Predigt am Sonntagmorgen 9. Februar

  • 09.02.2025 , letzter Sonntag nach Epiphanias
  • Prof. Ingolf U. Dalferth

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Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen
        
Liebe Gemeinde,

I
Sie alle, da bin ich sicher, lieben Johann Sebastian Bach. Aber kennen Sie auch Edward Elgar? Der britische Komponist schrieb 1899 ein Orchesterwerk, das später den Namen Enigma-Variationen erhielt – Rätselvariationen. Jede der 14 Variationen charakterisiert eine Person aus Elgars Umgebung, seine Frau, Freunde, Bekannte, ihn selbst. Das wissen wir von ihm. Dagegen ist das Thema, das diese 14 Charakterstücke variieren, unbekannt. Bis heute wird gerätselt, was es ist. Der Kom¬ponist hat es nicht verraten. Er wollte, dass die Zuhörer es selbst herausfinden.
    Man könnte diese Rätselvariationen als Kabinettstück eines Komponisten abtun, der sein Handwerk zu gut beherrschte. Aber das würde Elgar unterschätzen. Er komponiert in seine musi-kalische Bilderfolge einen roten Faden hinein, den man gar nicht hören kann. Das Thema wird nie gespielt. Nicht das, was man hört, sondern das, was man nicht hört und dem Gespielten als Be-gleitmelodie hinzufügen muss, ist das Thema dieser Komposition. Man muss es selbst innerlich mitsingen, erst dann hört man das ganze Stück. Und die Herausforderung ist herauszufinden, was man da mitsingen soll.
    Das klingt ziemlich verquer. Aber was Elgar in dieser Rätselmusik machte, hat der Evangelist Markus in seinem Evangelium gemacht. Es ist das älteste Evangelium, das wir haben. Und es ist eine Rätselgeschichte. Markus erzählt sie so klug und gekonnt, dass er ein würdiger Kandidat für den Preis der Leipziger Buchmesse gewesen wäre, wenn es den damals schon gegeben hätte. Nein, nicht in der Kategorie Belletristik, sondern in der Kategorie Sachbuch. Markus schreibt keinen Jesusroman, sondern ein Evangelium, eine Einladung und Anleitung zum Glauben. 
    Was wir von Jesus wissen, verdanken wir zu einem guten Teil ihm. Aber Markus macht klar, dass es um ein Geheimnis geht, ein doppeltes Geheimnis. Nicht nur, wer Jesus ist, ist ein Geheimnis, sondern auch wer die sind, an die sich Jesu Botschaft richtet und für die Markus sein Evangelium schreibt – also Sie und ich und alle, die es hören oder lesen können.

¬II
In den ersten Kapiteln, aus denen der heutige Predigttext stammt, erzählt Markus, wie Jesus durch Galiläa zieht, zu den Menschen in Gleichnissen spricht, die sie nicht verstehen, und Zeichehandlungen ausführt, die sie sprachlos machen. Jesus sagt ihnen nicht, worum es geht. Wenn sie nicht verstehen, was sie hören, und nicht erkennen, was sie sehen, dann hilft es auch nicht, wenn man es ihnen sagt. Sie müssen selbst darauf kommen.     
    Aber nicht einmal seine engsten Anhänger tun das. Jesus erklärt ihnen zwar, dass es um ein Geheimnis geht (Mk 4,34). Aber was dieses Geheimnis ist, sagt er ihnen nicht (Mk 4,10-12). Dem sollen sie selbst auf die Spur kommen. Ich lese aus dem 4. Kapitel des Markusevangeliums die Verse 35-41: 
35 Und am Abend desselben Tages sprach er zu ih¬nen: Lasst uns hinüberfahren.
36 Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch ande-re Boote bei ihm. 
37 Und es erhob sich ein großer Windwirbel und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde. 
38 Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen? 
39 Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig und verstumme! Und der Wind legte sich und es entstand eine große Stille. 
40 Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben? 
41 Sie aber fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der? Auch Wind und Meer sind ihm gehorsam!

