Predigt im Abendgottesdienst über Hohelied der Liebe 3,1-6

  • 28.01.2018 , 3. Sonntag vor der Passionszeit - Septuagesimae
  • The Rev. Dr. Robert G. Moore

Hohelied der Liebe 3,1-6

1 Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. 2 Ich will aufstehen und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. 3 Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: »Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt?« 4 Als ich ein wenig an ihnen vorüber war, da fand ich, den meine Seele liebt. Ich hielt ihn und ließ ihn nicht los, bis ich ihn brachte in meiner Mutter Haus, in die Kammer derer, die mich geboren hat. – 5 Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hinden auf dem Felde, dass ihr die Liebe nicht aufweckt noch stört, bis es ihr selbst gefällt. 6 Wer ist die, die heraufsteigt aus der Wüste wie eine Rauchsäule, wie der Duft von Myrrhe, Weihrauch und allerlei Gewürz des Krämers?

Liebe Gemeinde,

es ist auffallend: vier Mal wird in diesem Abschnitt aus dem Hohelied die Redewendung wiederholt: „der, den meine Seele liebt“. Offensichtlich war dieser Ausdruck dem Autor des Hohelieds besonders wichtig. Das Hohelied spricht von der Liebe – und meint damit auch die Erotik, die Freude an gegenseitiger Zuneigung und körperlicher Nähe.

Worum geht es hier genau? Eine junge Frau sehnt sich auf ihrem Bett nach ihrem Geliebten. Sie sucht überall in der Stadt nach dem, der ihre Seele liebt. Somit erfahren wir, dass es eine gegenseitige Liebe ist. Die Frau findet den, der sie liebt, berührt ihn und will ihn nicht mehr loslassen. Natürlich will sie mit ihrem Geliebten von nun an zusammenbleiben.

In der Vorbereitung dieser Predigt über die Worte aus dem Hohelied habe ich an meine Kindheit auf dem Land im konservativen, prüden Texas gedacht. Damals hat man als Kind und Teenager wenig über die Liebe zwischen Mann und Frau gehört. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern einmal zu mir die Worte gesagt haben: „Ich liebe dich“. Dabei hört jedes Kind dies gern. Vor allem aber haben wir nichts über die erotische Liebe erfahren. Wir mussten allein und ohne erfahrenen Rat uns in der Pubertät mit der erwachenden Erotik und Sexualität auseinandersetzen. Durch dieses Schweigen mangelte es uns an Wissen über uns selbst und über das, was uns so mächtig umtrieb.

Als ich ungefähr 14 Jahre alt war, habe ich ein Mädchen kennengelernt. Ich fand sie sehr schön – und ich hatte das Gefühl, dass auch sie mich wohl irgendwie interessant gefunden hat. Wir haben uns mehrmals lange unterhalten. Wahrscheinlich haben wir auch geflirtet. Eins führte zum anderen … und dann küsste sie mich. Bitte bemerkt: sie hat mich geküsst. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Es hat mir sehr gefallen! Ich wollte diesen schönen Moment noch einmal erfahren und dachte: Ohne sie kann ich nicht leben! Und das mit 14 Jahren! Die Farm von ihrem Vater lag ein paar Meilen von der meines Vaters entfernt. Es war Sommer und ich arbeitete auf unserer Farm. Aber ich konnte nicht aufhören, an die Geliebte zu denken. Am Abend habe ich immer darauf gehofft, dass ich sie in dem Ort, in dem unsere Familien lebten, treffen würde, entweder beim Baseballspiel oder beim Imbiss in der Hauptstraße. Überall, wo ich war, haben meine Augen immer das Umfeld gescannt in der Hoffnung, sie zu entdecken und bei ihr zu sein. Und ich war jedes Mal sehr glücklich, wenn wir uns fanden und zusammen sein konnten.

