Predigt im Abendgottesdienst am 1. Weihnachtsfeiertag

  • 25.12.2021 , 1. Christtag
  • Rev. Dr. Robert G. Moore

Die Predigt für Christfest 1

25. Dezember 2021 um 18.00 Uhr

Thomaskirche zu Leipzig

The Reverend Dr. Robert Moore, Gastpfarrer

 

Wochenspruch: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.“ Johannes 1,14a

 

Lesung und Psalm:

Psalm 96

Johannes 1,1-5, 9-14 (Predigttext)

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

„Sticks and stones may break my bones, but words will never hurt me.") Auf Deutsch: „Stock und Stein brechen mein Gebein, doch Worte bringen keine Pein" Den Spruch habe ich auf dem Spielplatz in der Grundschule gelernt. Denn Hänseleien, die unter Kindern üblich sind, können oft gnadenlos sein. Wenn mich andere Kinder mit Worten zu erniedrigen versuchten, habe ich mich mit diesen Worten zu wehren versucht: „Sticks and stones may break my bones, but words will never hurt me.“ Manchmal habe ich sie schnell und kraftvoll ausgerufen. Dennoch war zu spüren, dass ich den Inhalt des Spruchs nicht wirklich glaubte. Ich benutzte die Redewendung nur, um die Hänseleien meiner Mitschüler zu unterdrücken. Deren Worte taten weh und waren oft peinlich. Stöcke und Steine mögen Knochen brechen. Doch wann passiert das? Aber Worte, die können einen wirklich tief verletzen.

 

Worte sind eben mehr als ausgesprochene Laute oder aneinander gereihte Buchstaben. Worte haben eine große, tiefe Bedeutung. Das spürt man auch dem Schreiber des Johannesevangeliums ab. Er war ein Kind seiner Zeit. Da ging man sehr vorsichtig mit Worten um. Worte übten eine unvorhersehbare Macht aus. Worte machten das Undenkbare begreifbar. Mit Worten konnte man Menschen verfluchen, mit Worten konnte man sie segnen. Der Unterschied zwischen Leben und Tod hing von einem Wort ab. Die Menschen der Antike waren in Bezug auf die Macht des Wortes viel realistischer als wir heute. Zur Zeit Jesu hätte man nie jemanden sagen hören: „Stock und Stein brechen mein Gebein, doch Worte bringen keine Pein". Für die Menschen der Antike existierte das Wort schon vor der Schöpfung. Zu Beginn der Geschichte von der Erschaffung der Welt heißt es, dass die Schöpfung aus dem Nichts durch die bloße Kraft von Gottes Wort entstand. Gott sprach: "Es werde Licht..., es werde der Himmel, es sammle sich das Wasser unter und über dem Himmel, die Erde bringe Lebewesen hervor."

 

Das Wort ist eine schöpferische Kraft. Im Englischen gibt es noch eine Redenart: „The pen is mightier than the sword.“ Auf Deutsch: „Die Feder ist mächtiger als das Schwert“. Ja, das stimmt. Neulich erzählte mir ein an Krebs erkrankter Mensch, wie ihn der Ausruf des Arztes befreit habe. Der Arzt betrat das Krankenzimmer und rief aus: "Gutartig". Ein Wort, das Verzweiflung in Hoffnung verwandelte.

Leider hat die Wertschätzung des Wortes abgenommen. Wir sehen das Wort nicht mehr als eine Kraft. Wir behandeln Worte so, als wären sie nur Zeichen, mit denen wir die Dinge beschreiben. So gehen wir auch mit dem Wort Gott um – auch dann, wenn wir zu beschreiben versuchen, wer Gott ist: Gott ist ein Mysterium. Gott ist heilig. Gott ist ewig. Gott ist omnipotent. Gott ist allwissend. Gott ist unsterblich. Wir gehen die Attribute für Gott durch wie eine Einkaufsliste für Lebensmittel. Wir haken jedes Attribut ab, als wäre es ein Glas Gurken in Reihe 3 im Supermarkt. Aber wir denken nie an das Wort als die Kraft, durch die die Welt geschaffen wurde. Ich habe schon viele Beschreibungen für Gott gehört. Aber Gott als "das Wort" zu bezeichnen, ist ungewöhnlich.

