Predigt im Abendgottesdienst über Lukas 1,26-56
- 19.12.2021 , 4. Advent
- Pfarrer. i.R. Christian Wolff
Predigt über Lukas 1,26-38
4. Advent
Böhlitz-Ehrenberg und Thomaskirche Leipzig
19. Dezember 2021
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.
26 Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, 27 zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. 28 Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! 29 Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? 30 Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. 31 Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. 32 Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, 33 und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben. 34 Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß? 35 Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. 36 Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, sie, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei. 37 Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. 38 Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.
Lukas 1,26-38
„Glaubst du eigentlich an Engel?“ fragte mich kürzlich eine gute Freundin. Sie ist im religiösen Niemandsland groß geworden, hat wenig Beziehung zur Kirche, aber ist an Glaubensfragen interessiert. Wenn jemand so fragt, dann will er als Antwort kein Herumgeeiere. Er erwartet von einem Christenmenschen eine klare, nachvollziehbare Aussage – gerade in der Weihnachtszeit, wo uns Engel auf jeder zweiten Postkarte begegnen. Also fühlte ich mich herausgefordert: Ich glaube nicht an Engel, auch nicht ans Gegenteil, den Teufel. Aber für mich sind Engel Teil der Wirklichkeit. Von ihrer Bedeutung her sind sie Boten, Botschafter, ein personifiziertes Medium für Gottes Botschaft. Gott setzt Engel ein, um uns gute, aber auch unangenehme Nachrichten zu übermitteln. Meistens lösen die Botschaften der Engel dreierlei aus: Überraschung, Freude, Erschrecken. - Und woran kann man Engel erkennen? wirst du mich wahrscheinlich jetzt weiter fragen. Meine Antwort: An ihren Botschaften – und sicher weniger daran, dass sie ein weißes Gewand tragen, Flügel haben und leuchten. In diesem Sinn kann jeder von uns zu einem Engel werden.
Ich weiß nicht, ob meine Freundin das überzeugt hat. Aber dieses Gespräch kam mir wieder in den Sinn, als ich in Vorbereitung dieses Gottesdienstes die Geschichte von der Ankündigung der Schwangerschaft Marias durch den Engel Gabriel las. Erzählt wird sie vom Evangelisten Lukas: Einem jüdischen Mädchen wird die uneheliche Zeugung des ersten Kindes angekündigt. Maria weiß von nichts. Zwar ist sie verlobt mit einem Mann, dem Josef, der aus dem Haus Davids stammt. Aber als Verlobte gehörte Maria noch nicht seiner Familie an. Also konnte, durfte sie nicht an Nachwuchs denken – geschweige denn sich mit Josef einlassen. Da haben wir es also: Wenn Gott einen Engel zu einem Menschen schickt, dann kehren sich durch seine Botschaft nicht nur die Verhältnisse um, sie werden aufgebrochen: aus Trauer wird Freude, aus Angst wird Zuversicht, aus Normalität etwas Besonderes, aus Stillstand Bewegung. Das ist für die betroffenen Menschen überraschend, erfreulich, aber auch erschreckend.
Das Erschrecken setzt bei Maria schon vor der Ankündigung ihrer Schwangerschaft ein. Sie zuckt bei der Anrede des Engels:
Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!
förmlich zusammen:
Welch ein Gruß ist das?
fragt sie sich verunsichert. Wieso wird sie, die einfache Frau, auf so wundersame Weise angesprochen? Wieso wird sie, die Frau, die nichts vorzuweisen hat, durch den Engel Gabriel plötzlich als „Begnadete“ aus ihrer Bedeutungslosigkeit gerufen, geachtet, gewürdigt? Wieso findet hier ein Rollenwechsel statt: nicht der Mann Josef, der als Angehöriger des Geschlechtes David eine makellose Herkunft des Kindes garantieren kann, ist Adressat der göttlichen Verheißung. Nein, eine Frau ist es, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal die Seine ist. Das ist mehr als erstaunlich und sprengt alle gesellschaftlichen Konventionen.
Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben …
offenbart der Engel der Maria das zukünftige Geschehen.
