Predigt im Abendgottesdienst

  • 19.09.2021 , 16. Sonntag nach Trinitatis
  • The Rev. Dr. Robert G. Moore

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Im Jahr 1933, als Franklin Delano Roosevelt in das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten eingeführt wurde, befand sich Amerika gesellschaftlich in einer dramatischen Situation. Die Wirtschaftskrise dauerte an. Roosevelt war überzeugt, ein Lösungskonzept für alle Probleme zu haben. Aber wie konnte er die Hilflosigkeit des Durchschnittsamerikaners und die Angst davor überwinden, ins Nichts abzurutschen? Roosevelt wandte sich in seiner Inaugurationsrede direkt an die Nation:

Es ist jetzt an der Zeit, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit, offen und mutig. Wir dürfen auch nicht davor zurückschrecken, uns der Situation in unserem Land heute ehrlich zu stellen. Diese große Nation wird überleben, so wie sie überlebt hat, sie wird sich erholen und sie wird gedeihen. Lassen Sie mich also zuallererst meine feste Überzeugung bekräftigen, dass das Einzige, was wir zu fürchten haben, die Angst selbst ist - namenloser, unbegründeter, ungerechtfertigter Terror, der die notwendigen Bemühungen lähmt, Rückzug in Fortschritt umzuwandeln.

Die Amerikaner haben damals seinen Worten Vertrauen geschenkt, und noch heute erinnern sich die Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten an diese Rede. Ob Roosevelt bewusst war, dass die Quelle seiner Gedanken im Stoizismus zu finden ist, wissen wir nicht. Aber dieser Stoizismus war in der Zeit der Antike eine starke Alternativ zum christlichen Glauben. Beide, Stoizismus und christlicher Glaube, beschäftigen sich mit dem Umgang mit menschlichem Leiden und Angst. Der Theologe Paul Tillich beschreibt den Stoizismus so:

„Die Stoiker haben eine Analyse der Angst gegeben, die ebenfalls an jüngste Einsichten erinnert. Sie haben entdeckt, daß der Gegenstand der Furcht die Furcht selbst ist. „Nichts an den Dingen“, sagt Seneca, „ist fürchterlicher außer der Furcht selbst.“ Und Epiktet sagt: „Nicht Tod oder Not sind das Fürchterliche, sondern die Furcht vor ihnen.‘“ (Paul Tillich, Der Mut zu Sein)

Durch die Einsicht, dass das Leiden mehr aus Furcht und Angst als aus Schmerz und Tod besteht, haben die Stoiker dazu veranlasst, den Menschen zu lehren, wie man die Furcht und Angst bewältigen und sich so mit seinem Schicksal abfinden kann. Der griechische Philosoph Sokrates war das beste Beispiel eines Stoikers. Er wurde für seine Ideen zum Tode verurteilt, hat seine Verurteilung akzeptiert und hat aus dem Schierlingsbecher getrunken, ohne den Tod zu fürchten.

Und wo bleibt Gott in dieser Lebensweise? Der taucht jenseits des Lebens und des Todes, jenseits des Schmerzes und des Leidens auf. Im Hier und Jetzt spielt er keine Rolle. Da herrscht nur die Resignation vor der Welt und vor Gott. Keine Schuld, kein Leiden, keine Leidenschaft.

Der christliche Glauben mit seinen hebräischen Wurzeln war anders. Dieser Glaube hat auch eingesehen, dass die Furcht das eigentliche Problem ist. Einer der beliebtesten Verse aus der Bibel lautet: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir“. (Psalm 23,4) In der hebräischen Tradition ist Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde. Der ist nicht in das Jenseits zurückgetreten, sondern mittendrin. „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da“. Heißt es im 139. Psalm (Psalm 139,7-8).

