Predigt im Gottesdienst zum Gedenken an die Reichspogromnacht

  • 10.11.2019 , Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
  • Rabbinerin Antje Yael Deusel

Werte Anwesende,

 in unserem Gedenkgottesdienst zur Reichspogromnacht haben wir soeben den Psalm 92 gehört – ausgerechnet den Schabbat-Psalm, der so eng verbunden ist mit der Freude und Feierlichkeit des jüdischen Schabbatgottesdienstes. Wie kann das angehen? Wie paßt das zusammen? Lassen Sie uns diesen Psalm einmal genauer betrachten, und dabei ein wenig zwischen den Zeilen lesen, tiefer in den Text hineingehen.

Psalmlied für den Schabbat-Tag: Tov lehodot l‘Adonaj, u-lesamer leschimcha Eljon. Lehagid ba-boker chasdecha ve-emunatcha ba-lejlot – „Schön ist es, dem Ewigen zu danken, Deinem Namen, Du Höchster, zu singen, am Morgen Deine Gnade zu verkünden und in den Nächten Deine Treue.“ So beten wir an jedem Schabbat im Gottesdienst. Und weiter heißt es da: „Wie groß sind Deine Werke, Ewiger, wie tief sind Deine Gedanken! Ein dummer Mensch erkennt dies nicht, und ein Törichter versteht es nicht, wenn Böses aufsprießt wie Gras und alle Übeltäter  aufblühen, auf daß sie für immer vernichtet werden.“ - Isch ba‘ar lo jeda u-chsil lo javin et-sot. Bifroach rescha‘im kemo essev ve-jazizu kol-po‘alej aven le-hischamdam adej-ad. So lautet der Satz im hebräischen Originaltext. Und der sagt viel mehr aus als eine Übersetzung, und sei sie noch so gut, es wiedergeben kann. Ein Isch ba‘ar, das ist nicht bloß ein unwissender oder einfach nur dummer Mensch, das ist auch einer, der roh und barbarisch ist, einer, der Gewalt anwendet, ohne groß nachzudenken; das ist, wenn man so will, sozusagen ein dumpfer Schläger. Und lo jeda sagt uns, dieser Mensch „erkennt nicht“ – erkennt nicht, wogegen er da Gewalt anwendet, und warum überhaupt; vielleicht weil er es nicht besser weiß? „Nicht wissen“, und „nicht erkennen“, das sind die zwei Bedeutungen von lo jeda. Und der Chesil, das ist einer, der zwar töricht ist, aber nicht unbedingt dumm sein muß; vielleicht ist er ja auch ein Verblendeter; einer, der fest daran glaubt, daß seine Überzeugung die einzig richtige ist. Und nun wird‘s interessant: Bifroach rescha‘im kmo essev ve-jazizu kol po‘alej aven – das ist eigentlich kein und-Satz, wo beide Aussagen nebeneinander stehen, wie es so oft übersetzt wird, sondern ein wenn-dann-Satz, eine Kausalität: Wenn das Böse – der Frevel, das Verbrechen, die Gottlosigkeit – aufsprießt, dann werden alle Übeltäter aufblühen – will sagen: Wenn man das Böse, den Haß, die sinnlose Gewalt aufkommen und wuchern läßt wie Unkraut, dann kommen auch die Übeltäter aller Art zum Vorschein, enttarnen sich selbst, indem sie ihr wahres Gesicht zeigen: Sie wachsen auf dem Nährboden des Bösen. Und dann? Le-hischamdam adej-ad – sie wachsen heran zu ihrer vollständigen Vernichtung. Indem sie sich offen zeigen, erkennt man sie als Übeltäter, und man kann gegen sie vorgehen – wobei „Vernichtung“ wohlgemerkt hier nicht die Auslöschung des Menschen, der Person selbst bezeichnen soll, sondern die Auslöschung des Bösen in dieser Person, das heißt, die Bekämpfung von Haß und Gewaltbereitschaft, idealerweise dadurch, daß diese Person nun erkennt, es nun besser weiß, und daß ein Törichter zur Einsicht kommt und versteht.