    Wer ist dieser Jesus? Am Abend eines langen Tages am See Genezareth, an dem er vom Boot aus zu den Menschen am Ufer gesprochen hatte, will Jesus mit seinen Begleitern ans andere Ufer fahren. Sie haben ihn predigen gehört, haben gesehen, wie er Armen hilft, Kranke heilt, Dämonen austreibt, Menschen Hoffnung gibt. Er nimmt die Nöte der Menschen ernst, kümmert sich um ihre Anliegen. Und dann das: Wärend sie drauf und dran sind, zu ertrinken, weil ihr Boot nach einer Sturmböe vollzulaufen droht, liegt er da und schläft. Seelenruhig. Merkt er nicht, was los ist? Will er es nicht merken? Ist er einer von den Kümmerern, die sich nicht kümmern, wenn es drauf ankommt? "Jesus schläft, was soll ich hoffen? / Seh ich nicht / mit erblaßtem Angesicht / schon des Todes Abgrund offen?" So beginnt Bachs Kantate (Nr. 81) zur Matthäusversion dieser Geschichte. In Todeangst wecken sie Jesus auf, beklagen sich, dass es ihm egal zu sein scheint, was mit ihnen passiert. Er steht auf, wendet sich an Wind und Wogen, und dann wird es ganz still. 
    Ende der Geschichte? Nein, jetzt beginnt sie erst. Haben Sie bemerkt, dass Markus hier eine Geschichte vom Auferstandenen erzählt? Der vom Todesschlaf Auferweckte bändigt durch sein Wort Wind und Wogen – und es wird ganz still. Wenn es in biblischen Geschichten ganz still wird, wenn nichts die Menschen mehr von sich selbst ablenkt, dann kommt Gott. Nicht mit Blitz und Donner, sondern im Säuseln des Windes, nicht in Wirbelwind und Wogen, sondern in der plötzlichen Stille danach. Und in diese Stille hinein fragt Jesus seine verängstigten Begleiter: Was ist denn mit euch los? Habt ihr noch keinen Glauben? Doch sie packen Furcht und Schrecken. Statt Jesus zu antworten oder Gott für ihre Rettung zu danken, fragen sie: Wer ist denn dieser Jesus? Und was ist die Antwort? Das, was Jesus sie zuvor schon gefragt hatte: Wer seid ihr bloß? Habt ihr noch keinen Glauben?
    Das ist der Kern dieser Geschichte. Wer fragt: Wer ist denn Jesus?, bekommt keine Antwort, sondern eine Frage zurück: Wer seid denn ihr?  Traut ihr Gott nicht? Und diese Frage, nicht die nach Jesus, ist die harte Nuss dieser Geschichte. 

III
Die Menschen in Galiläa sind fasziniert von dem, was Jesus sagt und tut. Jesus erscheint ihnen als Heiler und Wundertäter, als Herr über die Kräfte der Natur, die Dämonen, Krankheit und Tod. Deshalb strömen sie zu ihm und laufen ihm nach, deshalb wurde Jesus im Christentum schon früh als Pantokrator, als Herrscher über Himmel und Erde verehrt. 
    Doch Markus geht es nicht um Jesus, sondern um das Geheimnis seiner Botschaft, sein Evangelium, das, was Gott für uns Gutes tut. 
    Und was ist das? Am Ende der Geschichte herrschen Schrecken und Furcht – wie am ursprünglichen Ende des Markusevangeliums bei den Frauen, die das Grab leer vorfinden (Mk 16:8). Sie sind mit Jesus gezogen, haben sein Leben und Sterben erlebt, haben immer wieder gefragt: Wer ist er? Wer ist dieser Jesus? Und was antwortet Markus? 
    Er erzählt, wie Jesus, den sie als Herrscher über Krankheit und Dämonen, Wind und Wetter, ja Tod und Leben bewundern, Schritt um Schritt aus ihrem Leben entschwindet. Er schläft, wenn sie ihn brauchen; er lässt sie herumraten, wer er ist, aber sagt es ihnen nicht; er wird verraten, verhaftet, verspottet, gefoltert, getötet; er stirbt mit einem Verzweiflungsschrei, hängt tot am Kreuz zwischen zwei Verbrechern, und ist am Ende nicht ein¬mal mehr im Grab. Aus, weg, ver¬schwunden. Wo der große Wunderheld war, ist nur noch eine große Lücke, ein Nichts, nicht einmal ein Leichnam, den man im Mausoleum eines Märtyrers verehren könnte. Am Ende stehen die Frauen allein im leeren Höhlengrab. Jesus ist nicht mehr da. Nur ein junger Mann in weißem Gewand sagt ihnen: „Er ist nicht hier. Er ist auferstanden“ (Mk 16:6).
    Und die Frauen? Sie brechen nicht in Jubel aus und ziehen trium¬phie¬rend davon wie in einem amerikanischen Blockbuster, wo der underdog am Ende doch noch der große Sieger ist. Im Gegen¬teil. Sie packt das blanke Entsetzen, sie laufen weg, sind zu Tode erschrocken und schweigen. Entsetzen, Furcht und Schwei¬gen, so endet das Markusevangelium. Ist das das Ende der Geschichte?
    Nein, aber jetzt geht sie bei uns weiter. Denn die Frage, die Jesus in unserer Geschichte an seine ver¬zagten Begleiter richtete, steht jetzt übergroß im Raum und ist an uns gerichtet: Was glaubt denn ihr? 
    Jetzt, erst jetzt, ist Zeit für den Glauben. Haben Sie das kleine Wörtchen noch beachtet in Jesu Frage an seine Begleiter: Habt ihr noch keinen Glauben? Nein, sie hatten noch keinen Glauben, sie konnten noch keinen Glauben haben, sie lebten noch im Sehen, Erfahren und Erleben. Erst als Jesus nicht mehr da war, als am Karfreitag die große Stille eintrat, weil alles verloren schien, und am Ostermorgen nicht einmal Jesu Leichnam mehr zu finden war, sondern sich ein großes Nichts auftat, in dem alles zu versinken drohte, erst da wurde deutlich: Es geht nicht um Jesus, sondern um sie, um uns, um Gott. Wer in Jesus nur einen Wanderprediger, Wundermann und Zauberkünstler sieht, der versteht nicht, was er hört, und erkennt nicht, was er sieht. Das Geheimnis seiner Botschaft ist nicht er, das sind wir.

