Predigt im Abendgottesdienst über Kolosser 3,12-17

  • 07.05.2023 , 4. Sonntag nach Ostern – Kantate
  • Pfr. i.R. Christian Wolff

Predigt über Kolosser 3,12-17

4. Sonntag nach Ostern (Kantate) - Abendgottesdienst

Thomaskirche Leipzig, 07. Mai 2023

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen

12 So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; 13 und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! 14 Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. 15 Und der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. 16 Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. 17 Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn. Kolosser 3,12-17

Heute geht es um die Kleiderordnung. Aber nicht um die, die all diejenigen über Wochen beschäftigt hat, die gestern an der Krönungsmesse für King Charles III. teilgenommen haben. Auch geht es in der Kleiderordnung, die uns der Schreiber des Kolosserbriefes vorlegt, nicht um die Frage: weißer oder schwarzer Talar, mit Stola oder ohne. Wenn der Apostel für die Christen in der kleinasiatischen Stadt Kolossai, im Südwesten der heutigen Türkei gelegen, den Kleiderschrank öffnet, dann werden die Alternativen, in die wir uns oft genug verbeißen - Jeans oder Rock, Krawatte oder Pullover, Nike, Adidas oder Diesel - zweit- und drittrangig.

„… herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld“ - das sind die Modelle, die nach dem Predigttext aus dem Kolosserbrief der Glaube für uns bereithält. Und das Top-Kleid ist die Liebe, die „über alles“ angezogen werden soll. Diese Kleidungsstücke sind nicht geschneidert in den Modeateliers von Paris, Berlin oder Mailand. Sie sind entworfen von Jesus Christus, wurden von ihm getragen - und erschienen manchem seiner Zeitgenoss:innen provokant und unstatthaft. Trotzdem ging von ihnen eine ungewöhnliche Faszination aus.

So ist es nicht verwunderlich, dass in der Passionsgeschichte nach dem Johannesevangelium davon berichtet wird, dass die Soldaten bei der Kreuzigung Jesu seine Kleider unter sich teilten, ohne sie zu zerschneiden. Sie warfen um den Rock Jesu das Los, um diesen als Ganzes zu erhalten. Das kann ja wohl nur heißen: Schon die Soldaten bemerkten, dass es sich bei den Kleidern Jesu um eine exklusive Ware handelt, und dass das Entscheidende, nämlich der Rock, unteilbar ist - will sagen: Es gibt nicht nur ein bisschen Erbarmen, ein bisschen Freundlichkeit, ein bisschen Demut, ein bisschen Geduld, ein bisschen Liebe. Die Modelle christlicher Tugenden wollen ganz getragen werden. Und: Mit ihnen können sich Menschen unterschiedlichster Herkunft kleiden.

Ein Glück, dass das so ist. Ein Glück, dass die Kleider nicht in die Änderungsateliers von uns Menschen gehen können, auch wenn diese unter dem Namen „Kirche“ firmieren sollten. Ein Glück, dass alle diese Kleider mehr sind als ein äußerer Schein. Denn sie zu tragen, bedeutet: einander aushalten, so wie Christus es mit uns oft unerträglichen Menschen ausgehalten hat; Menschen um ihrer selbst willen annehmen, so wie Christus uns angenommen hat; einander vergeben, so wie Jesus Christus uns vergeben hat.

Und wie hat Jesus den Menschen vergeben? Er hat ihnen keine Vorbedingungen gestellt. Er hat nicht gesagt: Zuerst musst du dies oder jenes tun, dann überlege ich mir, ob du es wert bist, dass dir deine Schuld vergeben wird. Vielmehr ist er den Menschen in den Kleidern begegnet, die der Apostel für uns sichtbar auf die Stange gehängt, ausgestellt hat. Erinnern wir uns:

  • Herzliches Erbarmen. Dieses Kleid wird Jesus getragen haben, als er der Ehebrecherin begegnete, die gesteinigt werden sollte. (Johannes 8,1-11)
  • Freundlichkeit. In diesem Kleid wird er aufgetreten sein, als er den korrupten Zöllner Zachäus vom Baum heruntergerufen hat, um mit ihm ein Fest zu feiern. (Lukas 19,1-10)
  • Geduld. In diesem Kleid wird er das Gleichnis von den beiden Schuldnern erzählt haben. Mit diesem antwortete er auf die Frage: Wie oft muss/soll man seinem Bruder/seiner Schwester vergeben? Jesus brachte damit zum Ausdruck: Vergebung ist nicht eine Sache des „Wie oft“, sondern des „Wozu“. Wozu veranlasst mich erfahrene Vergebung? Lege ich weiter die Hartherzigkeit an den Tag wie der Mann, dem zunächst seine Schulden erlassen wurden, der dann aber unerbittlich die Schulden einforderte, die ein anderer bei ihm hatte? Oder ziehe ich das Kleid der Sanftmut an, mit dem im Gleichnis der König auftritt? (Matthäus 18,21-35)
  • Bleibt das Kleid mit Namen Demut. Das hat Jesus wohl getragen, als er am Kreuz die Bitte aussprach „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23,34) Da zeigte sich Jesus in seiner Demut groß gegenüber denen, die ihn brutal erniedrigten.

