Motettenansprache

  • 03.01.2025
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

PDF zur Motettenansprache HIER

Liebe Motettengemeinde,
das Morgenlicht ist angebrochen.

Das Morgenlicht – es war gerade angebrochen.
Die Kamera folgte der jungen Frau ans Fenster, an dessen Scheiben Eisblumen wuchsen,
die in umso stärkerem Kontrast das purpurne Leuchten aufgeblühter Hyazinthen erstrahlen ließen. Hyazinthen in kleinen Töpfen auf dem Fensterbrett; sieben an der Zahl.
Von überirdischer Schönheit war dieser Augenblick und im selben Moment von äußerster Zerbrechlichkeit.
Genau so, wie die Gestalt der jungen Frau im Gegenlicht des für den Film inszenierten Morgenlichts wirkte: überirdisch schön und stark und gleichzeitig zerbrechlich und – ja – gebrochen bis über den Rand der Verzweiflung.
Die nächste Kameraeinstellung wird wie im Vorübereilen die geköpften Hyazinthenzwiebeln auf dem Fensterbrett streifen und die Frau, die eine Mutter ist, auf dem Gottesacker wiederfinden. Die Arme weit ausgebreitet auf der Grabplatte, in die in barocken Lettern die Namen ihrer sieben verstorbenen Kinder eingraviert sind. Die sieben purpurfarbenen Hyazinthen darauf.

Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen.

Liebe Motettengemeinde, Sie haben es wahrscheinlich längst erkannt. Ich habe Sie mitgenommen in eine Szene inmitten des Bach – ein Weihnachtswunder Films. Fast bin ich versucht zu fragen, wer von Ihnen in diesen Weihnachtstagen den Film schon gesehen oder ihn noch nicht gesehen hat. (Kopfnicken, Kopfschütteln)
Ich ergreife jetzt, da ich gerade eine der vielen starken Szenen mit Anna Magdalena beschrieben habe, einmal die Gelegenheit, die immer wieder stark berührende Darstellungsweise, sozusagen die Lesart des Films hervorzuheben. Ich möchte diese Lesart als eine auf der ganzen Linie ALTERNATIVE bezeichnen. Da ist der kongeniale, höchst begabte, von einem immensen Schaffensethos bewegte Johann Sebastian. Und da ist die unglaublich starke, tief empfindende und mit Gott ringende, immer wieder städtisch klug kommunizierende Anna Magdalena. In einer Schlüsselszene des Films, in der die Dämme von zurückgehaltener Trauer und Verzweiflung, von Angst und Gottessuche brechen, begegnen sich beide – Anna Magdalena und Sebastian – neu und stark und innig: einander und dem Himmel verbunden.

Nun sehe ich es allerdings nicht als meine Aufgabe an, in einer Motettenansprache Werbung für einen Film zu machen. Nein. Motiviert hat mich eine kleine Szene, zu finden nach exakt 60 min:

Der 24jährige Bachsohn Wilhelm Friedemann versammelt hier die Thomaner am Orgelspieltisch und schärft ihnen ein, sie würden „nur ein kleines Weihnachtslied“ proben: „nur ein kleines Weihnachtslied!“. Die Thomaner ruckeln sich zurecht. Wilhelm Friedemann setzt die Hände auf die Tasten; er gibt durch ein Nicken den Einsatz. Einer der bekannten Choräle aus dem Weihnachtsoratorium, gleich aus der 1. Kantate, nachdem der Engel sein „Fürchtet euch nicht“ gesungen hat. G-Dur, strahlend, herrlich. Das Licht geht auf, der Morgen bricht an.

Doch was ist das?!! Ich kann meinen Ohren nicht trauen. Was singen die Thomaner da, besser gesagt: was lässt die Tonspur des Films da hören?
„Du Hirtenvolk erschrecke nicht
und lass den Himmel tagen.“
Ich glaube immer noch, mich verhört zu haben. Ich halte den Film an. Ich spule zurück. Tatsächlich!
Statt des Choraltextes „Brich an, o schönes Morgenlicht und lass den Himmel tagen. Du Hirtenvolk, erschrecke nicht, weil dir die Engel sagen ...“ hat das Filmteam die verkehrten Tonstücke zusammengeschnitten. Das Groteske an der Szene ist, dass die Thomaner die richtigen Mundbewegungen machen. Brich an, o schönes Morgenlicht. Die Tonspur aber: Du Hirtenvolk, erschrecke nicht.

So was passiert eben. Nicht so wild.
Finden Sie? Meinen Sie das? Wirklich?
Mir geht es anders: Mich macht ein solcher Faux pas in einem Film, den Millionen von Menschen sehen werden, zuerst richtig wütend und dann tieftraurig.

„Du Hirtenvolk erschrecke nicht
und lass den Himmel tagen.“
Was ist das denn für ein inhaltlicher Mist? Gab es irgendjemanden in dem Filmteam, der das inhaltlich hinterfragt hat? Kann das wirklich sein, passt das zu dem Weihnachtsgeschehen, wie wir es aus dem Evangelium von Lukas kennen? Sollte es wirklich Gegenstand der Verkündigung sein, das ein unerschrockenes Hirtenvolk den Himmel tagen lassen soll?! Gehört es zu den Fähigkeiten eines Hirten, ein solches Wunder – dass es mitten in der Nacht Tag wird – zu bewirken und zu veranstalten?!!

Nein.
Das vermag kein Hirte, so unerschrocken er oder sie auch sein mag.
Das vermag nur Gott: dass mitten hinein in die Finsternis von Nacht und Trauer und Verzweiflung und Not es Tag wird; dass das Morgenlicht anbricht.

„Brich an, o schönes Morgenlicht
und lass den Himmel tagen.“

Vielleicht wäre das dem Filmteam ja nicht passiert, wenn es – im Abspann habe ich nichts dergleichen entdecken können – neben der so wichtigen musikwissenschaftlichen auch eine theologische Beratung gegeben hätte. Dann wäre die Schlusssequenz mit der Aufführung der Kantate 1 womöglich nicht zu einem konzertanten städtischen Event geraten. Sondern wir hätten ein Stück Lukasevangelium mit der froh machenden Weihnachtsbotschaft gehört, auf das Bach und seine Familie und seine Thomaner mit
Jauchzet frohlocket
geantwortet haben.

Überall dort, wo Kirchenmusik in Kirchen erklingt, ist sie getragen von Texten aus der Bibel und durchwirkt von Gottes Geist. Menschen, die für uns geistliche Musik zur Aufführung bringen, haben sich mit ihr immer auch theologisch auseinandergesetzt, haben über ihren Verkündigungswert reflektiert und bringen die Botschaft von Gott darin zum Klingen.

Danke an diejenigen, die genau dies für uns in der heutigen Motette tun.

Amen

Prädikantin Dr. Almuth Märker