mal wieder da!“, im Sinne von, jetzt kommt was Besseres. Das meint er natürlich brüderlich-bösartig. Aber Heiligkeit, liebe Gemeinde, kann gefährlich sein, wenn sie überheblich und arrogant daherkommt. Dann degradiert sie schnell zur Ideologie. Und so ist es alarmierend, wenn in der Rhetorik extremistischer Gruppen heute wieder die Sprache von heiliger Pflicht, heiligem Auftrag, heiliger Mission auftaucht. Es gibt perverse Formen von Heiligkeit oder besser Unheiligkeit, wenn Menschen meinen, andere mit dem, was sie für wahr und richtig halten, bedrängen, überwältigen oder gar terrorisieren zu dürfen. Dem schiebt unser Briefeschreiber einen Riegel vor, wenn er sagt: „Stärkt euren Verstand, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch dargeboten wird in der Offenbarung Jesu Christ.“ Heilig sein heißt scharfsinnig und demütig sein – und wissen, dass man aus einer Gnade lebt, die sich nicht nur um mich kümmert. Jesus selbst schickt seine Jüngerschaft als die heiligen Wenigen in die Welt mit dem Auftrag: Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt. Salz sollt ihr sein, das nährt und schmeckt und von dem schon wenig genügt, um viel zu erreichen. Salz nicht Gift und Galle. Und Licht soll ihr sein, das erleuchtet, wärmt aber nicht verblendet. Heiligkeit ist ein Auftrag, kein Selbstzweck. Ideologien dagegen sind idiotisch, weil Idioten, so jedenfalls der griechische Wortsinn, nur sich selbst sehen können.
Der dritte Aufruf unseres Briefeschreibers:
„Tut Dinge bewusst – und ehrt, was ihr tut!“
Vielleicht liegt darin die größte Ähnlichkeit zwischen der Zeit unseres Briefs und unserer eigenen. Vieles von dem was wir tun, wie wir konsumieren, womit wir Zeit manchmal mehr totschlagen als verbringen, ist zwar irgendwie notwendig, bedeutet aber wenig, und man weiß auch gar nicht so genau, warum man das eigentlich tut. Wir leben in Zeiten der vielen Ablenkungen, der kurzen Aufmerksamkeitsspannen und der schnellen Bedürfnisbefriedigung.
„Als gehorsame Kinder gebt euch nicht den Begierden hin, in denen ihr früher in eurer Unwissenheit lebtet“, so unser Briefeschreiber an seine Gemeinde.“
Heilig leben, heißt den Dingen die Zeit, die Würde und Tiefe geben, die sie brauchen, und darum hat Heiligkeit etwas mit der Ehrfurcht vor Gott und Gottes Schöpfung zu tun. Ich denke, dass viele Menschen und gerade junge Menschen darüber nachdenken, wie sie der Trivialität und der Flachheit entkommen, die so vielem anhaften, was uns umgibt. Wir brauchen eigentlich nur auf die Empore zu schauen und haben ein gutes Beispiel vor Augen. Wer im Thomanerchor mitmacht, der tut etwas sehr bewusst und ehrt, was er tut. Sein Herz an etwas hängen, etwas wirklich in aller Tiefe nachgehen und dafür auf anderes zu verzichtet, das ist eben auch ein heiliges Leben – und dafür muss man nicht einmal ein Engel sein. Die Musik, die wir hier Sonntag für Sonntag erleben, ist vielleicht gerade darin ein gutes Beispiel für Heiligkeit, weil sich darin etwas auftut, was hinter dem Alltag liegt, ein Zugang zur Transzendenz, der uns zumindest ahnen lässt, dass die manchmal schwer erträgliche Welt um uns herum eben nicht Gottes letztes Wort ist.
Ein letzter Aufruf aus unserem Brief lautet so:
„Fühlt euch nicht zu sehr zuhause, weil ihr in Wirklichkeit noch immer auf dem Weg seid!“
Unser Briefeschreiber gibt seiner Gemeinde ein Bild mit auf den Weg, das für das Christentum tatsächlich immer wichtig gewesen ist: das Bild des Wanderers, des Pilgers. „So führt euer Leben in Gottesfurcht, solange ihr hier in der Fremde weilt“, ermahnt er seine Gemeinde. Heilig sein heißt, niemals ganz anzukommen, nirgends ganz zuhause zu sein. Da liegt vielleicht die größte Herausforderung der Heiligkeit. Menschen wollen ankommen, wollen zuhause sein. Das Bedürfnis, ein Nest, eine Höhle, ein Haus zu haben, scheint tief in unserer DNA verankert zu sein. Aber genau da ermahnt unser Briefeschreiber uns, dass all das nur Provisorien, nur Stationen sind, bis wir bei Gott ankommen. „Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“, so lautet der Schlusssatz der Autobiographie des Kirchenvaters Augustinus. Es gibt eine heilige Unruhe, die uns durchs Leben bewegt und sagt, dass das, was wir jetzt sind und haben, nicht Letztgültigkeiten, sondern Vorläufigkeiten sind. Das zu akzeptieren, ist schwer und vermutlich der Punkt, an dem die meisten Zeitgenossen aussteigen und sagen, dass sie sich das mit dem heiligen Leben nochmal überlegen wollen. Aber vielleicht liegt im Gedanken von Wanderschaft doch etwas Ermutigendes. Wer auf dem Weg ist, gibt Acht, beobachtet aufmerksamer, ist vielleicht auch zielstrebiger, und: Menschen auf dem Weg sind oft besser gelaunt, heiterer als diejenigen, die vielleicht schon allzu sehr zuhause, allzu fertig mit den Dingen sind.
Liebe Gemeinde, eingangs hatte ich Ihnen so halb versprochen oder angedroht, dass Sie am Ende wissen, wie ein heiliges Leben geht. Das war vielleicht etwas voreilig – oder sollte man sagen: vorheilig? Aber vielleicht ist eines deutlich geworden: Ein heiliges Leben ist nichts für Weltflüchtige, für Desillusionierte oder Ultra-Fromme. Ein heiliges Leben führen, heißt sich mit beiden Beinen auf dem Boden Gott in die Arme werfen – in der Welt, so wie sie ist, mit all ihren Schrecken aber auch mit ihren Hoffnungszeichen.
Und der Friede Gottes, der höher ist all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.