 

Der Evangelist Johannes stellt an den Anfang dieses Verständnis von Gott:

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Er war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch ihn entstanden, und ohne ihn ist nichts von dem entstanden, was entstanden ist“. (Verse 1-3)

 

Damit folgt der Evangelist dem hebräischen Verständnis des Wortes als schöpferische Kraft. Es ist die Energie des Wortes, die den Kosmos ins Leben ruft. Doch dabei lässt er es nicht bewenden. Für ihn ist das Wort nicht nur Kraft, sondern das Leben an sich:

 

„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, eine Herrlichkeit wie eines einzigen Vaters Sohn, voller Gnade und Wahrheit.“ (v. 14)

 

Diese Worte sind eine Überraschung. Wir können eher akzeptieren, dass im Anfang das Wort war, dass das Wort bei Gott war und sogar, dass das Wort Gott war. Aber was ist mit der Ankündigung, dass das Wort Fleisch wird und unter uns wohnt? Wir wählen unsere Worte sauber, ordentlich, kategorisch. Aber haben wir eine Ahnung davon, was geschieht, wenn das Wort Fleisch, also lebendig wird?

 

Johannes stellt an den Anfang seines Evangeliums eine zunächst fremde Botschaft: Der Gott, der uns durch das Wort geschaffen hat, hat sich als Fleisch gewordenes Wort den Bedingungen dieser Welt unterworfen, ohne davon überwunden zu werden (Paul Tillich). Lassen Sie mich diesen Gedanken wiederholen: Der Gott, der uns durch das Wort geschaffen hat, hat sich als Fleisch gewordenes Wort den Bedingungen dieser Welt unterworfen, ohne davon überwunden zu werden.

 

Das Wort ist nicht nur ein Zeichen, das eine himmlische Wirklichkeit beschreibt, die im Gegensatz zur sichtbaren Welt steht. Das Fleisch gewordene Wort ist eine Kraft, die in unserer Welt eingetreten ist, um uns die Gegenwart Gottes zu offenbaren. Die Religionen des Altertums boten Wege an, um den Bedingungen dieser Welt zu entkommen. Die Erwartung war, dass Gott dem Menschen einen Weg aus dieser Welt, den Weg aus der Geschichte, den Weg aus dem Leiden zeigen würde. Das in Jesus Christus fleischgewordene Wort setzt dieser Erwartung die Verheißung entgegen, dass Gott sich in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Gott kommt zu uns, dringt in unsere Wirklichkeit ein!

 

Das Wort ist nicht nur die Kraft, die die Welt erschafft. Es ist auch die Kraft, die mit den Bedingungen dieser Welt kämpft und sie überwindet. Das Wort tritt in diese Welt ein, um zu offenbaren, wer Gott ist, ohne Gott auf eine Sache, eine Tatsache, ein Datum zu reduzieren. Die letzte Strophe des heutigen Evangeliums verkündet:

 

„Niemand hat Gott je gesehen. Gott, der einzige Sohn, der dem Herzen des Vaters nahe ist, hat ihn bekannt gemacht“. (v. 18)

 

Wenn Menschen erfahren, dass ich Pfarrer bin, werde ich in den Vereinigten Staaten gelegentlich mit einer Frage konfrontiert: Wie stehen Sie zur Abtreibung, zur globalen Erwärmung oder zur Todesstrafe? Ich bin mir immer unsicher, was die Fragesteller als Antwort erwarten. Wahrscheinlich wollen sie irgendwelche klaren moralische Urteile (und Verurteilungen) hören. Aber reicht das, die richtige moralische Einstellung zu haben? Wenn Gott nur zu sagen hätte, dass die Menschen die Gebote halten sollen, dann hätten wir das fleischgewordene Wort nicht gebraucht.

 

„Das Gesetz wurde tatsächlich durch Mose gegeben; Gnade und Wahrheit kamen durch Jesus Christus“. (v. 17)

Ja, bei Jesus geht es um Gnade und Wahrheit, und nicht um moralische Richtigkeit. Deswegen ist Gott dort gegenwärtig, wo Menschen gescheitert sind – an sich selbst oder an anderen. Gott ist als fleischgewordenes Wort dort gegenwärtig, wo wir ihn kaum vermuten: in der Todeszelle, am Bett eines Sterbenden, in den vom Tornado zerstörten Städten, in der Frau, die abtreiben will.

 

Das Werk des fleischgewordenen Wortes besteht darin, uns zu offenbaren, was Gott tut. Die Aufgabe der Kirche ist es, zu verkünden, was Gott im fleischgewordenen Wort offenbart hat. Gott schenkt uns sein Wort, das in Jesus lebendig geworden ist. Durch die Inkarnation, also die Fleischwerdung, durch sein bemerkenswertes Leben, durch seinen Tod und seine Auferstehung werden wir in der Taufe mit ihm verbunden, um dadurch in der Welt als Kinder Gottes zu leben. So wird das Wort zu einer Kraft, die offenbart, was Gott bewirkt, und damit unsere Wörter verändert: „Stock und Stein brechen mein Gebein“, doch das Wort kann dich heilen.

 

Ihnen ein frohes Weihnachtsfest! Amen.