Predigt im Gottesdienst zum Gedenken an den 9. November 1938

  • 09.11.2021
  • Prof. Andreas Schüle

Liebe Gemeinde,

zwei kleine eigene Erfahrungen der letzten Zeit kommen mir heute, an diesem besonderen Tag in den Sinn. Die erste: Letztes Semester bot ich an meiner Fakultät eine Vorlesung „Einführung ins Judentum“ an. Diese Vorlesung gibt es jedes Jahr, und sie gehört zu den Pflichtveranstaltungen für künftige Religionslehrerinnen und -lehrer. Notgedrungen musste sie digital stattfinden. Das Interessante daran ist – viele von Ihnen werden das wissen ­–, dass es auf den digitalen Plattformen meist eine Chat-Funktion gibt, man könnte auch sagen: eine Diskussionsecke. Die Studierenden konnten also während der Vorlesung Fragen und Anmerkungen in diesen Chat schreiben oder auf die Fragen anderer reagieren. Während ich redete, konnte ich mit einem Auge mitverfolgen, was die Studierenden gerade beschäftigte: „Müssen sich wirklich alle jüdischen Männer beschneiden lassen?“, war eine Frage. „Könnte ich einen Juden zu mir nach Hause einladen oder geht das nicht wegen der Diät?“ „Könnten Juden nicht einfach Juden bleiben und trotzdem an Christus glauben?“ Man konnte spüren, dass sich die Studierenden sehr authentisch und unverstellt mit solchen Fragen dem Judentum näherten, die sie auch sonst im Leben beschäftigten oder die sich angesichts ihrer eigenen Frömmigkeit hatten. Klar war aber auch: So gut wie niemand unter den Studierenden hatte wohl schon einmal unmittelbaren Kontakt zu Juden oder einer jüdischen Gemeinde. Die Kommentare im Chat bewegten sich irgendwo zwischen Faszination und Vorsicht.

Die andere kleine Begebenheit: Auf einer Zugfahrt nach Berlin saß ich im ICE direkt hinter einem der Vierertische im Großraumwagen. Da hatte sich eine Familie mit zwei kleinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, ausgebreitet. Aus irgendeinem Grund kamen sie auf das Thema Judentum. Es ging darum, ob man Juden immer an ihrer Kleidung erkennen könne. „Nein“, sagte einer der Eltern, „die meisten Juden ziehen sich so an wie wir auch“. Dann schoss es aus dem kleinen Jungen heraus: „Dann sind Juden also ganz normale Menschen?!“. „Ja, das sind sie“, kam die beruhigende Antwort. Ich habe das mit gemischten Gefühlen mit angehört. Einerseits war es schön zu sehen, dass auf diese recht unschuldige Weise eine Annäherung ans Judentum geschah. Andererseits fragt man sich dann doch, wie es zu einem solchen Satz kommen kann: „Dann sind Juden also ganz normale Menschen“. Was muss passiert sein, dass ein solcher Satz in einer alltäglichen Situation, einer Zugfahrt von Leipzig nach Berlin, auftaucht?

Der 9. November – heute – ist der Tag, der die Antwort auf diese Frage gibt. Der 9. November 1938 war nicht der Beginn von Antisemitismus und Judenhass. Das gab es schon vorher. Aber diese sogenannte „Reichskristallnacht“ gab dem eine manifeste, nicht mehr zu übersehende Realität. Diese Kristallnacht – die zerstörten Glasfenster und Gebäude –, waren zugleich das Scherbengericht über eine ganze Zivilisation, die für sich das Prädikat des „christlichen Abendlands“ in Anspruch nahm. Der 9. November ist deswegen ein dunkler Tag, weil nicht mehr gelten sollte, dass Juden „ganz normale Menschen“ sind.

Heute begehen wir diesen Tag als Gedenktag, weil nicht vergessen werden soll, was nicht vergessen werden darf. So hat das auch der Bundespräsident heute Morgen getan. Aber ich denke als Kirche und Gemeinde vor Ort haben wir eine noch etwas andere Aufgabe. Für uns sollte es nicht – oder zumindest nicht nur – darum gehen, dass wir unserer Betroffenheit Ausdruck geben. Manchmal hat man fast den Eindruck, dass der Holocaust vor allem eine Dunkelfolie ist, vor deren Hintergrund wir nach unserer Verantwortung oder Schuld fragen. Mit anderen Worten: Manchmal klingt es so, dass der Holocaust und wie man heute damit umgeht wirklich unser Problem ist; und man vergisst darüber, dass der Holocaust doch zuerst und vor allem eine Leidensgeschichte so vieler Menschen war, auch hier, auch in Leipzig.

So sollte der 9. November in christlichen Kirchen zuerst und vor allem ein Tag nicht des Redens, sondern des Zuhörens, der schweigenden Anteilnahme sein, damit die Stimmen von damals wieder zu Gehör kommen und ihre Geschichte erzählen können. Der 9. November ist kein Tag der guten Vorsätze, sondern ein Tag der Einkehr und des sich Zurücknehmens, damit die Opfer, nicht die Täter, zu ihrem Recht kommen.

