Offener Gesprächsabend "Gott und die Welt"
- 28.08.2017
- Dr. Hagen Findeis
Erfahrungsgeschichte kirchenleitenden Handelns in der DDRTheologische und politisch-kulturelle Aspekte
1. Vorbemerkungen
a) zur gesellschaftlichen Rolle der Kirchen in der DDR
Waren die evangelischen Kirchen in der DDR Wegbereiter, vielleicht sogar Motor einer Revolution oder haben sie sich, wie es der Historiker Gerhard Besier bereits 1991 diagnostizierte , der Kumpanei mit der SED-Diktatur schuldig gemacht?
Über die Rolle der Kirchen in der DDR wird bis heute vor allem unter der politisch inspirierten Fragestellung debattiert, wie hoch der Grad ihrer Anpassung an den Staat war. Angesichts der Einseitigkeit der Machtverteilungsverhältnisse in der DDR-Gesellschaft ist diese Frage naheliegend. Die öffentliche Diskussion um die Kirchen in der DDR folgt denn auch weniger einem Interesse an der Erfüllung ihrer religiösen Funktion. Worum es haupt-sächlich geht, ist die Frage, ob sie das, was die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft kaum vermochte, zu leisten imstande waren: sich dem Herrschaftsanspruch der SED zu widersetzen. Nimmt man vor diesem Hintergrund die Frage nach der politischen Resistenz-kraft der Kirchen als Präzedenzfall - und es spricht einiges dafür, dies zu tun, dann lässt sich daraus eine Aussage über die generellen Möglichkeiten widerständigen Verhaltens in einer Diktatur ableiten. Sollte sich nämlich herausstellen, dass selbst dort, wo man eine Ausnahme von der Regel alltagspraktischen Opportunismus unterstellt hatte, der Normalfall, also Anpassung, geherrscht hat, dann wäre dies ein Beleg für die politische Gleichschaltung der DDR-Gesellschaft im Ganzen. Dies sind gewissermaßen die Vorzeichen, die der Diskussion über die Kirchen in der DDR über Jahre hinweg ihren öffentlichen Aufmerksamkeitswert verliehen haben.
Und folgt man der seinerzeit populären Selbststilisierung der ostdeutschen Kirchen als machtlose, aber aufrechte Schar mündiger Christen (Schönherr 1978: 49f.), die unter politischen Beobachtern im Westen ebenso wie in der Ökumene Unterstützung fand, dann bestärkte dies die Erwartung, dass sie sich den politischen Restriktionen des Systems wider-setzen würden. Ganz im Gegensatz zur alltäglichen Tristesse im „Volk der kleinen Leute" sei es in den Kirchen irgendwie lebendiger, weniger verbiestert, spontaner, offener, ehrlicher, ja sogar demokratischer zugegangen als sonst irgendwo in der DDR. Und in der Tat lässt sich eine Reihe von Gründen angeben, die die evangelischen Kirchen zu Widerständigkeit gegenüber dem Beglückungsanspruch der SED prädestinierten.
Zunächst ist hier auf das kirchliche Selbstverständnis hinzuweisen. Als moralische Anstalten standen die Kirchen unter besonderen Wahrhaftigkeitsanforderungen. Die Möglichkeit, derer sich andere Institutionen und die Mehrheit der Bevölkerung bedienten, mit den Zumutungen des politischen Regimes taktisch umzugehen, also nach außen hin etwas Anderes zu sagen als man tatsächlich glaubte, stand ihnen von ihrem eigenen Anspruch her nicht offen. Wenn es richtig ist, dass die Kirchen ihr Handeln theologisch begründen, indem sie sich dem Auftrag unterstellen, letztlich stets den Willen Gottes zu befolgen, und wenn es zugleich richtig ist, dass die Vertreter des politischen Systems jede Handlung im System unter dem Gesichtspunkt beurteilten, ob sich in ihr Zustimmung oder Widerspruch aus-drückt, dann ist anzunehmen, dass sich durch die gesamte Geschichte der DDR, unabhängig von allen Veränderungen in der politischen, kulturellen und kirchlich-theologischen Entwicklung, ein Widerspruch zog: der Widerspruch zwischen den Konformitätserwartungen des Systems und den Handlungsprinzipien der Kirchen.