Das ist allerdings kein einfaches Unterfangen, und der Psalm sagt auch nicht, wodurch dies zustande kommen soll. Doch legt uns der Text nahe, daß die Macht, die treibende Kraft dazu vom Ewigen ausgeht. Das mag wohl richtig sein; doch sollten wir uns als Menschen keineswegs zurücklehnen und untätig auf das Eingreifen des Ewigen warten, wie auf die Handlung eines „Deus ex machina“. Der Ewige will, daß wir selber handeln, daß wir uns unserer Verantwortung bewußt werden, unserer Verantwortung für uns selbst und für unsere Mitmenschen. Dafür hat Er uns seine Gebote gegeben, damit wir sie halten und ausführen, in Ehrfurcht vor Ihm und in Liebe zu unserem Nächsten.

 Wir gedenken heute der Ereignisse vom 9. November 1938, dem Tag, an dem vor 81 Jahren die Synagogen in Deutschland brannten – dem gleichen Tag, an dem im Jahr 1918 die deutsche Republik ausgerufen wurde, an dem fünf Jahre später der Hitler-Putsch stattfand, und an dem schließlich im Jahr 1989 die Mauer fiel. Der 9. November ist ein Tag, der viele Bedeutungen hat – so viele, daß er die Bezeichnung „Schicksalstag der Deutschen“ erhalten hat. Er ist damit gleichzeitig ein starkes Symbol dafür, was Gemeinschaft bewirken kann – im Positiven, wenn sie gemeinsam für eine neue Zeit, für eine bessere Zukunft einsteht, aber auch im Negativen, wenn die Gemeinschaft nicht – oder nicht genügend – gegen Unrecht protestiert, wenn die Zahl der Furchtsamen, oder, schlimmer, der Gleichgültigen überwiegt, verbrecherische Dinge geschehen läßt und damit den Boden bereitet für das „Aufblühen der Übeltäter“.

Ernst Wiechert sagt in seiner „Rede an die deutsche Jugend“ 1945: „Wir sahen Stangen mit Geßlerhüten […] und schließlich sahen wir einen neuen Gruß. […]  Dies alles war der Anfang, und dies alles sahen wir. Jeder von uns. […] Wir waren kein Volk von Analphabeten. Die Geschichte unseres Geistes war eine stolze Geschichte. […] Und auch die Geschichte unserer Seele schien uns eine ehrenvolle Geschichte zu sein.“ - Und weiter sagt er: „Die Bibel lag fast in jedem Hause, die Krippe mit dem Jesukind wurde alljährlich aufgebaut. […] Und nun sahen sie. Sie sahen ein neues Kreuz und in seine Balken war nicht die alte Botschaft eingegraben: ‚Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!‘ Sondern die neue Botschaft: ‚Juda verrecke!‘ Und wer das neue Kreuz über die Menge der Völker hob, war nicht mehr der Apostel der Liebe, sondern der ‚Übermensch‘, der um die Kleider des Toten gewürfelt hatte.“ Und: „Statt des Gotteswortes setzten wir das Menschenwort, und das Menschenwort war der Fluch eines ganzen Zeitalters.“

Bifroach rescha‘im kmo essev, ve-jazizu kol po‘alej aven… Die Verbrecher jener Zeit glaubten, sich selber über den Ewigen stellen zu können, in unübertroffener Arroganz. Rabbiner Dr. Henry Brandt beschrieb es einmal so: „Herrenmenschen, die Schicksale bestimmen, die sagen wollten, was Schöpfung bedeutet und was nicht. Der Mensch hat versucht, sich an die Stelle Gottes zu setzen.“ [...] Aber: „Auf dem Thron Gottes ist kein Platz für den Menschen.“ Abermillionen an Toten, ein zerstörtes Europa und unendliches Leid hat diese Erkenntnis am Ende gekostet.

