Predigt
- 27.10.2024 , 22. Sonntag nach Trinitatis
- Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Christoph Markschies
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt: Jesus Christus, unser auferstandener Herr und Heiland. Amen.
Wie sollen wir leben? Welche Bedeutung hat der Gottesdienst in unserem Leben? Wie sollen wir Gottesdienst feiern? Auf diese Fragen, liebe Gemeinde, will unser Gottesdienst uns Antworten geben. Und einige Antworten haben wir ja schon gehört in den beiden Lesungen dieses Gottesdienstes: Wir können aus Gottes Geist leben, wenn wir anderen Menschen so vergeben, wie auch uns vergeben ist. Immer wieder handeln wir falsch, unklug, unüberlegt, wider besseres Wissen, manchmal sogar wider unsere innere Stimme, wider unser Gewissen. Aber uns wird vergeben, wir beginnen neu und vergeben, dankbar dafür, dass uns vergeben wurde, auch anderen Menschen. So weit, so gut.
Aber wo wird uns denn diese Vergebung geschenkt? Wo lernen wir anderen so zu vergeben, wie uns vergeben wurde? An dieser Stelle, liebe Gemeinde, kommt der Gottesdienst ins Spiel, Gottesdienst, wie wir ihn gerade miteinander feiern. Denn Gottesdienst ist Vollzug der Vergebung und Feier der Vergebung. Gottesdienst will fröhlich machen, trösten, aufbauen. Gottesdienst will neuen Anfang möglich machen, will uns helfen, auch anderen zu verge-ben. Nachher wird uns Vergebung zugesprochen, „Absolution“ steht im Programm des Gottesdienstes, ein Fremdwort, es könnte auch die deutsche Übersetzung dastehen: loslösen, freisprechen ist gemeint. Freispruch. Die Fesseln sind gefallen. Wir sind frei von dem, was uns belastet und können fröhlich auf die Straße treten. Reicht für mindestens eine Woche, liebe Gemeinde, dieser Freispruch, diese Lösung von dem, was uns belastet.
Wie feiern wir aber einen Gottesdienst, in dem diese Kraft der Vergebung zu spüren ist und nicht unter den vielen alten und fremden Worten verloren geht? Was müssen wir tun, damit Jung und Alt, Gebildete und Ungebildete, Fromme und Zweifler alle miteinander befreit, freigesprochen davon gehen? Diese Fragen nach dem rechten Gottesdienst, nach der richti-gen Art, Gottesdienst zu feiern, sind nicht neu. Jede Generation muss sie sich neu stellen, jeder neu gewählte Kirchenvorstand, alle Pfarrerinnen und Pfarrer, die neu in eine Kirchen-gemeinde kommen und mit allen feiern wollen. Jeder Kantor, Organist, ja, wir alle. Der Predigttext, der für den heutigen zweiundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis vorgesehen ist, enthält einen Antwortversuch auf die uralte Frage nach dem richtigen Gottesdienst, von dem auch wir noch etwas lernen können, auch wenn er schon viele Jahrhunderte alt ist. Ich lese aus dem Buch des alttestamentlichen Propheten Micha im sechsten Kapitel die Verse 1-8.
Hört doch, was der HERR sagt: »Mach dich auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen, auf dass die Hügel deine Stimme hören!«
Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des HERRN, ihr starken Grundfesten der Erde; denn der HERR will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen! »Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir! Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mir-jam. Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit du erkennst, wie der HERR dir alles Gute getan hat.«
»Womit soll ich mich dem HERRN nahen, mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen, mit einjährigen Kälbern? Wird wohl der HERR Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?«
Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.