Aufmerksam gemacht werden muss in diesem Zusammenhang auch auf die Traditionen des Christentums. Es ist damit zu rechnen, dass die Einbettung in eine jahrhundertelange religiöse Tradition, die Auseinandersetzung mit den Inhalten des christlichen Glaubens, die spirituelle Kraft des Gebets und die Gemeinschaft der Christen diese dazu motivierten, sich den Vereinnahmungsversuchen der politischen Herrschaft zu widersetzen. Das umso mehr, als dem theologischen Anspruch der Kirchen mit der von der SED vertretenen materialistischen Ideologie ein diametrales Weltanschauungssystem gegenüberstand.
Drittens ist die institutionelle Sonderstellung der Kirchen innerhalb der von der SED durchorganisierten Gesellschaft zu nennen. Sie waren die einzigen Organisationen in der DDR, die nicht in das System des administrativen Sozialismus eingebunden waren. Die Kirchen verwalteten ihre Finanzen selbständig, gaben eigene Zeitungen und Zeitschriften heraus, unterhielten ein eigenes System der Rechtsprechung ebenso wie Kindergärten, Ausbildungsstätten, Evangelische Akademien und anderes mehr. Vor allem aber hatten sie die Möglichkeit, mit einer breiten Palette von Veranstaltungen, angefangen vom Kindergottesdienst bis hin zu großen überregionalen Kirchentagen, ihre Anliegen öffentlich zu vertreten.
Nicht zuletzt waren die evangelischen Kirchen aufgrund ihrer politischen Erfahrungen im Kirchenkampf während des „Dritten Reiches" zu politisch widerständigem Verhalten gegen den Totalitätsanspruch des Staates herausgefordert. Ihr Image, während der NS-Zeit eine Bastion des Widerstandes gewesen zu sein, verpflichtete die Kirchenleute geradezu zu einer antitotalitären Haltung gegenüber dem neuen politischen System im Osten Deutschlands.
b) zum Zusammenhang von theologischer und politischer Positionsbestimmung
Auffällig ist, dass die Vertreter der Kirchen ihr Handeln zuerst an theologischen Kriterien gemessen sehen wollten. Bei meiner Beschäftigung mit den Lebensgeschichten der Kirchenführer ging es mir darum, die wesentlichen Bestimmungsfaktoren für die Herausbildung ihrer theologisch-religiösen und politischen Überzeugungen zu erhellen. Zunächst habe ich mich mit ihren Schriften beschäftigt. Das Ergebnis dieser Lektüre war indes alles andere als eindeutig: Von miteinander konkurrierenden theologischen Positionen aus (Luther//Barth) konnte man zu ähnlichen politischen Schlussfolgerungen, etwa einer kritischen (Steinlein//Falcke) oder auch bejahenden Einstellung zur Obrigkeit (Mitzenheim//Jacob, Schönherr) gelangen. Ebenso führten bestimmte theologische Argumentationsfiguren (Luthers Zwei-Regimenten-Lehre) nicht selten zu entgegengesetzten politischen Konsequenzen (Mitzenheim//G. Noth, Steinlein bzw. Schönherr//Falcke). Zwischen theologischem Ansatz und politischer Stellungnahme ließ sich also kein konsistenter Zusammenhang herstellen. Mehr noch, es war unklar, wann politische Urteile aus theologischen Überzeugungen abgeleitet wurden und wann theologische Argumente nur zur Rechtfertigung politischer Entscheidungen dienten. Einen, der selbst einmal theologisch geschult worden war, konnte so etwas natürlich nicht befriedigen. Und so sah ich mich gezwungen, tiefer anzusetzen und nach biographischen Prägungen für politische Haltungen zu fragen. Mit Hilfe ihrer Biographien wollte ich etwas über die Bedingungen herausfinden, die ihre Intentionen und Handlungsmotive prägten, und auf diese Weise die Erfahrungsgeschichte des ostdeutschen Protestantismus besser verstehen lernen.
In Bezug auf die Frage, welche Wirksamkeit die religiösen Prägungen der Kirchenführer gegenüber den Zumutungen der Realpolitik in der DDR hatten, fällt der Befund ernüchternd aus. Mit zunehmender Dauer des neuen Systems gab die Theologie immer weniger die politische Haltung vor. Zunehmend bestimmten die politischen Verhältnisse die Theologie. Ich werde diesen Befund nun vor dem Hintergrund vor allem jener Zeit illustrieren, die für das Verständnis der Kirchengeschichte der DDR zentral ist, sowie anhand der von uns geführten Interviews, allerdings ohne auf alle relevanten historischen Details eingehen zu können.
