Predigt im Abendgottesdienst

(Der Gottesdienst wurde musikalisch gestaltet vom Gospelchor der Gemeinde "open up wide")

  • 10.12.2017 , 2. Advent
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen

 

Der Predigttext steht beim Propheten Jesaja im 63. Kapitel.

15 „So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.

16 Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name.

[...] 19 Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,

64,1 Wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kund würde unter den Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! Auch hat man es von alters her nicht vernommen. Kein Ohr hat gehört, kein Auge gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren."


„Ach wenn es doch erst wieder Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, ... Sonntag wär und ich bei meiner Laurentia wär, Lauräänzia wär." So geht ein Kinderlied, das im Kreis zu singen ist und mit einigen sportlichen Herausforderungen - dem in die Knieegehen bei „Laurenzia" - verbunden ist. Das Wörtchen „Ach" zu Beginn dieses Liedes bildete für mich die assoziative Brücke zwischen diesem Kinderlied und unserm Predigttext: „Ach, wenn es doch erst wieder ..." seufzt es etwas selbstironisch sehnsüchtig; ein Spiel. - „Ach, dass Du den Himmel zerrissest! Ach, wenn Du doch herabführest." So heißt es in unserm Predigt bei Jesaja. Dieses „Ach" ist ein Seufzer ganz anderer Art. Es ist ein Stoßsufzer aus tiefstem Herzen. Im Alltag gibt es auch das lapidar und leicht hin gesagte Ach: „Ach, komm doch mal wieder vorbei." Wenn ich dann nicht bei der Freundin vorbei komme, ist es auch nicht so schlimm. Aber hier, dieses Ach: Es ist ein essentielles. Es geht sozusagen ums Ganze, es geht an die Substanz. Aus tiefster Seele und aus voller Kehle ruft, ja schreit hier Jesaja zu Gott: Ach, wenn Du doch herabführest!

Ein Schrei, ein Wunsch? Da muss die Not groß sein.
Damals: ein ganzes Volk - das Volk Israel - im Exil. Und heute: eine ganze Bevölkerung um - bis zu 80, 90 Prozent - säkular. Damals: ein ganzes Volk im Exil, ohne Rückbindung an den Tempel. Und heute: eine ganze Bevölkerung orientiert an Lebensmaximen und Lebensinhalten, in denen Gott nicht vorkommt. Eine ganze Bevölkerung ohne Rückbindung an das Heilige, das von Gott kommt. Rückgebunden an vieles andere zwar, das als heilig bezeichnet wird. „Heilig ist mir ..." Bitte, liebe Gemeinde, ergänzen sie diesen Satz selbst und jede und jeder für sich. Ich möchte nicht von oben herab mutmaßen, was für Heiligtümer Sie zu den Ihren erklärt haben. Das reicht vom „Mittagsschlaf am Wochenende" über die „Sportschau" bis hin zum „heiligs Blechle", wie das Auto andernorts gelegentlich genannt wird. Ich selbst habe solche Rituale und Nischen im Alltag, die ich für heilig erklärt habe, obwohl sie nichts mit Gott zu tun haben. Darüber zu urteilen - Sie deshalb abzukanzeln - kommt nicht in Frage. Und lassen Sie uns das fein unterscheiden: Diese Nischen und solches Liebgewordene sind ganz legitim, wenn es darüber hinaus um Gott geht in meinem Leben.

Der Schrei, das große „Ach, wenn Du doch vom Himmel herabführest, Gott!", das zerreißt dann die Kehle des Beters oder der Beterin, wenn die Welt, wenn die unmittelbare Lebenswirklichkeit ohne Gott auskommt. Meint, ohne Gott auskommen zu können.

Heute feiern wir den Abendgottesdienst am 2. Advent als Gottesdienst mit dem Gospelchor. Ich ahne, ich weiß es, dass viele von Ihnen extra wegen dieser besonderen Musik, wegen der Gospels gekommen sind. Wir feiern also Gottesdienst gemeinsam: Die Gemeinde des Abendgottesdienstes an St. Thomas, die ich auch bei anderen Gelegenheiten hier sehe. Und sozusagen das Fanpublikum des Gospelchors. Ich freue mich über jedes einzelne Gesicht, das hier ist. Seien Sie willkommen: Sie, die Sie vielleicht jeden Sonntag hier zur Kirche gehen. Und Sie, die Sie womöglich ganz selten in den Gottesdienst gehen und heute gekommen sind, um mit dem Gospelchor zu swingen, sich von ihm mitreißen lassen wollen.
Wie hören Sie denn dieses „Ach!" von Jesaja. Beklagen auch Sie, dass Gott bei so vielen Menschen anscheinend verloren gegangen ist? Oder gehören Sie vielleicht - ganz offen gestanden - zu denjenigen, die sagen: „Es geht doch auch ganz gut ohne Gott, ohne Glaube, ohne Kirche."
Jesaja urteilt über sich und seine Zeitgenossen: „Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde."
So sind wir geworden: Eine Gesellschaft, über der Dein Name, Gott, nie genannt wurde.