Nun wird meine damalige Erfahrung nicht einmalig sein. Viele Jugendliche erleben ihre erste Liebe in solcher Weise. Aber auch Erwachsene sehnen sich nach Liebe - nicht nur Männer und Frauen untereinander, sondern auch Männer mit Männern und Frauen mit Frauen. Die Bibel kennt auch solche Beziehungen, zum Beispiel die Liebe von David und Jonatan:

1 Als David aufgehört hatte, mit Saul zu reden, verband sich das Herz Jonatans mit dem Herzen Davids, und Jonatan gewann ihn lieb wie sein eigenes Leben. 2 Und Saul nahm ihn an diesem Tage zu sich und ließ ihn nicht wieder in seines Vaters Haus zurückkehren. 3 Und Jonatan schloss mit David einen Bund, denn er hatte ihn lieb wie sein eigenes Leben. (Erstes Buch Samuel 18)

Und als Jonatan gestorben war, trauerte David:

26 Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonatan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt; deine Liebe ist mir wundersamer gewesen, als Frauenliebe ist. (Das zweite Buch Samuel 1)

Die Bibel berichtet auch von der Liebe zwischen Rut und ihrer Schwiegermutter Naomi.

16b Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. 17 Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden. (Rut 1)

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Das Alte Testament weiß, dass die Liebe zwischen zwei Menschen ein großes Erlebnis sein kann, das der liebenden Erfahrung zwischen Mensch und Gott ähnlich ist. Darum ist es gar nicht so leicht, zwischen beiden Erfahrungen zu unterscheiden. Wir sehnen uns nach dem, der uns liebt: ein Mensch, ein Mann, eine Frau – aber auch Gott. Die menschliche Sehnsucht nach Liebe ist sehr stark. Auch die, die nicht geliebt sind, machen sich auf die Suche nach jemandem, der sie liebt. Wir wissen nicht, wie wir unterscheiden können zwischen der begehrenden Liebe zwischen Menschen und der Liebe zwischen Mensch und Gott.

Die Kirche hat sich lange sehr schwer damit getan, die erotische menschliche Liebe mit der Liebe zwischen Mensch und Gott zu vergleichen. Der Heilige Augustinus wollte sicherlich eine klare Trennung zwischen erotischer Liebe und die Liebe zu Gott. Aber in seinen „Bekenntnissen“ hören wir deutliche Worte, die sicherlich aus einer tiefen Liebe herauskommen.

Spät hab´ ich Dich geliebt, o Schönheit,

immer alt und immer neu, spät hab´ ich Dich geliebt!

Und sieh´, Du warst in mir;

ich aber suchte Dich draußen

und warf mich an die schönen Dinge weg,

die doch nur Deine Schöpfung sind.

Du warst bei mir; doch ich war nicht bei Dir;

die Schöpfung hielt mich fern von Dir

und hätte doch außer Dir keinen Bestand.

… Du hast Deinen Duft verströmt,

ich habe ihn eingeatmet und nun sehne ich mich nach Dir.

Ich habe Dich gekostet;

nun hungere und dürste ich nach Dir.

Du hast mich berührt,

und nun brenne ich vor Verlangen nach Deinem Frieden.

(„Bekenntnisse“, Buch 10)

 

Hier sehen wir, dass die menschliche Liebessprache geeignet ist, die Beziehung zwischen Gott und Mensch zu beschreiben, ohne dass diese auf Erotik oder Sexualität reduziert wird. So kann dann das Hohelied der Liebe in zweifacher Weise gelesen werden: als Liebeserklärung eines Mädchens an ihrer Geliebten und als Bild von der Liebe Gottes zu uns Menschen.

 

Auch Johann Sebastian Bach hat in seiner Musik Gott als Liebhaber dargestellt, zum Beispiel zu Beginn seines Weihnachtsoratoriums:

 

„Nun wird mein liebster Bräutigam,

nun wird der Held aus Davids Stamm

zum Trost, zum Heil der Erden

einmal geboren werden …“

 

und weiter:

 

„Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben,

den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn!

Deine Wangen müssen heut viel schöner prangen,

eile, den Bräutigam sehnlichst zu lieben!“

 

Auch in Bach’s Kantate „Ich geh und suche mit Verlangen“ wird gesungen:

 

Ich geh und suche mit Verlangen

Dich, meine Taube, schönste Braut.

Sag an, wo bist du hingegangen

Dass dich mein Auge nicht mehr schaut?