2. Die Dramatik des gesellschaftlichen Wandels
Das zentrale Problem, vor das sich die Kirchenrepräsentanten in der DDR gestellt sahen, bestand in dem umfassenden Bruch des politischen Systems mit der nationalen, religiösen und kulturellen Tradition, von der sie, je nach Generationszugehörigkeit unterschiedlich stark, geprägt worden waren. Prinzipiell waren natürlich alle sozialen Gruppen von dem Systemkonflikt betroffen. Die Kirchenvertreter waren ihm freilich in besonderer Weise ausgesetzt. Sie verkörperten genau das, was die neuen Machthaber auszulöschen gedachten: Sie waren bürgerlich, sie hatten ein idealistisches, nach marxistischer Diktion also falsches Bewusstsein, zudem waren sie, wenn nicht dezidiert antikommunistisch, so aber deutschnational und standen damit auch von ihrer politischen Orientierung im Lager des Feindes.
Der Konflikt, in den sie gerieten, resultierte nicht nur aus dem extremen Machtgefälle in der Gesellschaft, es standen sich hier auch zwei einander fremde, ja entgegengesetzte kulturelle Welten gegenüber. Der kulturelle Bruch könnte gerade für jene besonders gravierend gewesen sein, denen es während des Nationalsozialismus noch gelungen war, ihre nationale Identität in mehr oder weniger resistenten Subkulturen in eine bürgerliche Restdifferenz zum Nationalsozialismus zu bringen.
Der Weltkriegsoffizier und spätere Thüringer Landesbischof Ingo Braecklein, der 1906 ge-boren wurde, hatte, wie die Hälfte der ostdeutschen Bischöfe, seine Jugend im Deutschland der zwanziger Jahre erlebt und damals noch weitgehend unhinterfragte Wertbindungen erworben. In ihrer Summe liefen sie auf ein konservativ grundiertes Pflichtgefühl hinaus, das Braecklein auf eine Trias von Werten bringt, „die uns auf unserem Lebensweg mitgegeben wurden und die als unabdingbare Elemente in das Leben mit hinausgehen sollten. Das waren Gott, die Obrigkeit in Gestalt eines Monarchen und das Vaterland - Deutschland." Dieses Deutschland hatte sich bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit verändert, bis in die achtziger Jahre hinein hatte es einen tiefgreifenden kulturellen Wandel durchlaufen. 1994 erinnert sich Ingo Braecklein, „wie ich als Gymnasiast am 9. November 1918 auf dem Markt in Eisenach stand und wie da vom Rathaus die schwarz-weiß-rote Fahne niedergeholt und die rote Fahne gehisst wurde. Ich habe bitter geheult. Sie müssen wissen, dass uns das traditionsreiche Gymnasium, in das ich damals ging, deutsch-national erzogen hat. Deutsch zu denken, das war für uns ganz selbstverständlich. Ich kann mich an keinen Lehrer erinnern, der etwa links gestanden hätte. Schon ein Demokrat hatte es damals schwer. Und dann fiel in unserem Gymnasium die schwarz-weiß-rote Fahne, und die Soldaten hissten die rote. Das war für uns unvorstellbar."
3. Kirchliche Neuorientierung in der Nachkriegszeit bis Mitte der 50er Jahre
Die von den älteren Kirchenvertretern biographisch erworbenen Vergewisserungsformen hatten mit dem Zusammenbruch Deutschlands 1945 ihre Funktion verloren. Die militärische Niederlage und die Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen löste bei vielen eine tiefe innere Erschütterung aus, die sie dazu zwang, ihr Verhältnis zu Deutschland, aber auch ihr eigenes Verhalten neu zu überdenken. Dies betrifft z.B. die Identifikation als Soldat der Angehörigen der Weimarer Jugendgeneration (1900 - Ende 1. WK). Die meisten von ihnen hatten ursprünglich eine Offizierslaufbahn angestrebt, die von zwei der späteren Bischöfe zunächst auch verwirklicht worden ist. Die Angehörigen der HJ-Generation (1922-1930), die als Schülersoldaten früh desillusioniert und gerade deshalb existentiell ausgehungert waren, retteten sich nach dem Krieg in eine geradezu emphatische Kirchlichkeit. In der Erzählung des 1927 geborenen Werner Leich, der einen Teil seiner Schulzeit an einer nationalsozialistischen Eliteschule verbracht hatte und ursprünglich Offizier der Luftwaffe werden wollte, bevor er dann Pfarrer und schließlich Braeckleins Nachfolger im Thüringer Bischofsamt geworden ist, klingt das so: „Sie müssen sich mal vorstellen, wir sind aus dem Krieg zurückgekommen und waren froh, überhaupt noch zu leben. Und dann kam plötzlich die Möglichkeit, in der Kirche zu dienen. Unser Ordinandenjahrgang trifft sich noch heute. Wir waren so eng miteinander verbunden, da hat einer den anderen darin gestützt: Jetzt ist unser ganzes Leben für die Kirche da, das ist der neue Weg nach dem Kriegsende."
