Predigt über 1. Mose 12,1-4
- 01.07.2018 , 5. Sonntag nach Trinitatis
- Prof. Dr. Andreas Schüle
Liebe Gemeinde,
Unser Predigttext steht in den ersten Kapiteln der Bibel und erzählt von den Anfängen der Menschheit. Allerdings ist das keine Geschichte der Evolution, wie aus Primaten höhere Wesen werden, die langsam lernen, Werkzeuge zu benutzen, das Feuer zu kontrollieren und zu gemeinsamen Siedlungsformen finden und dadurch mehr und mehr die Entwicklung von Kultur und Politik vorantreiben. Nein, das erste Buch der Bibel zeichnet die ersten Generationen der Menschen als suchende Wesen, die ihren Platz in der Welt noch nicht gefunden haben. Die Menschen am Anfang sind irgendwie in Bewegung, sie sind unterwegs und noch nicht daheim. Und oft wissen sie auch noch gar nicht, wonach sie suchen sollen und was sie finden werden.
Die Menschen am Anfang sind in Bewegung, nicht geplant und zielstrebig, sondern meistens auf gut Glück und dabei auch irgendwie ahnungslos. Aber in die Zeit der Bewegung und des Umherwanders fallen auch die ersten Gottesbegegnungen der Menschheit. Immer wieder spricht Gott zu ihnen - unvermittelt und unerwartet. Er begegnet unterwegs, am Wegesrand und ist manchmal selbst ein Wanderer.
Es ist sicher kein Zufall, dass von den ersten Menschen und ihren Begegnungen mit Gott so gesprochen wird. Die Geschichte beginnt nicht dort, wo Menschen angekommen sind, Häuser und Städte bauen, sondern vorher. Die Fragen, wer wir sind und wohin wir eigentlich gehören, werden gestellt und auch beantwortet, wo Menschen in Bewegung sind.
Unter den vielen Sippen und Völkerschaften, von denen am Anfang der Bibel berichtet wird, fällt das Scheinwerferlicht auf die Familie eines Mannes namens Terach. Dieser Terach macht sich auf aus der Stadt Ur in Chaldäa, im heutigen Irak, und er lässt sich nieder in Haran, eine Gegend in der Südtürkei gelegen, nicht weit von der syrischen Grenze. Es ist schon fast etwas unheimlich, dass die Orte der biblischen Geschichte auch die Schauplätze unserer Zeit sind, wenn es um Migration und Flüchtlinge geht. Aber genauso wenig wie heute ist die Reise der Terachfamilie an diesem Punkt zu Ende, zumindest nicht für alle. Denn Terach hat einen Sohn namens Abraham. Zu dem spricht Gott und diese Worte sind der Predigttext für den heutigen Sonntag.
Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.
2 Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.
3 Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.
4 Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog.
Für Abraham soll der Weg also weitergehen. Gott spricht und fordert ihn auf, alles hinter sich zu lassen - sein Land, sein Vaterhaus und seine gesamte Verwandtschaft.
„Mache dich auf!". Im hebräischen Original sind das sogar nur zwei Worte: „Lech lecha!" Das sagt Gott zu Abraham, dessen Frau Sara und dessen Neffen Lot. Drei Menschen zusammen auf dem Weg, von dem sie noch gar nicht wissen, wohin er sie führen wird. Sie sollen in ein Land gehen, das Gott ihnen zeigen wird. Für so eine Ansage gibt es weder Landkarte noch Kompass. Da spricht ein Abraham bislang völlig unbekannter Gott und fordert ihn auf, etwas zu tun, das jedem Instinkt und allem gesunden Menschenverstand widerspricht, nämlich Sicherheit, Geborgenheit und Heimat hinter sich zu lassen.
Und wofür eigentlich? Um gesegnet zu werden und ein Segen zu sein. Das klingt irgendwie gut, aber ob man davon satt wird, ein Dach über dem Kopf hat, ob man davon im materiellen wie im seelischen Sinne leben kann? Und dennoch macht Abraham sich auf. Dieses Lech Lecha wird von nun an das Motto seines Lebens sein. Abraham wird nie ganz ankommen. Zwar erreicht er das Land, das Gott ihm zeigen will, er durchwandert es, aber es wird nie seins werden. Die Abraham-Geschichten machen es eins ums andere Mal klar, dass Abraham und Sara Fremde sind und irgendwie auch immer bleiben. Das erste und einzige Stück Land, das Abraham erwirbt, ist das Grab, in dem zuerst seine Frau und dann er selbst beigesetzt werden.