Ob uns diese Kleider nicht zu groß sind? Dieser Vorbehalt ist weit verbreitet. Deswegen lassen wir Menschen diese Kleider gerne im Schrank hängen (in der irrigen Meinung, irgendwie würden wir da schon hineinwachsen); oder - wenn wir sie herausnehmen - bringen wir sie in die Änderungsschneiderei, machen sie ein bisschen gefälliger, passen sie unserem Geschmack an. Mögen die so veränderten Kleider für sich genommen noch einigermaßen passen; mögen Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld im Minirock noch als Modegag durchgehen - spätestens dann, wenn wir uns mit dem Kleid, das wir über alles anderen anziehen sollen: nämlich die Liebe, schmücken, wird sichtbar, dass ein bisschen Erbarmen, ein bisschen Sanftmut, ein bisschen Vergebung dafür zu kurz geraten sind.

Denn bei dem Modell Liebe handelt es sich nicht um das berühmte Mäntelchen, mit dem alles, was nicht mehr passt, zugedeckt werden soll. Die Liebe macht vielmehr sichtbar, welche Kleider zu uns passen und welche uns verunstalten. Die Liebe verhindert, dass aus Erbarmen Gnadenlosigkeit, aus Güte Arroganz, aus Demut Hochmütigkeit, aus Sanftmut Gleichgültigkeit und aus Geduld Teilnahmslosigkeit wird.

Von Jesus wissen wir, dass für ihn die Liebe die Grundvoraussetzung für die Vergebung, für die Befreiung aus selbst verschuldeter Unmündigkeit ist. Ohne diese Liebe Jesu wären der Zöllner Zachäus ein korrupter Betrüger, die Ehebrecherin eine Hure und der Lahme, dem die Sünden vergeben und der dadurch geheilt wurde, ein psychisches Wrack geblieben. Ohne Vergebung kommt es weder in unserem zerstörten Verhältnis zu Gott, noch in unserem oft kriegerischen Verhältnis zueinander zu Umsteuerungen in Richtung Frieden. Dieser soll aber unsere Herzen regieren, so der Briefschreiber. Ohne diesen Frieden bleibt der Feind ein Feind, und die Angst bleibt Angst, und die Gewalt bleibt Gewalt. Derzeit erleben wir wieder einmal, in welche Katastrophen Menschen und Mächte geraten, wenn die Liebe und der Frieden als notwendige Kategorie für das gesellschaftliche Miteinander und für politisches Handeln einfach ausgeblendet, ausgeklammert werden; was geschieht, wenn wir den Kleiderschrank des Glaubens geschlossen halten: Wir stehen nackt da. Wir sind unserer Menschlichkeit entblößt. Da nutzt es uns gar nichts, wenn wir uns - wie einst Adam im Paradies - hinter dem Busch von angeblicher Rationalität, von Realität, von Sachzwängen zu verstecken versuchen.

Spätestens hier sollten wir merken, dass es sich bei dem sog. Tugendkatalog um mehr handelt als um Anstands- und Moralappelle in Sonntagsreden; dass es bei Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld um mehr geht als um Höflichkeitsfloskeln und freundliche Umgangsformen. Unsere Glaubwürdigkeit ist herausgefordert. Das verdeutlicht der Apostel mit dem letzten Satz des Briefabschnitts:

Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

Hier wird uns ein Maßstab für all unser Reden und Tun an die Hand gegeben, der uns gleichermaßen bescheiden und selbstkritisch machen soll: der Name Jesu Christi. Durch ihn verkommen die fünf Tugenden nicht zu leeren Moralbegriffen, sondern werden zu Auslegungen des Namens Jesu im Alltag unseres Lebens.

Dieser Maßstab des Namens Jesu macht das Leben für einen Christenmenschen nicht gerade einfacher. Doch das ist nur zu unserem Nutzen. Denn nur so können wir als Christ:innen und als Kirche tatsächlich als Salz der Erde und Licht der Welt wirken. Dass wir als Kirche aber gerade damit riesige Probleme haben, machen der horrende, systemisch bedingte, über Jahrhunderte währende sexuelle Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche sowie die unerträgliche Kriegsverherrlichung und ein religiös aufgeheizter Nationalismus in der russisch-orthodoxen Kirche deutlich. Da stimmt nichts mehr in der Kleiderordnung – und das müssen wir gerade als ökumenisch gesinnte Christ:innen endlich offen ansprechen. Die so prunkvollen bischöflichen, patriarchalischen Gewänder, in denen die Verantwortlichen nach wie vor auftreten, machen die Sache nur noch schlimmer. Zu oft ist die apostolische Kleidung zur peinlichen Verkleidung (Luther sprach in seiner letzten Predigt 1546 von „Gaukelsack“) verkommen. Als evangelische Kirche sind wir aber schon längst Teil dieser dramatischen Glaubwürdigkeitskrise. Denn der bzw. die Außenstehende differenziert nicht mehr zwischen den Konfessionen. Zu viele Menschen können im äußeren Auftreten der Kirchen nur noch mit Mühe „herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld“ erkennen. Da werden wir eine ganz neue Sensibilität an den Tag legen müssen bzw. sehr viel direkter den Maßstab des Namens Jesu an unser Tun anzulegen haben, um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.

