Predigt aus dem Gottesdienst am Karfreitag

  • 29.03.2024 , Karfreitag
  • Pfarrer Lüder Laskowski

Liebe Gemeinde,

sie sind an diesem Tag hierher gekommen, ganz bewusst, um sich an die Grenzen menschlicher Möglichkeiten führen zu lassen. Zunächst durch die biblischen Texte. Entlang der Evangelientexte und der Geschichte, die sie erzählen von Jesu Kreuzigung. Hinabzusteigen in unsagbares Leid, dorthin, wo es nicht mehr weitergeht, weil niemand etwas darüber zu sagen weiß – an die Schwelle zum Tod. Mit dem jeder seine eigenen Erfahrungen gemacht hat in der Wahrnehmung von Leid und Verzweiflung in der Welt. Davon gibt es so viel. Vielleicht sogar bei der Begleitung von Menschen, die die Schwelle zum Tod unter Qualen überschritten haben. Wenn wir auch immer notwendig jenseits der eigenen letzten Erfahrung bleiben. Keiner weiß, wieviel Leid ihm selbst noch bevor steht. Sicher ist aber, dass wir uns dem Tod noch alle einmal stellen werden.

Es bleibt aber nicht bei den inneren Bildern, die der Text der biblischen Geschichte von der Kreuzigung auf den Hügeln vor Jerusalem vor Augen führt. Diese Worte werden die allermeisten von ihnen höchstwahrscheinlich nicht zum ersten Mal hören. Sie rufen nicht nur fotorealistische Bilder hervor, sondern auch Bilder aus vielen hundert Jahren Kunstgeschichte. Bis hin zum Kruzifix mit dem angeschlagenen Leichnam, dass sich zumindest in jeder katholischen und fast jeder lutherischen Kirche findet. Wir tauchen damit ein in einen breiten Strom der Tradition. Ein Bild, das viele Menschen heute wieder mehr verstört, als in der Gewöhnung über die Zeit.

Die innere Bewegung verstärkt sich sogar noch, sie schwillt an zu einer Welle der Traurigkeit, wenn Musik sie trägt. Sie sind sich also im Klaren darüber gewesen, dass sie heute gerade hier in der Thomaskirche den Leidensweg Christi in einer großen Intensität mitgehen mit allen Sinnen. Denn sie wussten ja darum, dass der Thomanerchor Stücke singen wird, deren Melodien bekannt sind und die zu den eindrucksvollsten gehören, die sich mit diesem Tag auseinandersetzen: Bach, Mendelssohn, Bruckner, Poulenc. Der intensive Text reicht nicht. Obwohl er an sich schon so unerträglich ist, dass die Mehrheit unserer Mitmenschen sich lieber abwendet mit dem lapidaren Gedanken: „Das Leben ist schwer genug, ich muss es mir nicht noch schwerer machen.“ Der Text wird sogar noch gesteigert durch Kunst und Musik. Und dennoch sind sie heute hier.

Mein Eindruck ist, wir befinden uns mit diesen Beobachtungen zwangsläufig in einem Paradox. Einerseits ist an diesem Tag alles darauf ausgerichtet, dass Menschen mit Jesu Tod auch an ihre eigenen Grenzen geführt werden. Eigentlich immer sogar ein Stück weiter, als sie ertragen können, denn dahinter liegt ja der Glaube, dass hier etwas geschieht, das uns Menschen und unsere Grenzen überschreitet. Andererseits sind sie dennoch hierher gekommen. Gerade deswegen? Oder trotz dessen?

Offenbar erhoffen sie sich hier etwas zu erleben, dass für sie derart wichtig ist, dass sie es in ihrem Leben nicht missen wollen. Und dass sie nach diesem Gottesdienst gestärkt weitergehen können, zurück in die Welt, wie sie ist – oft genug grausam und unverständlich, voller Widersprüche und Not. Über diese Spannung, die unauflöslich ist, wurde soviel nachgedacht. Sie mündet zwangsläufig in einer Frage, die Jesus schon dort auf dem Berg Golgatha gestellt wurde. Wozu bist du immer weiter gegangen bis hierhin ans Kreuz? Es ist die Frage, die in den Anfragen derer steckt, die zu ihm hinaufrufen. Die vorüber gehen und ihn beschimpfen und die Köpfe schütteln. Die ihn verspotten und schmähen. Das einfache Volk genauso wie die Eliten, die Sieger genauso wie die Verlierer. Sie alle stellen diese Frage. Warum gehst du sehenden Auges in diesen Widerspruch? Es wäre doch so viel klüger gewesen, nicht hierher zu kommen.

Eine einzig richtige Antwort auf diese Frage wird es nicht geben. Aber ein Angebot zum Verständnis kann ich machen, das eng mit der Herkunft Jesu verbunden ist. Es findet sich beim jüdischen Religionsphilosophen Pinchas Lapide, der sich ein Leben lang darum bemühte, Jesus in seiner jüdischen Herkunft ebenso wie in seiner christlichen Interpretation ernst zu nehmen. In einer Zeit, in der dem Judentum ganz generell wieder in unerträglicher Weise Urteil und Ächtung entgegenschlägt, ist mir seine Sicht wertvoll. Besonders am Karfreitag, da doch der Tod Jesu so oft als Grund für Diskriminierung und Gewalt von und an Jüdinnen und Juden mißbraucht wurde. Doch wir werden durch Lapides Blick bereichert und am Ende, wie ich denke, selbst besser verstehen, warum wir überhaupt heute hier sind und uns damit ebenfalls in diesen Widerspruch stellen.

