Motettenansprache zu Kantate BWV 26 

  • 09.11.2024
  • Kirchenrat Lüder Laskowski

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Evangelium Mt 9,18-26


18Als er dies mit ihnen redete, siehe, da kam einer der Oberen, fiel vor ihm nieder und sprach: Meine Tochter ist eben gestorben, aber komm und lege deine Hand auf sie, so wird sie lebendig. 19Und Jesus stand auf und folgte ihm mit seinen Jüngern.
20Und siehe, eine Frau, die seit zwölf Jahren den Blutfluss hatte, trat von hinten an ihn heran und berührte den Saum seines Gewandes. 21Denn sie sprach bei sich selbst: Wenn ich nur sein Gewand berühre, so werde ich gesund. 22Da wandte sich Jesus um und sah sie und sprach: Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Und die Frau wurde gesund zu derselben Stunde.
23Und als Jesus in das Haus des Oberen kam und sah die Flötenspieler und das Getümmel des Volks, 24sprach er: Geht hinaus! Denn das Mädchen ist nicht tot, sondern es schläft. Und sie verlachten ihn. 25Als aber das Volk hinausgetrieben war, ging er hinein und ergriff es bei der Hand. Da stand das Mädchen auf. 26Und diese Kunde erscholl durch dieses ganze Land.