Eine Nachricht wie ein Donnerschlag. Eine Nachricht, die Maria verwirrt:
Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Mann weiß?
fragt sie erstaunt zurück. Die Frage versucht weniger eine biologische Unmöglichkeit zu klären. Vielmehr stellt sich die Frage vom sozialen Status der Maria her: Wie kann ich, eine junge Frau, eine Jungfrau, die noch nicht in die Familie des Josef aufgenommen ist, Mutter des Messias und damit Trägerin der Verheißung Israels werden? Ja, das Besondere der Schwangerschaft Marias und der Geburt Jesu werden wir erst richtig erkennen können, wenn wir uns von der biologistischen Frage einer Jungfrauengeburt, von ihrer dogmatischen Überhöhung wie der süßlich-frauenfeindlichen Verniedlichung als Himmelskönigin, lösen. Das Besondere, das Unbegreifliche liegt in einer anderen Tatsache begründet: Ein einfaches Mädchen aus dem Volk, diese Maria, wird von Gott zur Mutter des Messias berufen und so aus der Gefangenschaft von Konventionen, gesellschaftlichen Festlegungen, fixiertem Rollenverständnis befreit.
Das hat eine sehr weit reichende Bedeutung für den Messias. Gott wird mit Jesus nicht nur Mensch, sondern er verbindet sich mit dieser Menschwerdung mit denen von ganz unten. Damit unterstreicht er deren göttliche Würde und befreit sie aus ihrer von oben diktierten, zugewiesenen Rolle. Mit Maria beruft Gott eine Frau, die aus dem Staub der Nichtbeachtung aufgerichtet wird, zur Mutter des Menschensohns. Die Erhöhung und Befreiung der Niedrigen passen zunächst genauso wenig zur Welt dessen, der
groß sein (wird) und Sohn des Höchsten genannt werden(soll)
wie später die Hirten als die ersten Zeugen der Geburt des Gottessohns. Lukas aber lässt in seinem Erzählen diese Sperrigkeit von Anfang an durchscheinen und weist damit auf den späteren Weg Jesu hin. Da wendet sich Jesus den Ausgestoßenen, den Sündern und Zöllnern zu. Damit wird unterstrichen: Der Messias kommt von unten, um die da Oben von ihren Hochsitzen der Überheblichkeit zu vertreiben:
Er stößt die Gewaltigen vom Thron
Und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
Und lässt die Reichen leer ausgehen.
Lukas 1,52.53
singt Maria später im Magnifikat. Da hat sie die Botschaft des Engels verstanden: Die neue Herrschaft Gottes, die der Messias aufrichten soll, schreibt nicht die alten Machtverhältnisse fort, sondern wirft diese um. Die Welt wird vom knechtischen Geist der Unterwerfung befreit und neu geordnet.
Wie ist eine solche Verheißung auszuhalten von einer Frau, der man bis jetzt nichts abverlangt und zugetraut hat? Wie kann es ihr gelingen, an dieser Herausforderung nicht zu scheitern? Der Engel Gabriel sagt zu Maria:
Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; … bei Gott ist kein Ding unmöglich.
Das ist das Entscheidende: Hier geschieht ein Wunder, das Wunder einer revolutionären Wandlung. Wunder aber sind die Sprache Gottes. Durch ein solches Wunder will Gott Maria, will Gott uns aus dem Gefängnis einer puren Wirklichkeitsgläubigkeit befreien. Der Geist Gottes macht uns dazu fähig, die Sprache der Wunder zu verstehen, und der Schatten des Höchsten lässt uns die Widersprüche ertragen, in die wir dadurch geraten: hier die einbetonierten gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen wir leiden; dort die Verheißung der Freiheit, auf die wir hoffen.
Jedoch: Weil bei Gott kein Ding unmöglich ist, wandelt sich alles - auch das, was unumstößlich erscheint. Das hat sich schon bei Elisabeth, der greisen Verwandten von Maria, gezeigt: Sie wurde hoch betagt schwanger und brachte ein halbes Jahr vor Jesu Geburt Johannes zur Welt. Niemand konnte damit rechnen. Auch der alte Priester Zacharias, der Mann der Elisabeth, wollte der Vorhersage der Geburt des Johannes keinen Glauben schenken – und doch ist es geschehen. Niemand hat ja auch mit der Geburt Jesu, mit der Menschwerdung Gottes, gerechnet, war darauf vorbereitet – und doch ist sie geschehen. Niemand konnte ahnen, dass aus Saulus, dem religiösen Fundamentalisten, ein Paulus, der erste Theologe der Christenheit, wird – und doch ist es vor Damaskus geschehen. Niemand hat die Friedliche Revolution 1989 geplant – und doch ist sie gelungen, die Befreiung von Diktatur und Bevormundung. Kaum jemand hält es für möglich, ohne Gewalt Konflikte zu befrieden, die Welt zu ordnen – und doch hat Jesus dafür die Grundlagen geschaffen.