Aus unserer Sicht, liebe Gemeinde, sind die Fragen, die da vor vielen hundert Jahren nach der richtigen Art, Gottesdienst zu feiern, gestellt wurden, etwas absurd: »Soll ich mich dem Herrn mit Brandopfern nahen, mit einjährigen Kälbern? Wird wohl der HERR Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?« Nein, natürlich nicht, möchten wir antworten. Unbedingt lassen, drängt sich uns als Antwort unmittelbar auf. Aber die einleitende Frage ist doch immer noch unsere, liebe Gemeinde: »Womit soll ich mich dem HERRN nahen, mich beugen vor dem Gott in der Höhe?« Wie stellen wir es an, uns dem Gott zu nähern, der uns freisprechen will, der uns unsere Schuld vergeben will und uns neu aufrichten will? Müssen wir im Gottesdienst stehen? Dürfen es nur Gemeindelieder sein, die mindestens dreihundert Jahre alt sind? Ärgert sich Gott, wenn ein Kleinkind plärrt oder das Hörgerät schrille Geräusche von sich gibt? Das sind alles wichtige Frage und sie werden von den Fachleuten diskutiert. Im Kirchenvorstand beispielsweise. Und ein guter Kirchenvorstand fragt immer mal wieder in der Gemeinde nach. Was man singt, ob man steht oder sitzt – das hängt ja nicht zuletzt auch davon ab, wer sich zu einer Gemeinde hält und in welchem Raum der Gottesdienst stattfindet. In der Thomaskirche muss man anders Gottesdienst feiern als bei einer Konfirmandenfreizeit oder am Himmelfahrtstag auf der Wiese.
Um solche Detailfragen geht in unserem Predigttext aber gar nicht. Die Frage, wie man nun im Detail Gottesdienst feiern soll, wird vom Tisch gewischt. Die Frage ist wichtig, aber Gott – so sagt der Prophet Micha – ist ziemlich gleichgültig, welche Lieder wir singen. Oder vielleicht besser: Er freut sich über alle, die wir gern und aus vollem Herzen singen. Was Gott wirklich wichtig ist, steht in unserem Text, wie es sich bei guten Texten so gehört, am Ende: »Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.« Darauf, liebe Gemeinde kommt es: Dass wir im Gottesdienst daran erinnert werden, was gut ist. Dass wir im Gottes-dienst hören, was Gottes Wort uns heute Morgen sagen will für unser Leben. Darauf kommt es eigentlich an. Und Gottesdienste, in denen das biblische Wort zum Wort Gottes wird, uns mitten ins Herz trifft und tröstet und befreit, die gefallen Gott wohl. Die Auswahl der richtigen Lieder ist wichtig, aber nicht lebensentscheidend. Lebensentscheidend ist, dass wir Gottes Liebe und Vergebung erfahren und weitergeben an andere Menschen. Und Gott dankbar bleiben für diese großartigen Gaben, die wir jeden Sonntag angeboten bekommen, hier, in dieser großartigen Kirche und in vielen, vielen Kirchen dieses Landes.
Können wir wirklich sicher sein, dass Gott es so gut mit uns Menschen meint, die wir so viel falsch machen, verbocken, verderben? In unserem Predigttext findet sich eine großartige Antwort auf diese bange Frage nach Gottes Gnade. Der Prophet Micha antwortet uns, dass wir eine Art Rechtsanspruch auf Gottes Gnade haben, Gott hat uns versprochen, gnädig zu sein – und die Juristen nennen das einen mündlich geschlossenen Vertrag. Und zur Erinnerung an diesen Vertrag verweist Gott die Menschen darauf, was er schon alles den Großvätern, Großmüttern, Urgroßmüttern und Ururgroßvätern getan hat: »Das sage mir! Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam. Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit du erkennst, wie der HERR dir alles Gute getan hat.« Meint: Wir werden so befreit von den Dingen, an die wir uns versklavt haben, wie einst das Volk Israel. Wir werden befreit von unseren Ängsten, von unserem falschen Ehrgeiz, von den be-schädigten Verhältnissen mit anderen Menschen, von drückenden Lasten – wir werden so aus den Verhältnissen, die uns klein und ängstlich machen befreit, wie einst das Volk Israel befreit wurde. Gott spricht uns frei, weil er Freispruch kann. Seit vielen, vielen Jahrhunderten. Gott bindet uns los, wo wir angekettet sind, weil er das kann. Seit vielen, vielen Jahrhunderten. Erprobt.
Darüber, dass wir nicht an unsere Ängste und Fehler gekettet sein müssen, frei, los und be-freit werden sollen, darüber dürfen wir von Herzen froh werden. Ich wünsche das ihnen al-len, uns allen und natürlich auch mir selbst. Freispruch. Wir sind frei. Uns ist vergeben und wir können anderen vergeben. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Chritoph Markschies