Kantate BWV 26 „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“


Liebe Motettengemeinde,
zwei Heilungsgeschichten haben wir gehört. Ein trauernder Vater und eine schmerzgeplagte Frau lassen alle Vorstellungen fallen, sie könnten das Leben aus eigener Kraft erhalten. Sie stehen beide an einem Punkt, an dem ihnen unüberwindlich deutlich vor Augen geführt wird, welche Grenzen dem Leben gesetzt sind. Bei der Frau ist es wie der Tod im Leben. Ihr Leid, verweist auf den Tod. Das Blut ist Symbol für das abfließende Leben. Bei dem Mann ist es der Verlust eines geliebten Menschen. Er steht für die Schmerzen derer, die zurückbleiben im Leben.
Beide Geschichten bleiben im Leben. Sie schildern nicht den Schmerz und sagen nichts über den Tod. Stattdessen kommt der Glaube in den Blick. Durch den Glauben ragt der Tod nicht ins Leben, sondern das Leben in den Tod. Nicht der Tod, nicht der Schmerz, nicht die Trauer bestimmen das Leben. Das Leben überwindet den Tod und gewinnt Herrschaft jetzt. Für diejenigen, die diese Ereignisse weitererzählten, muss klar gewesen sein: hier wird eine neue Realität sichtbar. Sie wird sichtbar mitten in der Vergänglichkeit. 
Ich kenne einen sehr alten Pfarrer. Mit 90 Jahren fährt er noch durch die Täler und über die Berge auf die kleinen Dorffriedhöfe im Erzgebirge. Dort feierte er seit geraumer Zeit fast nur noch Beerdigungsgottesdienste für Menschen, die er selbst gekannt, die ihn teils Jahrzehnte im Leben begleitet hatten. Einmal unterhielten wir uns darüber, was sich verändert hat über die Jahre, welche biblischen Texte oder Lieder noch als angemessen empfunden werden und welche nicht.
Wir waren uns einig. Größte Ablehnung erfahren Texte und Lieder, die von der Sehnsucht nach Gott sprechen und dabei das Leben zurückweisen. In einem ehemals beliebten Choral heißt es: „Christus der ist mein Leben / Sterben ist mein Gewin / Dem thu ich mich ergeben / Mit Fried fahr ich dahin.“ Das sind Worte, die heute auch den Frömmsten kaum mehr über die Lippen gehen. Auf meine Frage, was man denn dann sagen soll, wenn keine Sehnsucht mehr über den Tod hinausreicht, antwortete er mir: „Bleiben Sie doch einfach bei denen, die zurückgeblieben sind.“ 
Für einen alten Menschen, der sein Leben lang aus dem christlichen Glauben gelebt hat und das auch glaubhaft weitergeben konnte, ein bemerkenswerter Satz. Lassen sie sich auf die Schmerzen im Diesseits ein. In den Schmerzen kann schon das Versprechen auf eine andere Wirklichkeit liegen. Das ist widersprüchlich. Es ist ein Aufbäumen gegen die Welt, wie sie ist. Aber in dem alten Seelsorger ruhte das feste Vertrauen, dass sich der Glaube Bahn brechen wird. Er fügte noch einen Liedvorschlag an, einen Choral, dem auch die Menschen in der späten Moderne zustimmen könnten: „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig / Ist der Menschen Leben! / Wie ein Nebel bald entstehet / Und auch wieder bald vergehet, / So ist unser Leben, sehet!“ „Das können die Leute mitsingen.“, sagte er. „Das Gefühl der Vergeblichkeit kennen sie.“ Es ist eine Meditation, dieses Lied, wenn Strophe um Strophe die Nichtigkeit beschworen wird. Im originalen Text 13 Strophen lang. „Und ehe sie sich versehen“, so fuhr er fort, „haben sie auch den letzten Satz mitgesungen. Weil er dann plötzlich der einzige Ausweg ist. Das merken sie.“ Der letzte Satz lautet: „Wer Gott fürcht‘, bleibt ewig stehen.“
Der Text der Bachkantate ist vorsichtig. Er kommt nicht triumphierend daher. Ganz im Gegenteil. Er steigt tief ein das naturgegebene Wesen menschlichen Lebens bis hin zum alten Motiv des Totentanzes, auf den vom Bettler bis zum Papst alle mitmüssen, in der letzten Arie. Es ist in der Kantate wie im Choral der allerletzte Satz, der die Meditation abschließt. Er ist der entscheidende. Er legt unvermittelt und klar ein Bekenntnis ab. Nachdem in der Kantate über mehrere Arien und Rezitative hinweg die Grenze zwischen Leben und Tod abgeschritten worden ist, mit einem wehmütigen Blick ins Leben, schwenkt erst der letzte Satz ins Ewige. Die Tage, Jahre, Jahrzehnte Leben finden in einem Moment ein Ende. Und in diesem letzten Moment verbindet sich alle Lebenshaltung schon jetzt mit den Lebensmöglichkeiten über Schmerz und Tod hinaus. „Wer Gott fürcht.“ Das bedeutet: wer Gott im Leben hält, ihn mit sich trägt, wer ihn nicht loslässt. Für den wird der Schlusspunkt zum Komma: „… bleibt ewig stehen.“ Was wiederum einen enormen Einfluss schon jetzt auf sein Leben hat. Die Gegenfolie wurde uns ja zuvor ausgiebig vor Augen gehalten. Nichts anderes tun der trauernde Vater und schmerzgeplagte Frau im Evangelium Jesus gegenüber. In der Trauer, im Schmerz stehen sie unausweichlich an den Grenzen, die Menschen gesetzt sind. So halten sie sich an Jesus. So halten sie sich im wahrsten Sinne des Wortes an ihm fest.
Ja. Ich hätte an einem 9. November in die Geschichte schauen können, in die großen Ereignisse und ihre Widersprüchlichkeit zwischen der schmerzhaften Erinnerung an die Reichsprogromnacht 1938, dem euphorischen Mauerfall 1989 blicken können – und dann darauf, was heute daraus geworden ist. Auf den Irrsinn unserer Tage. Aber lassen Sie doch einmal die Meditation der Nichtigkeit menschlichen Strebens in der gleich folgenden Kantate Johann Sebastian Bachs in sich hineinfallen unter den Bildern und Sorgen, die sie heute beschäftigen – persönlich und gesellschaftlich. Dann wird der letzte Satz eindrücklich und möglichweise plötzlich sehr plausibel nachhallen: „Wer Gott fürcht, bleibt ewig stehen.“