Das gilt auch für die Frage, die der Predigttext genauso aufwirft wie die gegenwärtige Lage: Wie sollen wir vom „Frieden Christi“, zu dem wir berufen sind, glaubwürdig reden in einer gewalttätigen Welt? Nicht nur im Blick auf den kriegerischen Überfall Russlands auf die Ukraine und das seit 15 Monaten anhaltende grauenhafte Morden und Zerstören. Auch weltweit nehmen die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Völkern zu, gefüttert durch eine rasant wachsende Rüstungsproduktion. Für welche Maßnahmen können, dürfen wir den Namen Jesu in Anspruch nehmen? Oder hat das, was derzeit viele Menschen umtreibt, mit unserer Glaubensüberzeugung nichts tun? Spielt unser Glaube keine Rolle, wenn wir um Krieg und Frieden streiten? Wir kennen das: In dem Moment, in dem wir uns und andere an die apostolischen Tugenden erinnern und sie als verbindlichen Maßstab für vernünftiges Handeln in die Debatte einbringen, müssen wir uns des Vorwurfs der Naivität, der Realitätsferne erwehren. Dabei ist es für niemanden von Schaden, sich diesem kritischen Maßstab zu stellen: Kann ich das, was ich heute getan bzw. nicht getan habe und was ich morgen zu tun und zu reden gedenke, im Namen Jesu, also vor Gott verantworten? Eine solche Frage führt gerade nicht zur moralischen Überheblichkeit. Sie zwingt uns zur Demut, Selbstkritik, Liebe, mündet ein in die Bitte um Vergebung, befähigt zur Umkehr. Denn sie ist eine Frage an mich selbst und nicht an andere. Allerdings befreit sie alle höchst umstrittenen, mit Gewalt verbundenen Maßnahmen vom Nebel des Selbstverständlichen. Wir müssen täglich daran erinnern: Krieg, Gewalt, gegenseitige Verfeindung dürfen sich weder verselbstständigen, noch dürfen sie selbstverständlich werden. Es ist nicht die Aufgabe der Kirche, Glaubensüberzeugungen, ethische Maßstäbe der Wirklichkeit des Krieges anzupassen – also die Kleider Jesu so zurechtzuschneidern, um gegenwärtige Politik absegnen zu können. Unsere Aufgabe ist und bleibt, immer wieder den Kleiderschrank des Apostels zu öffnen, um die Alternativen zum Soldatenmantel und zur Generalsuniform aufzuzeigen.

Das bedeutet: Der Aufruf des Apostels zur kritischen Überprüfung unserer Kleiderordnung möchte unserem Reden und Tun eine neue Glaubwürdigkeit verleihen; d.h. wir haben darauf zu achten, dass die Kleider, die wir aus dem Angebot des Apostels anziehen, uns auch stehen, zu uns passen. Das wird uns am ehesten gelingen, wenn wir all unserer Reden und Tun unter das Vorzeichen der Dankbarkeit stellen. Dankbarkeit ist die Antwort von uns Menschen an den Gott, dem wir unser Leben verdanken. Dankbarkeit ist aber auch der beste Schutz vor Anmaßung und Überheblichkeit, durch die wir nur schuldig werden können, mit denen wir jeder Vergebung im Weg stehen. Darum gehört zur Dankbarkeit notwendig dazu: die Nachdenklichkeit, das Nachdenken über das, was dem Leben, dem Frieden, dem Nächsten dient.

Diese Dankbarkeit ist eine Lebenseinstellung, eine Lebensäußerung des ganzen Menschen. Zu dieser gehört, dass wir uns der Sprache der Musik bedienen:

mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.

schreibt der Apostel an die Christ:innen in Kolossai. Unser Dank verwirklicht sich nicht nur in dem, was wir im Namen Jesu zu leben bereit sind und was wir dadurch zur Liebe und zum Frieden beitragen. Der Dank schlägt sich auch im voller Freude und Zuversicht gesungenen und musizierten Lob Gottes nieder – keine martialische Marschmusik, kein Geplärr, sondern Ausdruck all dessen, was wir jetzt anziehen können: herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld als Ausdruck von Jesu Liebe und Gottes Frieden, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Christian Wolff, Pfarrer i.R.

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