Abraham, der Urahn der drei großen monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, ist eine Gestalt ohne Ort, ohne Bindungen an eine bestimmte Nation oder Kultur. So wird er auch nicht als Israelit bezeichnet, wie später seine Nachkommen, sondern als „Hebräer". Das war, nach allem, was heute bekannt ist, der Name von Nomadenstämmen des alten Vorderen Orients. Und es ist vielleicht nicht ganz unwichtig für das Verständnis unseres Glaubens, dass derjenige, der am Anfang dieser Geschichte steht, ein Wandernder und ein Suchender, aber weniger ein Findender war.
Liebe Gemeinde, als ich an dieser Predigt arbeitete, hatte ich - wie eigentlich immer bei der Vorbereitung -, auf meinem Bildschirm neben der Worddatei auch das Fenster mit der Webseite der Tagesschau offen. Und da gab es zwei Topmeldungen: Das Ausscheiden Deutschlands bei der Fußball-WM und die Regierungserklärung der Kanzlerin zur Migrationsfrage. Na gut, dann sind wir eben nicht mehr Weltmeister. War ja auch ein ziemlich uninspiriertes Gekicke. Aber das andere Thema schien mir zum Predigttext dazu zu gehören. Die Kanzlerin sprach davon, dass Migration zu einer Schicksalsfrage Europas werden könne, und dem wird man kaum widersprechen wollen. Und das ist nicht nur ein politisches Thema, sondern eines, das uns gerade als Christinnen und Christen unter die Haut unseres Glaubens gehen sollte. Denn wie könnte man ernsthaft über unseren Predigttext nachdenken, ohne ihn mit dem in Verbindung zu bringen, was um uns herum geschieht?
Lech lecha! Mache Dich auf! Viele Menschen folgen heute diesem Ruf. Für die meisten ist das allerdings nicht der Ruf einer göttlichen Stimme, sondern der Ruf der eigenen Not oder der Ruf der Hoffnung, dass das Leben noch etwas anderes bereithält als Krieg, Entbehrung und Ausweglosigkeit.
Und wie bei Abraham hat man den Eindruck, dass die Menschen, die sich heute aufmachen und dabei alles hinter sich lassen, gar nicht ermessen können, worauf sie sich da einlassen. Wissen diese Menschen eigentlich, wie breit das Mittelmeer ist und wie wenig eine Schwimmweste gegen eiskaltes Wasser auszurichten vermag? Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl ist, alles Hab und Gut für einen Platz auf einer überfüllten Luftmatratze einzutauschen, in der Hoffnung, dass da am anderen Ende ein Segen warten wird. Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl ist, irgendwo an den Außengrenzen der EU anzukommen und in der Grauzone der Legalität mit einem Koffer in der einen und kleinen Kindern an der anderen Hand durch Europa zu stapfen. Ich versuche mir vorzustellen, wie sich das wohl anfühlt, wenn man Amerika erreicht - einst das Land der unbegrenzten Hoffnungen und Möglichkeiten - und erst einmal von seinen Kindern getrennt wird.
Lech lecha „mach dich auf" - diesem Ruf zu folgen, birgt ein Risiko, das Risiko unermesslichen Traumas, das Risiko vom Leben hin und hergeworfen zu werfen. Menschen sind unterwegs, nicht nur in den biblischen Geschichten vom Anfang, sondern auch in unserer Zeit. Wir leben in einer globalen Welt, in der Mächte, Märkte, Politik und derzeit leider auch ein gerüttelt Maß an Populismus den Lauf der Dinge quer über den Planeten bestimmen. Wen sollte es wundern, dass Menschen davon entwurzelt und umhergetrieben werden in der Hoffnung, dass es irgendwo auf der Welt auch für sie einen Segen gibt?