 

Der Mensch kann sein eigenes Selbst nicht erkennen, ohne die liebende Zuwendung des und zum Anderen. Der Andere kann der Freund, die Tochter, der Vater, die Mutter usw. sein. Der Andere kann vor allem aber auch der oder die Liebende sein, der mich als den Geliebten erkennt. Denkt noch mal daran, dass in dem Abschnitt aus dem Hohelied vier Mal wiederholt wird: Der Liebende ist der, der die Seele der Geliebten liebt. Wenn wir das auf Gott beziehen, dann bedeutet dies:

Gott ist da und kann gesucht werden - aber nur als der, der uns schon liebt. Wer nur jemand sucht, der ihn nicht liebt, geht leicht irre.

Und ein letztes Beispiel von der Heiligen Teresa von Avila. Sie beschreibt ihre eigene Erfahrung mit Gott auch in der Sprache der Liebe. Sie bietet ein wunderbares Verständnis von der Liebe: Die Geliebte trägt ein Bild des Liebenden im Herz, damit sie sich erkennen kann im Wesen des Liebenden.

Die Liebe hat in meinem Wesen

dich abgebildet treu und klar:

Kein Maler lässt so wunderbar,

Geliebter, deine Züge lesen.

Hat doch die Liebe dich erkoren

als meines Herzens schönste Zier.

Bist du verirrt, bist du verloren:

Geliebter, suche dich in mir!

In meines Herzens Tiefe

trag’ ich dein Porträt, so echt gemalt.

Sähst du, wie es vor Leben strahlt,

verstummte jede bange Frage.

Und wenn dein Sehnen mich nicht findet,

dann such nicht dort und such nicht hier:

Gedenk, was dich im Tiefsten bindet:

Geliebter, suche mich in dir!

Du bist mein Haus und meine Bleibe,

bist meine Heimat für und für:

Ich klopfe stets an deine Tür,

dass dich kein Trachten von mir treibe.

Und meinst du, ich sei fern von hier,

dann ruf mich, und du wirst erfassen,

dass ich dich keinen Schritt verlassen!

Geliebter, suche mich in dir!

--Teresa Avila (1515-1582)

 

Liebe Gemeinde, noch einmal zurück zu meiner Jugendliebe, das Mädchen in Texas! Wenn ich an sie denke, dann bin ich immer noch verwirrt und ich spüre immer noch diese starke Liebe meiner Jugend … und manchmal ähnelt diese intensive Liebe meiner Liebe zu Gott.

Die Kirche und die sogenannte christliche Gesellschaft haben sich schwergemacht, die menschliche Liebe mit der erotischen Dimension und der Liebe an Gott zu versöhnen. Früher hat die Kirche darauf bestanden, dass die Liebe, die in Jesus Christus lebendig geworden ist, überhaupt nichts mit der menschliche Liebe zu tun hat. Der Eros liebt den Geliebten, um von dem Geliebten etwas zu bekommen—sein Selbst, während die Liebe Gottes, d.h. die Agapé, eine Liebe ist, die das Selbst um des Anderen willen verschenkt.

Heute aber und in der Freude und Dankbarkeit für die Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus können wir nichts aus dem menschlichen Leben ausklammern. Gott ist gegenwärtig im Leiden und Wohlsein, in der Traurigkeit und Freude, aber auch in der Einsamkeit und in der Liebe zwischen zwei Menschen. Das Hohelied der Liebe lädt uns ein, Gott genau da zu finden, wo die menschliche Liebe den Menschen treibt – zur Liebe. Nur dürfen wir nicht den Fehler begehen, solche Liebe für Gott selbst zu halten. Das ist sie nicht. Die menschliche Liebe ist ein Zeichen dafür, dass wir uns nach Liebe sehnen – und das ist immer auch ein Sehnen nach Gott. Wie der Heilige Augustinus geschrieben hat,

„Zu dir hin, o Gott, hast du uns erschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“  --Augustinus (354 – 430)

The Rev. Dr. Robert Moore, Reformationsbotschafter der Stadt Leipzig und Vertreter der Evangelical Lutheran Church in America
rgmoore.moore@gmail.com