Viele betrachteten die nationale Katastrophe (als welche das Kriegsende von den Bischöfen überwiegend wahrgenommen wurde) als Gericht Gottes und meinten, dass ein Neuaufbau nur unter Rückbesinnung auf christliche Werte möglich sei. Der 1929 geborene Heino Fal-cke etwa sah in der Kirche die „einzige Institution", die dem deutschen Volk in der Situation der Niederlage noch „etwas bedeuten" konnte. Dies war, wie er feststellte, damals „ein allgemeines Bewusstsein".
Auch war unter den später Kirchenleitenden nicht ein Einziger, der sich bzgl. des inhumanen Charakters des neuen Systems irgendwelchen Illusionen hingab. Allen war klar, dass es sich bei der DDR um ein totalitäres Regime handelte, das Menschenrechte und demokratische Freiheiten missachtete. Als Johannes Hamel, einer der profiliertesten Theologen in der DDR, 1946 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde und in die SBZ kam, hatte er das Gefühl, „in eine Weltvoller unberechenbarer Schrecken zu gehen".
Viele Pfarrer und auch Bischöfe kritisierten den zunehmenden totalitären Charakter des neuen Staates. Die Kirchen traten selbstbewusst für die Einheit Deutschlands auf der Grundlage von Recht und Freiheit ein und sie wussten sich getragen von einem starken Rückhalt in der Bevölkerung. 80 Prozent der Menschen gehörten damals noch der evangelischen Kirche an. Gegenüber dem Staat beanspruchten sie ein Wächteramt und wiesen auf die vorstaatliche Verankerung der Menschenrechte hin.
Selbst als sich Anfang der 50er Jahre die Konflikte zwischen Kirche und Staat im Zuge des Aufbaus des Sozialismus und des Kampfes gegen die Junge Gemeinde und die staatliche Einführung der Jugendweihe verschärften, kam eine Reihe späterer Bischöfe voller Enthusiasmus aus dem Westen in die DDR. Der Magdeburger Bischof Werner Krusche verglich die Kirche in der DDR damals mit einer „belagerten Burg". Und er glaubte, „als Pfarrer gehöre ich dahin, wo es schwerer ist, und nicht dorthin, wo es mir am besten gefällt. ... Ich sagte mir, wenn Du predigen willst, zuerst nach dem Reich Gottes zu trachten, und du trachtest zuerst danach, wo du es am einfachsten hast, verrätst du das Evangelium." Viele hatten die unbestimmte Hoffnung, die Kirche werde die Auseinandersetzungen mit dem Staat schon irgendwie siegreich bestehen.
4. Verfestigung der politischen Lage einerseits und ihre theologische Transzendierung andererseits
Als mit der Einbindung der Bundesrepublik in die NATO und der DDR in den Warschauer Vertrag und endgültig mit dem Mauerbau 1961 klar wurde, dass es zu einer Wiedervereinigung Deutschlands so schnell nicht kommen würde, setzten in den Kirchen Reflexionen über ihre Rolle in der sozialistischen Gesellschaft ein. Wenn mit dem DDR-Sozialismus auf längere Zeit zu rechnen war, musste man zu ihm auch ein lebbares Verhältnis finden. Die theologische Transzendierung der Lage erfolgte allerdings auf Kosten ihrer realistischen Erfassung.