Der jüdische Denker also führt uns zunächst ganz nahe an die Worte Jesu heran. Die Menschen sind vorbei gegangen, sie haben gesagt, was sie zu sagen hatten. Nur Jesus schweigt. Aber tut er das wirklich? Vier Worte überliefern uns die Evangelien des Matthäus und des Markus – ungewöhnlich genug – in der aramäischen Originalsprache Jesu. „Eli, eli, lama asabtani.“ Vier aramäische Wort, die auf eine Spur führen, wie Jesus selbst in dem unauflöslichen Widerspruch handelt Er sieht wie ihm das Leid immer näher kommt, bis vor das Kreuz und dennoch geht er immer weiter bis an das Kreuz.

Wie ein verbitterter Aufschrei klingen diese Worte im Deutschen. Ein Abgrund letzter Verzweiflung, in dem die Verlassenheit von Gott als ein letzter Seufzer herausgepresst wird. Denn das sind nach den beiden ältesten Evangelien wirklich die letzten überlieferten Worte Jesu bevor er stirbt. Sie scheinen die Heilsgewissheit in der Jesus unterwegs war, Lügen zu strafen. Sie wären danach Anlass, sich von ihm abzuwenden.

Schauen wir genauer hin. Nach dem griechischen Originaltext schrie Jesus diesen Satz nicht, sondern sagte ihn schlicht. Das ist eine in dieser Situation ganz und gar undenkbare Sachlichkeit. Im Todeskampf können Worte wohl geröchelt, geseufzt, geweint, gestöhnt, geheult oder eben geschrien werden, nicht doch aber „gesagt“. Dieses Wort verweist auf eine Anknüpfung der Evangelisten und mit ihnen nun auch Jesu an jüdische Frömmigkeit und Gottesdienst. „Gesagt“ nämlich werden dem Sprachgebrauch damals nach entscheidende biblische Texte in den herausragenden Feiern des Jahres. Bibelauszüge werden zwar auch gesungen, vorgetragen oder gelesen – zumeist aber werden sie schlicht gesagt. In der hebräischen Liturgie gilt das auch für die Psalmen. Auch für Psalm 22, dessen erste Zeile Jesus hier sagt. Wir haben ihn vorhin in der Vertonung von Felix Mendelssohn-Bartholdy gehört. Und die ersten Worte des Psalms gelten für den ganzen Psalm. Das ist bis heute so, wenn wir die Halleluja-Verse in den Gottesdiensten hören oder die Sonntage der Passions- und Osterzeit nehmen, deren Inhalt sich auf Psalmthemen bezieht und die nur das erste Wort zitieren: Estomihi, Invocavit, Reminiszere, Okuli, und so weiter. Die vier Worte Jesu sind also so, als ob Jesus den ganzen Psalm sagte. Mehr noch: er hat ihn wohl gesagt.

Ist das absurd, dass Jesus in seiner Qual einen ganzen Psalm aufsagt? Nein antwortet zumindest Lapide. Denn Jesus ist vom Geist der heiligen Schriften derart durchdrungen, dass er in der Taufe seine Laufbahn mit einem biblischen Zitat begann und es hiermit beschloss. Und nun ein hartes Argument: wie so viele Rabbinen und Chassidim es beim Eintritt in die Gaskammern in Auschwitz getan haben. Jesus bittet also nicht, ihn zu verschonen. Er klagt auch nicht an. Mit diesem Satz sagt er den ganzen Psalm. Der Gott, der ihn anscheinend verlassen hat, ist immer noch sein Gott, zu dem er in der Stunde äußerster Not immer noch betet.

Sehen sie sich doch nun noch einmal den 22. Psalm in seiner Gänze an und entdecken sie die innere Bewegung, in die der Psalmbeter nach seinem ersten Aufschrei geht. Man kann sogar sagen, dass die ganze Kreuzesgeschichte, wie sie Markus und Matthäus erzählen, dramaturgisch diesem Psalm folgt. Die Verspottung,  das Verteilen der Kleidung, der Durst, der Schrei, aber eben dann auch die bleibende Verheißung aus der Erinnerung an den Weg Gottes mit seinem Volk.

Lapide schreibt: „In der Finsternis größter Gottesentfernung ahnt Jesus bereits den Aufgang neuer Gottesnähe, eine paradoxe Erfahrung, der Psalm 22 in seiner Gänze gewidmet ist.“ Was Gott gibt wiegt im jüdischen Denken immer schwerer, als was Gott nimmt.

Kann man Gott anklagen und ihm zugleich vertrauen, mit ihm hadern und sich zu gleicher Zeit auf ihn werfen? Martin Luther hat in seiner Vorrede zu dem von ihm herausgegebenen deutschen Psalter behauptet: „dass das allerbeste“, das er in den Klagepsalmen finden konnte, „eben der Widerstreit solcher Worte gegen Gott und mit Gott“ sei – ein Zwieklang, der ihnen „in doppeltem Maß Ernst und Leben“ verleiht.

In diesem Paradox, diesem Widerstreit, diesem Zwieklang stehen wir heute vor dem Kreuz Jesu. In diesem Paradox stehen wir im Alltag, in der Welt. Diese Wahrnehmung aber könnte verstehen helfen, warum es wichtig und gut ist, sich Jesu Leidensgeschichte immer wieder auszusetzen, ihren Eindruck noch verstärkt wahrzunehmen durch die Musik, bis an die Grenze des Erträglichen und dennoch hierher zu kommen in der Gewissheit, etwas ganz Wichtiges mitzubekommen ins Leben, Kraft zum Durchhalten könnte man es nennen. Weil der Ruf „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus schon am Kreuz in den Psalmvers geführt hat: „Aber du, Herr, sei nicht ferne. Meine Stärke, eile mir zu helfen.“ Und schließlich zu den Worten: „Die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewiglich leben.“

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.