IV
„Hab ihr noch keinen Glauben?“ Traut ihr Gott nicht? Was für eine Frage. Wem das Wasser bis zum Hals steht, der will keinen Vortrag über Schwimmwesten und verpasste Vorkehrungen und keine Diskussion über seinen Glauben, der will gerettet werden. Genau darum geht es beim Glauben. Es geht um das Leben, um Gott, um jeden einzelnen von uns. Kein anderer kann für mich sagen: "Ich glaube, hilf meinem Unglauben." (Mk 9,24) Das kann nur ich selbst.     
    Aber – seien wir ehrlich – können wir das wirklich? Können wir unsere Fragen und Zweifel, Anfechtungen und Enttäuschungen ausblenden? 
    Nein, gewiss nicht. Wer nicht zugibt, dass er nicht glauben kann, der kann auch nicht glauben. Man kann sich nicht zum Glauben zwingen. Aber man braucht es auch nicht. Wir sind nicht das Maß aller Dinge. Glauben heißt nicht, unerschütterliche Überzeugungen haben, komme was da wolle. Glaube ist Gottvertrauen, kein Setzen auf die eigene Vernunft, eigene Kraft, eigene Gewissheit, sondern Gelassenheit, Hoffen auf die Möglichkeit des Guten und die Zuversicht, dass Gott es richten wird. Gott weiß, was nottut und er tut es, ob wir das glauben oder nicht. Er hat das Heft in der Hand, nicht wir.
    Wir dagegen wissen noch nicht einmal, wer wir sind, was gut für uns ist und wie wir leben sollten. Wir leben nicht aus eigenem Entschluss in dieser Welt, wir können nicht ungeschehen machen, was wir anrichten, und selbst das Gute, das wir tun, schafft immer wieder neues Übel. Überall sind wir daRauf angewiesen, dass in unserem Leben mehr geschieht als das, was wir selbst tun und erleben, dass in ihm Gott am Werk ist, um das Schlimmste zu verhindern und das Gute nachhaltig zu machen.
    Darauf setzt der Glaube. Nicht wir stehen im Zentrum, sondern Gott. Wer Gott vertraut, hat das Gott zu verdanken, nicht sich selbst, und wir alle haben Grund zu bitten: "Hilf meinem Unglauben." Beim Glauben verdanken alle alles allein Gott. Und Gott ist in jedem Leben am Werk. Er gibt nicht den einen, was er den anderen nicht gibt, sondern er gibt jedem, was er den anderen auch gibt. Niemand ist hier religiös musikalischer als ein anderer. Jedem ist Gott gleich nahe. Wer immer nur sieht, wie gut es anderen geht, übersieht leicht das Gute im eigenen Leben. Und wer Gott immer nur anderswo und bei anderen sucht, der merkt vielleicht nie, dass Gott schon lange in seinem eigenen Leben am Werk ist.
    Darauf aber kommt es an. Unser Leben ist eine Rätselgeschichte, deren Thema wir nicht kennen. Wir suchen hier und dort und greifen immer wieder daneben. Aber wer das Thema kennt, das unser Leben als Kontrapunkt begleitet, der weiß, worum es in diesem wirklich geht – immer schon gegangen ist.
    Vielleich finden wir selbst es nie heraus. Auch Jesus war sich am Kreuz nicht mehr sicher. Und seine engsten Begleiter auch nicht. Erst der römische Hauptmann, der ihn sterben sah, sagte es: "Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn" (Mk 15,39). Manchmal merken andere eher als wir selbst, worum es geht und was unserer Lebensgeschichte Sinn und Richtung gibt.
     Wer sagen will, wer Jesus in Wahrheit ist, muss dort stehen, wo der römische Hauptmann stand. Nicht dort, wo Naturgewalten gebändigt, Dämonen ausgetrieben und Tote auferweckt werden, sondern dort, wo von Jesus, dem Wunderhelden, nichts mehr übrig ist, wo man im Angesicht des zu Tode gequälten Gekreuzigten Gott selbst gegenübersteht und die Frage beantworten muss: Wer bist Du? Auf wen baust Du in Deinem Leben? 
    Wir können diese Frage ein ganzes Leben lang wegschieben. Aber Gott hört nicht auf zu fragen. Und wenn alles im Nichts versinkt und wir nichts mehr tun können, ist Gott immer noch da, der aus dem Nichts Neues schafft. Als Luther von Anfechtungen geplagt nicht weiter wusste, pochte er nicht auf seine Glaubensgewissheit, sondern erinnerte Gott an seine Taufe: Du hast mich bei meinem Namen gerufen. Ich bin Dein!

