Motettenansprache zur Röm 8,26f.: „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“
- 07.02.2025
- Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle
PDF zur Motettenansprache HIER
Liebe Gemeinde,
unter den Musikstücken, die die Thomaner heute für uns mitgebracht haben, bin ich an Bachs Motette „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“ hängengeblieben. Nicht nur, weil das eine ausgesprochen fein ausgearbeitete Komposition ist, sondern weil sie auf einen besonders nachdenkenswerten biblischen Text zurückgreift: Es sind Worte aus dem Brief, den der Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom schreibt. Eines der Themen, die diese Gemeinde beschäftigten, war der Sinn von Gebet. Warum eigentlich beten? Wie macht man das? Und „bringt“ das etwas? Können wir denn überhaupt irgendetwas sagen, was zu Gott durchdringt. Gott ist ja nicht einfach der geduldige Kumpel, der gütige Beichtvater oder der Alles-Versteher, sondern jemand, der alles übersteigt, was wir denken und begreifen können. Dazu schreibt Paulus die Worte, die Bach dann vertont hat (Röm 8,27f.):
Der Geist nimmt sich unserer Schwachheit an; denn wir wissen nicht, was wir eigentlich beten sollen; der Geist selbst jedoch tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen.
Ich kann mir vorstellen, dass Paulus dabei an Erfahrungen denkt, die man immer wieder macht: „Da fehlen mir die Worte“, „Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll“ – so höre ich mich oft agen. „Dafür habe ich keine Worte“, „das verschlägt mir die Sprache“. Es gibt Dinge, die einen sprachlos machen, weil sie besonders schön oder aber besonders schlimm sind. Es gibt Dinge, die machen keinen Sinn, passen in keine Logik, die ziehen einem den Boden unter den Füßen weg. Was soll man dann noch sagen, geschweige denn ‚beten‘?
Manchmal ist es gut, sprachlos zu sein. Manchmal ist es gut, der Versuchung zu widerstehen, über die eigene Sprachlosigkeit hinweg zu labern. Ich für meinen Teil finde es erstaunlich, aber auch ein Stück weit unerträglich, mit welcher Kaltschnäuzigkeit manche Zeitgenossen in den sozialen Netzwerken ihre Umwelt zutexten. Manche Menschen reden heute so viel und so inkontinent, als ob ihr Leben daran hinge. Manche reden sie auch so, als wäre alles klar, alles easy, als hätten sie gestern noch mit dem lieben Gott gefrühstückt …
Nein, Sprachlosigkeit ist manchmal ein guter Anfang. Sprachlosigkeit ist ehrlich, täuscht keine Souveränität vor, die am Ende doch nur Selbstbetrug ist. Es gibt so vieles, was einen heute sprachlos machen kann – ganz persönlich, aber auch wenn man in die Welt hineinhört und hineinschaut. Da fehlen die Worte, weil das Leid zu groß ist, weil Menschen einander Dinge antun, die einem den Atem nehmen.
Aber für Paulus ist Sprachlosigkeit der Moment, in dem wir wirklich anfangen, zu Gott zu beten – nicht mit irgendwelchen Worten, sondern mit unaussprechlichem Seufzen. Gott braucht keine Grammatik, keine richtigen oder falschen Sätze, nichts Gemachtes oder artig Vorbereitetes. Gott hört und versteht und ist nahe, wenn die Stimme bricht und die Sprache versagt. Gebet heißt nicht, Gott überzeugen oder in irgendetwas hineinquatschen zu wollen. Als ob das überhaupt möglich wäre! Gebet heißt, in unerklärter Ehrlichkeit, in ungereimter Verwundbarkeit vor Gott zu sein und sich ihm die Arme zu werfen.
Nach Paulus können wir so beten – ohne Worte, ohne Duden –, weil, wie er das formuliert, der Geist für uns eintritt mit unaussprechlichem Seufzen. Zugegebenermaßen kein einfacher Gedanke, denn wer oder was sollte dieser Geist sein, der seufzt, wenn uns die Sprache wegbricht?
Paulus war der Meinung, dass wir Menschen sozusagen zwei Wesen in einem sind. Einerseits sind wir Wesen aus Fleisch, Blut und Gehirn, mit Verstand und Gefühlen. Und so bewegen wir uns durch die Zeit, reimen uns die Welt zurecht, schauen, wie wir durchkommen. Aber wir sind andererseits auch Wesen, die über den Tellerrand des Augenblicks hinausblicken, die nach dem Sinn von alle dem fragen, was uns widerfährt, die sich nach einem Leben sehnen, dass es so (noch) nicht gibt.
Geist ist der Mensch in uns, der mehr will, der nach Gott fragt. Der geistliche Mensch ist der, der seufzt und nicht labert, der sich nach Erlösung ausstreckt und sich nicht im Glück des Augenblicks einlullt.
So, wie wir jetzt sind, sind wir für Paulus immer beides, natürlicher und geistlicher Mensch, auch wenn die beiden nicht immer am gleichen Strang ziehen. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ – auch das ist ein Satz des Neuen Testaments (Mt 26,41). Und es ist okay, dass wir beides sind. Aber wir sollen auch wirklich beides sein, also immer auch geistlicher Mensch, der sehnt und seufzt, der nach Gott fragt, der zweifelt und manchmal auch verzweifelt, weil die Welt, so wie sie ist, nicht genug ist; der geistliche Mensch, der sich aber auch wirklich freut und jubelt in den Momenten, in denen das Leben gelingt, in denen ein Stück Himmel auf die Erde kommt.
Das Leben in seiner ganzen Tiefe und all seinen Höhen ist das Leben des geistlichen Menschen. Und von diesem Geist in uns kann Paulus sagen, dass er betet – eigentlich immer, in jedem Moment,
auch wenn ich mir dessen gar nicht bewusst bin,
wenn mein Kopf gerade ganz woanders ist,
auch wenn mir der Sinn gar nicht nach beten steht oder weil ich kein so besonders religiöser Menschen bin.
Der Geist betet, vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen, auch wenn dem Kopf die Worte fehlen oder wenn wir zu viele Worte machen.
Der Geist betet – dazu braucht es keine gefalteten Hände und auch keine Kirche. Dieses Beten geschieht, weil wir in jedem Moment unseres Lebens – und darüber hinaus – in Gottes Nähe sind, bewusst oder unbewusst, so abgründig und fern sich das auch manchmal anfühlt.
Der Geist betet – das ist etwas zutiefst Tröstliches, weil wir sonst eigentlich nur geistlos quasselnde Materie wären. Und leider erwecken ja manche Zeitgenossen zumindest den Eindruck, dass das so ist. Ein laufender Bundestagswahlkampf lässt einen nicht unbedingt daran glauben, dass Worte auch etwas Sinnvolles sein können.
Paulus jedenfalls ermutigt uns dazu, diesem Geist in uns Raum zu geben, ihn nicht klein zu machen, ihn nicht mit Worten zu übertönen, sondern das sprachlose Sehnen und Seufzen zuzulassen, weil uns das die Kraft zu einem Leben in seiner ganzen Höhe und Tiefe verleiht. Und da ist es gut, dass wir das heute von den Thomanern in gesungener Form gehört haben. Gesang und Musik liegen an der Schwelle des natürlichen und des geistlichen Lebens. Es sind eben nicht nur die Stimmbänder, die singen, sondern der Geist, und in jedem Gesang, in jeder Musik klingt es ein bisschen mit, dieses unaussprechliche Seufzen.
Dann sei es so, dann lasst uns jetzt auch gemeinsam singen!
Amen.