Ein gläubiges Verstehen dieser Geschichte verleiht uns die Fähigkeit, über den Tellerrand dessen, was derzeit ist, zu blicken und uns zu befreien aus den Klauen des Nur-Wirklichen. So werden wir in Augenschein nehmen können, was uns mit Jesus bevorsteht und was durch ihn möglich wird. Jesus hat es in seiner ersten Predigt benannt: den Armen wird das Evangelium verkündigt, den Gefangenen die Freiheit, den Blinden, dass sie sehen, und den Zerschlagenen, dass sie aufgerichtet werden (vgl. Lukas 4,16-20). Das ist die unverzichtbare Weihnachtsbotschaft. Sie gilt es in die Verhältnisse der Armut, in die Gefängnisse, in die Dunkelheit, in die Verzweiflung zu kommunizieren.
Maria kann auf die Verheißung des Engels nichts anderes antworten als:
Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.
Da ist Maria wieder ganz die Frau. Sie freut sich trotz der widrigen Umstände auf das werdende Leben. Doch es ist eines, sich erwartungsvoll auf eine, auch ungewollte Schwangerschaft einzulassen - das andere ist, was auf Maria mit dem heranwachsenden Jesus, auch mit seiner umstrittenen Botschaft, an Zerreißproben zukommt. Die Spannung baut sich ja schon beim 12jährigen Jesus auf. Er reißt sich von seinen Eltern einfach los, emanzipiert sich. Das setzt sich fort, als Jesus wegen seiner Verkündigung und der Hinwendung zu den Gestrauchelten aus Nazareth vertrieben wird und sich schroff von seiner Familie lossagt. Jesus versteigt sich dazu, seine Mutter zu verleugnen, um den Menschen entgegenzuschleudern:
Wer ist meine Mutter? … wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
Markus 3,33.35
Schließlich kommt es dann zur bodenlosen Enttäuschung der Maria, als Jesus den einsamen und schmachvollen Tod eines Geächteten am Kreuz erleidet.
Doch all das kann die Verheißung an die Maria nicht zunichte machen:
Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit …
Das bleibt. Das erweist sich als richtig. Darum treffen wir Maria auch nach der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu wieder im Kreis seiner Anhänger, die nach und nach realisieren: So musste alles kommen. Darum will Lukas schon am Anfang keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, was Sinn und Zweck der Menschwerdung Gottes ist: Menschen in ihrer Niedrigkeit sehen, sie aus ihrer Bedeutungslosigkeit herausrufen, sie durch die Hoffnung stärken. Das zu kommunizieren, ist nicht nur die Aufgabe von Engeln, das ist unsere Berufung. In diesem Sinn vertraue ich darauf, bitte und bete darum, dass Gott jede und jeden von uns neu durch einen Engel überrascht, erfreut und auch erschreckt. So kann Hoffnung neu wachsen. So werden wir aber auch davor bewahrt, uns selbst und andere in eine Rolle zu drängen, in der wir den Geist der Erneuerung durch den Fluch der Selbstbehauptung ersetzen.
In der nun zwei Jahre andauernden Corona-Krise haben wahrscheinlich mehr Menschen, als wir vermuten, Vertrauen, Zuversicht, Hoffnung, Sicherheit verloren. Sie sehen sich in ihrer Individualität verletzt, in ihrer Freiheit bedroht, ihrer beruflichen Tätigkeit beraubt. Manche sehen sich als Opfer einer großen Verschwörung von Wirtschaftseliten, Politik und Pharmaindustrie, sekundiert von einer gleichgeschalteten Presse. Sie wähnen sich in einer Diktatur, aus der sie sich nur durch Widerstand befreien können. Kein Wunder, dass bei denen, die so denken, die Bereitschaft wächst, sich mit zornigem Aufbegehren, auch mit Gewalt aus der vermeintlichen Ohnmacht zu befreien. Doch das ist ein Irrweg. Wäre Maria ihn gegangen, wir wüssten heute nichts mehr von ihr. Sie aber hat sich in ihrer Verlorenheit aufsuchen lassen vom Engel Gabriel und konnte dadurch ihrem Leben eine neue Deutung und Bedeutung geben – jenseits ihrer tristen Lebenswirklichkeit. In ihr wuchs das Heilige, das sie zur Begnadeten machte. Möge in der heiligen Zeit der Weihnacht auch bei uns all das wachsen, was aufrichtet, tröstet, befreit und uns an den Nächsten, die Schwester, den Bruder weist. Möge dieses Wunder des Glaubens geschehen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Christian Wolff, Pfarrer i.R.