Eine solche Stimme hören wir gleich in Gestalt eines Liedes des Komponisten und Dichters Mordechai Gebirtig. Gebirtig wurde 1877 in Krakau geboren und starb 1942 im dortigen Ghetto. Aber was heißt er starb – er wurde von einem Besatzungssoldaten auf offener Straße erschossen. Von Gebirtig stammt der Liedtext ‚Kleiner Yosem‘, den wir in der Vertonung von Bernd Franke hören werden. Auf den ersten Blick klingt es wie ein Abendlied, das einem kleinen Jungen gesungen wird, der traurig ist und nicht einschlafen kann. Aber sehr rasch verliert das Lied seine träumende Unschuld. Es ist das Lied einer Mutter, die ihren Sohn ein Waisenkind nennt, so als würde sie wissen, was bald kommt.

Weine nicht, kleiner Waisenjunge!

Spar die Tränen auf, auch wenn du leidest,

denn das Leben hat nur Sorgen,

Es wäre schlecht, wenn die Tränen fehlen.

Ist das ein Trost, eine Beruhigung für den kleinen Jungen? Nein, was die Mutter ihrem Sohn mitgibt, ist eine trostlose Gewissheit: Es gibt so viel Leid in der Welt, dass die Tränen dafür nicht reichen. ‚Spar dir deine Tränen auf‘ sagt sie, hüte sie ‚wie Brillanten‘ für die Zeit, wenn es nicht nur schlimm, sondern schlimmer kommt. 

Schlaf nun, kleiner Waisenjunge,

entzieh mir nicht mehr meine Kraft,

der Hunger wird dich nicht plagen,

im Schlaf wirst du dich gut fühlen.

 

Es würde wohl viel besser sein,

für dich, mein Waisenjunge, und für mich,

wenn du ewig schlafen würdest,

und ich, deine Mutter, neben dir.

Wieder ist es ein zunächst harmloses Bild, hinter dem sich beim zweiten Hinsehen ein Abgrund auftut. Es geht nicht um den Schlaf, nachdem man erholt aufwacht. Es geht auch nicht darum, Kummer und Leid zu verschlafen und erst dann wieder aufzuwachen, wenn alles vorbei ist. Was die Mutter sich für und ihren Sohn wünscht, ist der Todesschlaf, von dem man nicht mehr aufwachen muss. Dieses Wiegenlied ist ein eigentlich ein Totengesang.

Es gibt Psalmen in der Hebräischen Bibel, die wir das Alte Testament nennen, die ähnlich klingen. Es sind Psalmen aus dem Grab, Psalmen der Toten, die sich damit abgefunden haben, dass sie nie wieder das Licht des Lebens, nie wieder Gottes Glanz schauen werden. Der Glaube Israels hat sich diesen Gedanken, die Ahnung, dass es so enden könnte, nie erspart. Und Mordechai Gebirtigs Lied ist ein erschütterndes Zeugnis für diesen Glauben, für diese letzte Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem eigenen Schicksal.

Aber dieses Lied ist immer noch ein Lied, der Text immer noch ein Text, etwas das klingt und spricht und bleibt. Und so lange gesungen und gesprochen wird, gibt es eine wie auch immer kleine Hoffnung – nicht mehr für Gebirtig selbst oder die Mutter und das Kind seines Liedes. Es ist ein jüdisches Lied, und wir hören es heute als Menschen, denen ein jüdisches Schicksal erspart geblieben ist. Aber darin erklingen die Stimmen derer, die damals verstummten, und wir können sie immer noch hören. Lassen wir sie auch zu uns sprechen, lassen wir sie uns nahekommen?

Gedenktage wie der heutige stehen in der Gefahr, gut gemeint zu sein, in Wirklichkeit aber nur das Vergessen zu archivieren. Wenn der heutige Tag vorbei ist, wenn man Betroffenheit gezeigt hat, dann darf man die Realität des 9. November 1938 wieder für ein Jahr ad acta legen. Genau deswegen ist es wichtig, dass sich meine Studierenden oder der Junge im Zug ­– wie auch immer unbeholfen und vielleicht befremdet – danach fragen, was das eigentlich ist,  das Judentum; und dass die Irritation dazu führt, das lebendige Judentum heute und hier wahrzunehmen, es ernst zu nehmen und um seiner selbst willen für wert und wichtig zu erachten.

Ob Mordechai Gebirtigs Lied, nicht nur ein Totenpsalm, sondern auch ein Lebenszeichen ist, hängt nicht davon ab, was wir – zumal als Nicht-Juden – nun denken oder tun, welche guten Gedanken und Absichten wir haben mögen. Es hängt davon ab, ob jüdisches Leben wieder aufblühen kann und dass sich so die Verheißung erfüllt, die laut biblischem Zeugnis über dem Judentum liegt, nämlich ein Segen zu sein. „Du sollst ein Segen sein!“, so sagt es Gott, am Anfang der Bibel, dem ersten Juden, Abraham, zu. Und genau dafür sollen wir als Christinnen und Christen beten und darauf sollen wir hoffen – an einem Tage wie heute und an einem Ort wie diesem. Amen.