Gott ist nicht nur gegenwärtig, er ist für uns Menschen ansprechbar. Der Mensch kann sogar mit Gott streiten. Wir sollen nicht vergessen, dass der Name „Israel“ bedeutet, „Der, der mit Gott kämpft“. Und Israel kämpft wirklich mit Gott. Davon zeugt auch der Predigttext für diesen Sonntag aus den Klageliedern des Jeremia:

22Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, 23sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. 24Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. 25Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. 26Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. 27Es ist ein köstlich Ding für einen Mann, dass er das Joch in seiner Jugend trage. 28Er sitze einsam und schweige, wenn Gott es ihm auferlegt, 29und stecke seinen Mund in den Staub; vielleicht ist noch Hoffnung. 30Er biete die Backe dar dem, der ihn schlägt, und lasse sich viel Schmach antun. 31Denn der Herr verstößt nicht ewig; 32sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. (Klagelieder Jeremias 3,22-32)

Erstaunlich: In diesem Gebet ringt ein Mensch mit Gott, ohne seinen Glauben aufzugeben, ohne das Vertrauen zu verlieren. Für den Beter bleibt unumstößlich: Gott ist der Schöpfer alles Lebens. Gott ruft den Menschen in Dasein und in die Verantwortung für die Welt. Gott überträgt dem Menschen Verantwortung für sein Leben und das Leben seines Nächsten. Gott wird zornig, wenn der Mensch seinen Willen missachtet, und er bestraft den, der seine Gesetze übergeht.

Das zu akzeptieren, fällt uns Menschen nach der Aufklärung schwer. Wir sind eher deistisch, das heißt, wir glauben an Gott als Schöpfer, aber wir stellen uns vor, dass Gott sich von der Welt zurückgezogen hat. Wir streiten mit Gott nicht, da Gott einfach nicht da ist. Trotzdem ist mir als Seelsorger bewusst, dass auch wir moderne Menschen an Gott denken, wenn es uns nicht gut geht. Da bricht es aus manchem schwer Erkrankten heraus: „Warum straft Gott mich“? „Warum erlaubt Gott das Leiden“?

Doch Vorsicht. Es ist nicht Aufgabe des Seelsorgers, die Frage zu beantworten und so eine Linie aufzuzeigen zwischen Schuld und Ergehen. Es ist nicht Aufgabe eines Seelsorgers zu analysieren: Weil Du das und das gemacht hast, deswegen straft dich Gott. Dennoch ist es wichtig, dass jede und jeder immer wieder nach seiner Verantwortung fragt, nach seinem Anteil am Ergehen. Das steht insbesondere jetzt an, da wir uns mit Ursachen und Folgen der Pandemie und der Flutkatastrophen beschäftigen. Da reicht es eben nicht zu impfen und weiterzuleben wie bisher, die Schäden der Flut zu beseitigen, aber ansonsten so weitermachen wie bisher. Einen Brand zu löschen ist das eine, die Brandursachen aufzuspüren das andere. Wer Gott vertraut, der sucht ohne Angst nach den Ursachen.

Liebe Gemeinde, im christlichen Glauben haben wir eine Vorstellung von Gott, der uns Hoffnung bringt. Wir bekennen, dass Gott zu uns Menschen gekommen ist im Fleisch und Blut eines Menschen, der Jesus hieß und als Immanuel verstanden wurde, „Gott mit uns“. Gott ist nicht seiner Schöpfung fern. Er ist mittendrin, vor allem da, wo wir verwundbar sind: im Leiden und Sterben. Wie Sokrates hat Jesus den Tod angenommen ohne Furcht. Aber Jesus hat vorm Tod nicht resigniert. Nein, er war bereit, am Tod zu leiden in der Hoffnung, dass Gott da war und dass Gott tun würde, was Gott er immer macht: seine Schöpfung erneuern. Das hören wir im Wochenspruch:

„Jesus Christus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium“. (2. Timotheus 1,10)

Im Leben, Sterben, und Auferstehung Jesu wird uns der Weg offenbart, den wir nehmen können: Wir müssen dem Tod nicht ausweichen, denn wir werden von der Furcht vor dem Tod befreit.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.