Wie also sollte man über Abraham und Sara nicht auch als Menschen unserer Zeit nachdenken? Und das, obwohl viele des Themas inzwischen überdrüssig sind. Papst Franziskus sagt an einer Stelle des Films, der gerade über ihn im Kino läuft, dass dieses Thema zwar alle betrifft, sich aber vielleicht gerade deshalb der Schleier globaler Gleichgültigkeit darüber gelegt hat. Von Flüchtlingen wird heute als Problem geredet, das gemanagt werden muss. Aber wer lädt sich schon gerne Probleme auf?! Wenn von Abraham gesagt wird, dass er ein Segen für die Völker sein wird, dann ist das doch sehr weit weg von unserer eigenen Erfahrung. Von den Flüchtlingen unserer Zeit scheint so gar kein Segen auszugehen, eher im Gegenteil.
Meine Sorge, liebe Gemeinde, ist, dass wir das Thema Asyl und Migration in die Tagespolitik verabschieden und es nur noch durch den Filter politischen Agierens und Taktierens an uns herankommt. Ich wünschte es gelänge uns, dafür einen Ort zu finden, der es uns erlaubt, dieses Thema in der Vorstellungswelt des Glaubens wahrzunehmen. Es geht nicht nur darum, was man tun oder nicht tun soll, sondern wie wir anfangen darüber nachzudenken. Es geht auch nicht nur um die politische Welt seit 2015, sondern darum, wo wir in unserem christlichen Weltbild einen Ort für Menschen haben, die unterwegs sind. Dieser Ort sind nicht zuletzt die biblischen Erzählungen, in deren Licht wir unsere eigene Zeit anschauen können. Vielleicht so:
Abraham und Sara sind ein Lehrerehepaar aus Syrien. Vor 13 Jahren trafen sie sich in einer Schule in Damaskus. Er unterrichtete Mathematik und sie, die Malerin und Bildhauerin ist, unterrichtete Kunst. "Wir hatten viele schöne Jahre zusammen," erzählen sie und lachen einander an.
Als der Krieg in Syrien immer heftiger wurde, musste die Familie fliehen. Sie dachten, die beste Möglichkeit wäre, über Ägypten nach Europa zu gelangen. Darum nahmen sie ein Flugzeug in den Sudan, fanden dort Platz auf einem Pickup, der sie durch die Wüste brachte. "Als wir in Ägypten waren, gingen wir sofort zum Meer, aber die ägyptische Küstenwache griff uns auf und wir wurden alle verhaftet."
Die beiden blieben 11 Tage im Gefängnis. Heute wissen sie, das dies ihr Glück war: "Am 6. September sank das Boot, auf dem wir eigentlich fahren wollen," berichten sie. "Aber wir waren im Gefängnis. Das Gefängnis war unser Glück." Nach ihrer Freilassung, beschlossen sie, in Ägypten Fuß zu fassen. Er nahm jeden Job an, den er finden konnte. Drei Monate arbeitete er auf dem Bau und verkaufte Fische auf dem Markt. Aber das Leben wurde immer schwieriger und das Risiko einer Flucht über das Meer erschien immer weniger bedrohlich. Und so machten sie sich doch auf: Lech lecha!
Nach acht Tagen auf See kommen sie endlich im italienischen Hafen Augusta endlich an. In den letzten Tagen, eingepfercht in ein kleines Fischerboot, hatten sie sich oft gefragt, ob sie überleben würden. Aber nun waren sie da, wie durch ein Wunder, mit nichts in der Hand, aber der Hoffnung, dass da nun doch irgendwo für sie ein Segen sein würde.
Abraham und Sara leben in Ludwigsburg, einer mittelgroßen Stadt in Süddeutschland. Heute sind sie Anfang achtzig und haben den größten Teil ihres Lebens hier verbracht. Eigentlich sind sie Schlesier, und die Erinnerung daran haben sie nie aufgegeben. Sie waren gerade 8 und 9 Jahre alt als ihre Familien die Heimat verlassen mussten. Überall an den Häusern des Landkreises Glatz wurden Zettel angebracht. „Verfügung" stand darauf und „Befehl!" Innerhalb eines Tages mussten sie aufbrechen: „Alle Personen, welche dieser Aufforderung nicht nachkommen, werden mit Gewalt entfernt." Das stand da mit breiten Buchstaben. Lech lecha. Mach dich auf! Für die beiden war das eine Sache des Überlebens.
