Predigt im Abendgottesdienst über 1. Thess. 5,1-6
- 08.11.2020 , Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
- Prädikantin Dr. Almuth Märker
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen
Der Predigttext steht im 1. Thess. 5, 1-6 : „Von den Zeiten aber und Stunden, Brüder und Schwestern, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen: »Friede und Sicherheit«, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entrinnen.
Ihr aber seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.“
Der Herr segne an uns sein Wort.
Paulus schaut aus dem Fenster. Draußen das geschäftige Treiben einer antiken Großstadt, Athen oder auch Korinth. Amphoren auf Karren, Männer im Gespräch, Kinder in Begleitung der Mütter. Die Sonne sticht. Der Schatten der Schreibfeder fällt auf den Papyrus, den er gerade beschreibt. Er macht sich Sorgen, er macht sich Sorgen um seine frisch gegründete Gemeinde in Tessalonich [heute Thessaloniki]. Er kann nicht dort sein. Während er den Blick auf die spielenden Kinder draußen richtet, gehen seine Gedanken zu den Männern und Frauen seiner Gemeinde, die er verlassen musste. Tränen rollen über sein Gesicht.
Sie schaut aus dem Fenster. Draußen das geschäftige urbane Treiben einer modernen Stadt, wieder eine Gruppe vor dem berühmten Denkmal. Frauen im Gespräch, Kinder in Begleitung der Väter. Die Herbstsonne bricht durch die Wolken. Der Schatten der Kaffeekanne fällt auf die Tastatur, in die sie gerade tippt. Sie macht sich Sorgen um ihre Gemeinde. Sie kann nicht bei ihr sein. Ihre Gedanken gehen zu dem jungen Paar, das sie erst kürzlich getraut, zu dem jungen Mann, den sie getauft hat. Tränen rollen über ihr Gesicht.
Paulus schreibt. Und schafft dadurch Verbindung.
Tatsächlich sind es zwei Briefe an die Gemeinde in Thessalonich, die seit ihrer Entstehung Mitte des 1. Jahrhunderts aufbewahrt, immer wieder abgeschrieben und verbreitet wurden und schließlich in den biblischen Kanon Aufnahme fanden. Mitte des 1. Jahrhunderts, also um das Jahr 50 – das ist nur ca. 20 Jahre nach Tod und Auferstehung von Jesus. Damals gab es noch nicht viele Gemeinden, der Glaube war noch jung, frisch und unverbraucht … wie die Liebe bei einem frisch verliebten Paar. Die Gemeinde in Thessalonich war die erste, die Paulus auf dem europäischen Festland gegründet hatte. Schnell war sie gewachsen, hatte an Zusammenhalt und Belastbarkeit gewonnen, weil gerade auch aus der gehobenen Mittelschicht sich Männer und Frauen vom Evangelium Jesu Christi hatten anstecken lassen. Doch genau diese nach außen spürbare Prosperität war ihr zum Problem geworden. Die etablierte Gemeinde in der Synagoge empfande christliche neu gegründete und dabei wachsende Gemeinde mit ihrer jugendlichen Frische und dem zunehmenden Einfluss in der Stadtbevölkerung als Bedrohung. Auch die Stadtoberen wurden aufmerksam und twitterten Gefahr. Paulus erhielt den versteckten Hinweis, dass seine Festnahme drohe. Er musste fliehen. Da saß er nun, Hunderte von Kilometern von Thessalonich entfernt.
Wie die Gemeinde von Ferne stärken? Wie ihr dazu verhelfen, dass das junge Pflänzchen der Gemeinschaft in Jesus Christus nicht eingeht?
Durch Schreiben.
Paulus schreibt von seinem Trennungsschmerz: dass diese Flucht, die ihm nicht leicht gefallen sei, ihn vor dem Tod bewahrt habe. Paulus schreibt von seiner Sehnsucht: dass er sich der Gemeinde trotz der räumlichen Trennung verbunden fühle und, weil er sich um sie sorge, ihnen zur Unterstützung im Glauben seinen Gefährten Thimoteus [das ist der, an den adressiert ebenfalls zwei Paulus-Briefe überliefert sind] vorbeischicken werde. Und Paulus schreibt von seiner überschäumenden Freude darüber, dass es die Gemeinde überhaupt gibt.
Doch wie eine Grundschullehrerin, die ihre Kleinen ganz plötzlich auf der Hälfte des ersten Schuljahres verlassen musste, schreibt Paulus daneben auch über Themen des christlichen Einmaleins. Dazu gehört – und da sind wir bei unserm Predigttext – die Zeit, zu der Jesus Christus wiederkommen wird: die Wiederkunft Christi. „Parusie“ nannten das die griechisch sprechenden Christinnen und Christen, auf Deutsch „Erscheinen“. - „Wie warten dein, o Gottes Sohn, und lieben Dein Erscheinen.“ [gesungen] (EG 152), so singen wir heute im Wochenlied.