V
Wer sind wir? Wer ist dieser Jesus? Und wo ist er denn? wie die Frauen entsetzt am leeren Grab fragen. Die Antwort, die Markus nahelegt ist: Bei Gott. Aber diese Antwort kann man anderen nicht erzählen. Die muss jeder selbst geben. Alles Erzählen kommt irgendwann ans Ende, und dann beginnt das Leben, unser Leben. Markus erzählt, was sich von Jesu Leben erzählen lässt. Die Auferweckung gehört nicht dazu. Sie ist Gottes Tat, kein Ereignis im Leben Jesu, das man erzählen könnte. Was sich von Jesus erzählen lässt, endet am Kreuz und mit dem leeren Grab. Was dann folgt, geschieht in Gottes Leben und in unserem. 
    Markus wusste das. Er erzählt Jesu Leben von der Jordantaufe bis zum leeren Grab so, dass klar wird: Jetzt bin ich dran. Versuchen Sie es: Lesen Sie sein Evangelium von Anfang bis zur Flucht der Frauen aus dem leeren Grab, oder noch besser: Lassen Sie es sich vorlesen von jemand, der das kann. Man braucht nicht lange dafür. Wenn Markus endet, wenn Jesus ermordet und das Grab leer ist, wenn die Frauen geflohen sind und aus Furcht niemand etwas sagen, dann wissen Sie: Jetzt bin ich dran. Wie soll ich auf das antworten, was ich gehört habe und was den Frauen im Grab gesagt wird? Wer antwortet: So ist es, der steht auf Seiten des Auferweckten. Wer das nicht sagen kann, dem helfen auch die Erzählungen von den Erscheinungen des Auferweckten nicht weiter, die andere an den Schluss des Markusevangeliums angefügt haben. Denn diese Erzäh¬lun-gen legen nahe, dass es um Jesus geht. Aber es geht um Gott und um uns, nicht darum, eine Jesuserzählung zu glauben, sondern sein Leben zu ändern – von Gott ändern zu lassen.
    Vor ein paar Jahren schrieb mir ein amerikanischer Musikforscher, er habe das Rätsel von Elgars Enigma-Variationen gelöst. Ihr unbekanntes Thema sei die Umkehrung von Luthers Choral Ein feste Burg ist unser Gott. Er demonstrierte das ausführlich an den 14 Variationen. Sie können das im Internet finden.  
    Auch wenn er nicht recht hat, illustriert Elgars Musik was Luther vom Leben sagte: In ihm geschieht mehr, als wir wahrnehmen und erleben. Wir sind nicht nur das, was andere und wir selbst aus uns machen. Wir sind die, an denen Gott baut. Was wir werden, wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass es etwas Gutes sein wird, weil Gottes Vaterliebe uns zu dem macht, was wir für ihn sind: seine Kinder, seine Nächsten, seine Erben, diejenigen, die auf seinen Namen getauft sind.
    Das ist das Thema, das unser Leben zusammenhält. Wer darauf setzt, braucht sich vor den Stürmen des Lebens nicht zu fürchten. Gott ist unsere feste Burg. Er steht fest, auch wenn wir ins Nichts zu fallen drohen. Und wir fallen nie weiter als Jesus gefallen ist – in Gottes Leben. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.