Eine seinerzeit verbreitete Argumentation lief auf die Behauptung hinaus, dass die DDR kein weißer Fleck auf der Landkarte Gottes sei , dass auch der atheistische Staat unter der Herrschaft Gottes stehe, ganz gleich, wie er zustande gekommen sei, und insofern auch legitime Obrigkeit darstelle. Johannes Hamel behauptete, auch die Marxisten könnten sich der Herrschaft Gottes nicht entziehen, sie seien „Dienstmänner Gottes", die selbst da unter dem Befehl Gottes stünden, „wo sie den Christen Schweres zufügen und wo sie Unrecht tun." Damit verbunden war die Abwehr der Einstellung, dass alles Böse aus dem Osten und das Gute aus dem Westen komme. Man dürfe den Westen nicht idealisieren. Hamel konnte auch sagen, dass die geistige Versklavung der Repräsentanten der EKD im Westen schlimmer sei als die Unfreiheit der Christen im Osten. Der sächsische Bischof Johannes Hempel, der 1984 das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der DDR mit dem Begriff „Grundvertrauen" charakterisiert hatte , lieferte ein Jahr später in einem Vortrag vor der sächsischen Landessynode über die „Kirche der Zukunft" einen typischen Beleg für die verbreitete Umdeutung des realen Machtgefälles durch die Vertreter der Kirchen. Hempel meinte, die Kirche schade sich mit zwischenmenschlichen Konflikten mehr als uns jemals der Atheismus unseres Landes schaden kann." Um eine positivere Wendung hatte sich Heino Falcke bemüht als er 1972 auf der Synode des BEK in Dresden sagte, dass die Christus-Verheißung auch in der sozialistischen Gesellschaft gelte. Diese Gesellschaft müsse nicht so bleiben wie sie ist. Vielmehr werde man „unter der Verheißung Christi die Gesellschaft nicht loslassen mit der engagierten Hoffnung eines verbesserlichen Sozialismus".
Fragt man nun, wie überzeugend diese Argumentationsmuster für die Kirchenführer selbst im Nachhinein sind, so kommen auch ihnen Zweifel. Christoph Demke, der letzte Vorsitzende des BEK etwa spricht von dem Ungesagten, das mit dem Gebrauch bestimmter Argumente verbunden gewesen sei. Man habe sich „mittels theologischer Formeln zu etwas überredet, von dem man, bei Lichte besehen ..., hätte sagen müssen: Nein, nein, das meinen wir natürlich nicht." Heino Falcke überrascht uns mit der Aussage, dass es für die Hoff-ung auf einen verbesserlichen Sozialismus keine „wirklich greifbaren Anhaltspunkte" in der Realität gab.
Natürlich verwundert es einen, wenn man die einstigen theologischen Legitimationsformeln mit den Aussagen im Nachhinein vergleicht. Und man fragt sich auch, warum die Kirchenführer einen so hohen argumentativen Aufwand betrieben, wenn sie ihren Aussagen selbst so wenig zugetraut haben. Warum riefen Sie z. B. zur Verbesserung des Sozialismus auf, wenn es für diese Hoffnung keinerlei Anknüpfungspunkte in der Realität gab, ja wenn es sogar ausreichend Gründe dafür gab, gegen diesen Sozialismus zu sein?
Hier nun müssen die bereits angedeuteten sozialstrukturellen Gründe beachtet werden:
Die Anpassungsbereitschaft der Kirchenleitungen wurde nicht allein durch die äußere Verfestigung der politischen Machtverhältnisse befördert. Eine weitere zentrale Lernerfahrung war, dass die christliche Bevölkerung den Benachteiligungen durch das DDR-System nicht gewachsen war. Eklatant deutlich wurde dies durch den verlustreichen Kampf der Kirchenleitungen gegen die Jugendweihe. Der staatliche Druck gegen die Kirchenmitglieder wurde immer massiver und führte zu Diskriminierungen, besonders zur Verweigerung höherer Bildungsabschlüsse für jene, die sich dem sozialistischen Initiationsritual verweigerten. Die Mehrheit der Bevölkerung wollte aber ihre Ausbildungschancen nicht gefährden, beugte sich dem Druck des Staates und ging zur Kirche immer mehr auf Distanz. Werner Krusche erklärte rückblickend über diese Auseinandersetzungen: „Dass die Gemeinden uns im Stich gelassen haben, das war ein Schock". Johannes Hamel verglich die Kirchenleitung mit Offizieren, die gegen die Jugendweihe mit gezogenem Degen vorneweg gegangen seien, während die Gemeinden hinten in den Schützengräben saßen und sagten „Donnerwetter, alle Achtung!" Und Krusche weiter: „Wir haben danach nie mehr gewagt, die Gemeinden vor solch ein Entweder-Oder zu stellen ...Das hat schlimm geprägt und Ängste in uns hervor-gerufen, die wir nie mehr ganz losgeworden sind."