Sicher, nicht alle dachten und handelten so in jener Zeit. Es gab auch Menschen, die sich widersetzt haben, aktiv und passiv. Menschen, die den Geßlerhut nicht gegrüßt haben; die Widerstand geleistet haben; die Verfolgten geholfen haben. Aber Viele, allzu Viele blieben stumm, aus unterschiedlichen Gründen – sie blieben stumm, weil sie nicht auffallen wollten, weil sie sich nicht unbeliebt machen wollten, weil sie vielleicht im Inneren sogar einverstanden waren mit dem, was geschah. Täuschen wir uns nicht: Die vermeintlich Neutralen sind genauso schuld am Geschehen wie diejenigen, die offen mitmachen. Haß allein ist nicht das ganze Ausmaß des Bösen; schlimmer, gefährlicher noch ist die Untätigkeit, womöglich sogar Gleichgültigkeit der Vielen angesichts des Hasses von Wenigen. Jewgenja Ginsburg schreibt: „In schlaflosen Nächten tröstet das Bewußtsein nicht, daß man nicht unmittelbar an Mord und Verrat beteiligt war. Denn nicht nur der hat getötet, der zugeschlagen hat, sondern auch jene haben getötet, die das Böse zugelassen haben, ganz gleich wodurch: Durch das gedankenlose Wiederholen gefährlicher Theorien; […] das halbherzige Schreiben von Halbwahrheiten...“.

 Die Reichspogromnacht wurde einmal beschrieben als eine „stumme Nacht“ [Prof. Joachim Bandau] – stumm, weil nicht nur die allermeisten Menschen dazu schwiegen, ohne kollektiven Protest; auch so viele hundert Kirchenglocken in Stadt und Land schwiegen. Vereinzelt mag es Protest gegeben haben; aber wie viele Nicht-Betroffene waren wirklich entsetzt? Sicherlich: Der Protest eines Einzelnen vermag nicht viel, und er kann für den Protestierenden riskant sein. Und doch: Je mehr Menschen sich engagieren und gegen Unrecht aufstehen, umso geringer wird die Gefahr für den Einzelnen, und umso größer die Chance, etwas bewirken zu können. Man denke nur an die Ereignisse gerade hier in Leipzig vor 30 Jahren, als aus dem Protest von Wenigen der Protest von Vielen wurde, und wie schließlich eine friedliche Revolution zur Wende geführt hat. Erschien es nicht manchem aussichtslos, zumindest am Anfang? Es ist heute noch beinahe unglaublich, fast wie ein Wunder, was damals geschehen ist, durch das Zusammenstehen von Vielen. - Was wäre wohl gewesen, wenn Ähnliches in den 30er Jahren geschehen wäre?

Und hier kommen wir wieder zu unserem Psalm 92 zurück, dem Psalm, der uns gerade heute, in unseren Tagen, so eindrücklich ermahnt, das Böse nicht hochkommen zu lassen: Er schließt mit der Aussage, daß die Gerechten, also jene, die auf den Ewigen vertrauen und danach handeln, nicht untergehen, sondern ihrerseits schließlich den Untergang des Unrechts sehen werden, und damit das Ende jener, die sich über den Ewigen und Seine Gebote stellen. Sie selber aber werden kraftvoll und stolz wie die Zedern des Libanon emporwachsen, so heißt es, und die Gerechtigkeit des Ewigen verkünden. Anders ausgedrückt, wie wir es vor kurzem in unserer Liturgie zum Laubhüttenfest gebetet haben: „Vor Dir allein, Ewiger, beugen wir uns, vor unseren Mitmenschen aber stehen wir aufrecht.“ Das tun wir, auch und gerade im Angedenken an die Schrecken der Reichspogromnacht, und an die Botschaft, die von dort als entsetzlich bittere Lehre ausgeht für unsere Gegenwart, und für unsere Zukunft.

Und bei alledem spricht der Psalm 92 doch von der Freude, den Ewigen zu loben, und von unserem Vertrauen in Ihn, den alleinigen König der Welt – so beginnt der Psalm, und so schließt er auch. In Ihrem Gesangbuch steht es wunderbar formuliert – gleich werden Sie den Text von Günter Rutenborn singen: „Wie ein Palmbaum grün und kräftig werd ich stehn, wachsen werd ich wie die Zeder auf den Höh‘n und dem Sturme trotzend leben in der Welt. Denk an Gott nur und vergiß nicht, wer dich hält!“

 Amen – ken jehi razon!