Auch viele Lieder, die wir im Advent singen, drücken die Sehnsucht nach Jesu Erscheinen aus. So sangen wir Jahr in der Singschule St. Thomas : „Oh komm, oh komm Emanuel, nach dir sehnt sich dein Israel.“ Im Advent fällt es uns nicht schwer, die Sehnsucht nach Jesus zu formulieren. Dann erwarten wir das Kommen des Herrn als Kind in der Krippe, ersehnen die Geburt von Gottes Sohn als Mensch. Doch die Parusie – das Erscheinen Jesu und seine Wiederkunft – bedeutet, an das Ende zu denken. Paulus war diese wichtige Überlegung eine schriftliche Lehreinheit wert. Den „Tag des Herrn“ sehnten die Menschen herbei. Wann würde das sein, so fragten sie sich. Paulus schreibt seiner Gemeinde nach Thessalonich, dass man über das „Wann?“, alsonüber den Zeitpunkt nichts sagen könne. Das einzige, was man tun kann, ist gefasst sein, dass es passieren wird. Und zwar plötzlich, ohne Vorankündigung, gleich einem Überfall. Für das Plötzliche, das Überfallenwerden hat Paulus gleich zwei Metaphern parat: den Dieb in der Nacht und eine Schwangere, bei der plötzlich die Wehen einsetzen. Das Bild des Diebes gefällt mir nicht so gut; es sperrt sich dem Verständnis meines Herzens, denn den „Dieb, der in der Nacht kommt“ assoziiere ich mit Einbruch, Gewalt, Unrecht. Dagegen finde ich viel eher Zugang zum Bild der Schwangeren. Ja, irgendwann sind die Tage der Schwangerschaft erfüllt, irgendwann ist sie an ihr Ende gelangt, irgendwann setzen die Wehen ein. Aber wann genau? Das weiß die Schwangere nicht. Das weiß nur das Neue, das sich da Bahn brechen wird. In den Wehen der kreißenden Frau …, in diesem einen Moment stürzt alles, was hinter ihr liegt, in den Abgrund der Vergangenheit. Und in diesem selben Moment rückt das Neue, Niegeahnte, Nieerlebte ins Licht des Lebens.
Dass die Mitglieder seiner Gemeinde auch zum Licht gehören mögen, das wünscht sich Paulus inständig. Licht und nicht Finsternis, heller Tag und nicht das Dunkel der Nacht möchte er ihnen zuordnen. Dafür sollen sie sich entscheiden. Er mahnt sie eindringlich dazu. Dabei macht er eine Dichotomie auf ... und schafftt Fronten:
- Die da dort im Dunkeln, im Verderben.
- Ihr hier bzw. Wir hier im Hellen als Kinder des Lichts und Kinder des Tags.
Wenn das so einfach wäre! Wenn die Welt so in Schwarz und Weiß und in Hell und Dunkel zu unterteilen wäre. Ich lese bei Paulus nach, welchen Mechanismen die auf der dunklen Seite folgen: „Wenn sie sagen: 'Friede und Sicherheit', dann überfällt sie schnell das Verderben.“ Wie oft, liebe Gemeinde, spreche ich selbst von „Frieden und Sicherheit“?! Wie oft wähne ich mich angekommen, glaube mein Ziel bereits erreicht zu haben! Wie oft aber gerate ich dadurch in die bequeme Haltung der Selbstzufriedenheit. Gerade in der scheinbaren Sicherheit – da lauert die Gefahr der geistlichen Trägheit. Aus dem Dunkel springt sie mich an und verhindert das Neue, den Neuanfang. „Frieden und Sicherheit“ - wer darauf wartet, dass Christus erscheint und im Leben eine Rolle spielt, der scheint die liebgewordenen, einschläfernden, dämmerlichtigen Sicherheiten aufgeben zu müssen. Das ist leicht gesagt. Aber dafür sind wir Gemeinde. Ich bin nicht allein. Paulus schreibt: „Lasst uns!“ Wir sind viele. So wenige wir sind. Wir sind viele, und wir können uns gegenseitig unterhaken, um wach zu bleiben und wachsam zu sein. Damit wir das Erscheinen des Herrn, damit wir den „Tag des Herrn“ nicht verschlafen. (Um in der Übung zu sein, feiern wir jeden Sonntag als einen kleinen „Tag des Herrn“ - dies domini.) Vor dem Dunkel muss uns dabei nicht grauen: „Gott will im Dunkel wohnen und hat es selbst erhellt.“ (EG 16, 5).
Von heute an, liebe Gemeinde, von diesem Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres an gehen wir dem Ende entgegen. Wir wissen uns gefangen in der Paradoxie dieses Endes. Denn es ist immer auch der Anfang von etwas Neuem. Unbestimmbar durch uns und aber vorherbestimmt durch Gott. Ungewiss in dem, was es für uns bedeuten wird und aber die größte Gewissheit, die Gott uns schenkt. Unvollendet in dem, was wir zu tun in der Lage sind und aber immer schon vollendet durch Gott, unsern Herrn.
So kann aus der Gefangenschaft von uns Menschen unsere Freiheit als Christinnen und Christen werden. Wir wissen uns geborgen in der Paradoxie des Endes.
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne ...“, schreibt Hermann Hesse in seinem „Stufen“-Gedicht mit der Erfahrung von Transzenz, nachdem er von langer schwerer Krankheit genesen ist. Wir dagegen, die wir an Jesu Tod und Auferstehung glauben, können diesen Satz anders formulieren:
Und jedem Anfang wohnt ein Ende inne. Und jedem Ende ein Anfang.
Paulus. Die Träne löst sich von seiner Wange, tropft auf den frisch beschriebenen Papyrus und verwischt dabei die kleine Schlaufe des Alpha in „charin“.
Die moderne große Stadt 2020. Sie schiebt den Stuhl zurück, wirft das Taschentuch in den Papierkorb und beschließt ihre Gedanken an die Gemeinde, die ihr so am Herzen liegt, bei der sie aber jetzt nicht sein kann, mit einem tiefen „Amen“.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Beginnen in Christo Jesu.
Amen
Dr. Almuth Märker, Prädikantin an St. Thomas
almuth.maerker@web.de