Seit dieser Auseinandersetzung war den Kirchenleitungen klar, dass die Kirche gegenüber dem Staat die klar unterlegene Partei ist. An dieser Stelle kommt aber noch ein dritter Punkt hinzu: die Herausforderungen für die Kirche waren nicht nur politischer Natur, sondern la-gen auch in Prozessen der Modernisierung, Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft begründet, die auch die vorpolitischen Bereiche des Lebens betrafen. Damit verbunden waren Tendenzen einer Liberalisierung der Alltagskultur, die auch in der DDR zum Zuge kamen und häufig mit dem Begriff des Wertewandels beschrieben werden. Die Kirchen mussten also damit rechnen, dass sich die Menschen nicht nur aus politischen, sondern auch aus anderen Gründen von der Kirche abgewendet hatten.
Viertens sind die Kirchen in ihrer Annäherung an das DDR-System auch von außen, aus der Ökumene und dem Westen bestärkt worden. Zu nennen ist hier z.B. die antikapitalistische Zivilisationskritik in Teilen des westdeutschen Protestantismus. Albrecht Schönherr, der langjährige Vorsitzende der KKL und des BEK (1969-1981), erinnert sich, dass man überall, wo man hinkam, besonders im Ausland, „bewundert (wurde) für die Möglichkeit, in diesem Staat einigermaßen klar zu kommen. ... Überall merkte man, dass die Leute die Art, wie wir mit diesem Staat umgingen, durchaus akzeptierten. Sie hielten das für den einzig möglichen Weg. Man musste ja damit rechnen, dass wir kaum noch etwas Anderes erleben würden als die DDR."
Damit ist ein fünfter Punkt benannt, der die Annäherung der Kirchen an den Staat befördert hat: das Vergehen der Zeit. Es ist unmöglich, sich jahrzehntelang einer Gesellschaft zu verweigern, der man ausgeliefert ist und in der man auch wirken will. Nach Jahren der Konfrontation war den Kirchen eines klar geworden: dass Verweigerung und Opposition nicht weiterführen, dass ihnen bei einem konfrontativen Kurs die Mitglieder weglaufen und sie sich damit nur selbst schaden. Wenn sie die staatlichen Repressionen verringern, ihre Handlungsspielräume bewahren wollten, mussten sie ihre theologisch begründeten Vorstellungen von der Freiheit und Würde des einzelnen und vom Wächteramt der Kirche zurückstellen und auf alles verzichten, was als staatsfeindlich auslegbar war. Angesichts der Übermacht der politischen Verhältnisse war ein gewisses Maß an Anpassung also unausweichlich. Fragt man nun, ob die Kirchenführer das, was durch politischen Zwang von ihnen gefordert wurde, innerlich bejaht haben, so sind darauf zwei Antworten zu geben: Viele auch der führenden Kirchenleute haben sich dem staatlichen Druck innerlich nicht gebeugt. In einer asymmetrischen Kommunikationssituation darf nicht jede staatsfreundliche Äußerung als Ausdruck ernstgemeinter Überzeugungen behandelt werden. Man wollte etwas erreichen, von der Reparatur eines Kirchendachs bis zur Unterstützung für einen Kirchentag oder auch nur die Gesprächsatmosphäre zu seinem Gegenüber für kommende Verhandlungen verbessern.
Auf der anderen Seite - und dies ist die zweite Antwort - mussten die Kirchenvertreter das, was sie öffentlich sagten, auch innerlich vertreten können. Sonst hätten sie ihre Glaubwürdigkeit auch vor sich selbst verloren. Dabei ist interessant, und damit möchte ich schließen, dass diejenigen, die an ihrer inneren Reserve festgehalten und sich nur äußerlich angepasst haben, letztlich weniger gesellschaftskritisch wirksam geworden sind als diejenigen, die sich mit dem Staat auch innerlich auseinandergesetzt und dabei seine Ideologie teilweise auch akzeptiert haben und dann auch in der Öffentlichkeit staatskritisch aufgetreten sind. Insofern kann man sagen, dass gerade diejenigen gesellschaftskritisch wirksam werden konnten, die sich auch selbst von der Gesellschaft verwandeln ließen.
Dr. Hagen Findeis, Universität Halle
hagen.findeis@theologie.uni-halle.de