Dann kam der beschwerliche Transport auf Güterwagons, zu fünfzigst eingepfercht, ohne Versorgung und Medikamente. Nicht wenige starben auf dem Weg, alle waren für den Rest ihres Lebens traumatisiert. Schließlich standen sie da, am Bahnhof von Görlitz, der Stadt der Vertriebenen. Bis 1953 bleiben sie dort, in der Hoffnung, dass sich vielleicht doch noch einmal ein Weg zurück in die Heimat auftun würde. Aber so versöhnlich sollte es nicht kommen. Der Volksaufstand in der DDR spülte sie in einer Nacht- und Nebelaktion in den Westen - einmal mehr in der Fremde angekommen, einmal mehr von vorne anfangen müssen.
Irgendwie ging das Leben weiter. Die beiden, die sich seit Kindertagen kannten, heirateten und gründeten eine Familie. Nach dem Ende des Kalten Kriegs besuchten sie ihre alte Heimat Glatz, aber ihre Elternhäuser standen nicht mehr. Sara sagt heute, dass das Leben, trotz allem gut zu ihnen war - es hätte schlimmer kommen können. Ja, da war bei allem Fluch auch Segen. Aber so ganz ohne eine Träne im Auge kommen ihr die Worte doch nicht über die Lippen.
Abraham und Sara wohnen in Leipzig. Sie und ihre drei Kinder sind vor kurzem hier angekommen. Eigentlich waren sie nach Schweden ausgewandert, weil sie den Kindern ein besseres Schulsystem und sich selbst ein stressfreieres und einfacheres Leben gönnen wollten als es im bürokratisierten und spießigen Deutschland möglich war. Lech lecha! Weg aus der geistigen und räumlichen Enge! Die meisten Ersparnisse gingen in den Umzug und in den Neubeginn in Schweden. Und eigentlich begann es auch gut. Aber dann verlor er seine Arbeit, richtige Freundschaften wollten nicht entstehen, und so kamen sie irgendwie nie ganz an. Die Sprache und die Lebensgewohnheiten wurden doch nicht zur zweiten Haut, und so hatten sie dann doch zunehmend Heimweh. Dann das Jobangebot von DHL aus Leipzig. Wieder einpacken und zurück nach Deutschland. Alles gut fürs Erste und irgendwie wieder ‚daheim'. Aber manchmal sitzen sie abends zusammen und fragen sich, wohin sie denn nun eigentlich gehören, ob es das jetzt war oder ob die Reise weitergehen soll.
Liebe Gemeinde, Menschen folgen einer Verheißung und machen sich auf den Weg, an dessen Ende ein Segen stehen soll. Das ist nicht nur eine Erfahrung unserer Zeit, sondern auch der Ausgangspunkt des biblischen Menschenbildes. Vielleicht tun wir uns mit dem Einen wie mit dem Anderen schwer, weil die meisten von uns in einem Leben angekommen sind, das sie nicht oder zumindest nicht ohne Not verlassen wollen. Für die Bibel weit über die Abrahamsgeschichten hinaus ist aber nicht das stete, sondern das unstete Leben der Normalfall, die Suche wichtiger als das Finden, die Unruhe der kreativere Impuls als die Ruhe. Insofern ist es vielleicht kein Zufall, dass der Kirchenvater Augustin seine Konfessionen, seine Lebensbeichte, mit folgenden Gebetsworten beginnt: „Du selber machst, dass dich zu lieben ein Freude ist; denn geschaffen hast du uns zu dir, und ruhelos ist unser Herz bis es ruht in dir."
Das heißt nun nicht, dass wir alles stehen und liegen lassen sollen in der Hoffnung, dass Gott zu uns spricht und auch zu uns sagt ‚Lech lecha'. Nein, nicht jeder muss ein Migrant sein oder ein Hebräer wie Abraham! Aber es bedeutet sehr wohl, dass wir Flüchtlinge und Migranten als Menschen verstehen sollten, deren Leben Gottes Segen trägt und aus deren Leben Segen werden soll, auch wenn das gar nicht so aussieht, so wie auch bei Abraham. Das ist die Lektion, die der Anfang der biblischen Menschheitsgeschichte lehrt. Wenn Menschen in Bewegung sind, neue Lebensverhältnisse und neue Begegnungen entstehen, dann ist das riskant und kann für alle Betroffenen schwierig sein. Aber Christinnen und Christen sollten genau hinsehen und hinhören, sollten weder in Gleichgültigkeit noch Aggressivität verfallen, denn in alle dem liegt der Stoff, aus dem Gottes Segen gemacht wird.
Amen.