Warum sind die prophetischen Texte so brandaktuell? Das frage ich mich oft. Die Propheten hatten nicht so sehr Visionen und Gesichte, Ihnen erschien nicht etwa ein künftiges Ereignis im Traum, über das sie dann predigten. Sie benannten vielmehr die Dinge, wie sie waren, nannten sie beim Namen. Sie übten schonungslose Kritik, nahmen kein Blatt vor den Mund.
„Wir sind geworden wie solche, über die Dein Name, Gott, nie genannt wurde." So schonungslos ist unsere Gesellschaft zu charakterisieren. So schonungslos muss diese Kritik lauten. Es ist eine Selbstkritik.

Und dann? Dann kommt er, der essentielle Stoßseufzer. Ach, wenn Du doch vom Himmel herabführest! Wie hat dieser Wunsch - Gott fährt vom Himmel herab - in der Vorstellung des Jesaja ausgesehen? Wie sieht denn unsere Vorstellung davon aus, wenn Gott mal herabführe, wenn er eingriffe, wenn er mal so richtig durchgreifen würde?
Jesaja stellt es sich so vor, ja: man hört sein starkes Sehnen heraus: „wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht" - Das ist ein Durchgreifen Gottes mit mächtiger Gewalt, mit solcher demonstrierter Kraft, dass alle davor erzittern müssen. Ein Säbelrasseln ist von dieser Vorstellung wohl nicht weit entfernt. Sogar die Natur würde sich nach Jesajas Ankündigung vom Kopf auf die Füße stellen, wenn Gott herabkäme, wenn er vom Himmel Tor und Tür, wenn er Schloss und Riegel abrisse: die Berge zerflössen.

Aber, lieber Jesaja, weit gefehlt! Es wird eben nicht durch Heer oder Kraft geschehen, sondern durch Gottes Geist, wie es Dein Kollege im Prophetenamt, Sacharja (4,5), so schön formuliert.
Das Feuer, das das Reisig verbrennen kann, und das Feuer, das Wasser zum Sieden bringt, ist eben nicht gewalttätig nach unserer menschlichen Vorstellung. Es ist nicht gewalttätig, sondern es ist gewaltig. Es ist durchtränkt von der Kraft, die von Gott ausgeht.

Welche Gestalt hat diese Kraft, die von Gott ausgeht?
Liebe Gemeinde, die Antwort ahnen Sie schon - heute im Gottesdienst zum 2. Advent. Die Gestalt, die Gott sich selbst gibt, in der er oder sie vom Himmel herab zu uns auf Erden fährt, ist keine rauschende, schillernde, säbelrasselnde, gewalttätige. Sondern es ist die Gestalt seines Sohnes. Die Gestalt eines hilfsbedürftigen neu geborenen Kinds in der Krippe, die Gestalt eines Outlaws, die Gestalt eines Geschundenen und Verspotteten, am Ende ans Kreuz Geschlagenen. Das hat sich wirklich kein Mensch vorstellen können, als alle noch auf den Messias hofften und Jesus noch nicht in die Welt gekommen war: dass da ein Knecht, ein Kleiner im Sinne von Geringer, ein Schwacher von Gott kommen werde.

Wie ähnlich ist eigentlich diese Gestalt Gottes Ihnen, liebe Gemeinde? Wie ähneln umgekehrt Sie Gott?
Ich muss an all die Situationen in meinem Alltag denken, in denen ich mich schwach, labil, ratlos, am Ende mit meiner Kraft fühle. Sollte ich dann, genau dann Gott am ähnlichsten sein? Ist er, ist sie mir darin nahe und gleich?
Das scheint so zu sein: Die Armen, die Schwächsten, die die am Ende sind: Sie sind Gott am nächsten. Weil Jesus genau so auf die Welt kam. Fast möchte ich sagen und Sie dazu ermuntern: Wenn wir nachher Abendmahl feiern, kommen doch bitte die, die sich schwach und klein, die sich am Ende fühlen, als erste an den Tisch des Herrn.
Zum Schluss möchte ich, so wie es Jesaja auch tut, erinnern an die große Zuversicht, die wir haben können, an eine Hoffnung, die wir vielen voraus haben: Wir können Gott Vater und Mutter nennen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass er unser Vater ist. Und dass er aus seiner großen und herzlichen, Müttern eigenen Barmherzigkeit heraus an uns Menschen handelt. Er wird uns aus all dem herausholen, was uns den essentiellen Stoßseufzer „Ach!" schreien lässt. Er wird uns erlösen. Es wird sein wie eine Kernschmelze; die Berge werden zerfließen.

Das, Ihr lieben Gospelfans, sagt weiter. Ruft es auf den Bergen, auf den Hügeln und überall heraus ["Go, tell it on the mountain"].

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Beginnen in Christo Jesu.
Amen

Dr. Almuth Märker
almuth.maerker@web.de
Prädikantin an St. Thomas, Leipzig