Motettenansprache zu EG 396 - Jesu, meine Freude - Teil 2
- 25.03.2017
- Pfarrer Hundertmark
25.3.2017, St. Thomas zu Leipzig um 15 Uhr
Liebe Motettengemeinde,
heute auf den Tag genau vor 60 Jahren wurden die Römische Verträge unterschrieben und damit der gemeinsame Wille ratifiziert, eine europäische Union freier, demokratischer Staaten zur gründen. Aus den Erfahrungen eines schrecklichen Weltkrieges lernend, übernahmen Staatenlenker Verantwortung für die Zukunft ihrer Zeitgenossen und deren nachfolgenden Generationen. Getrieben von der Vision, ein freiheitliches Europa, in dem sich die Menschen bewegen können, um gemeinsam an einer besseren Zukunft zu bauen, konnte hinter sich gelassen werden, was durch die Auswirkungen des Krieges noch trennend war. Ein weiterer Schritt zur Versöhnung wurde gegangen, um Hass und Nationalegoismus überwinden zu können.
Sechs Jahrzehnte später, so scheint es, stehen die Staatenlenker vor einem Scherbenhaufen. Uneinigkeit, Nationalismen sowie ein großes Misstrauen bestimmen die Treffen, stets von der Angst getrieben, im eigenen Land dafür politisch geprügelt zu werden, wenn Entscheidungen nicht ausreichend auch die nationalen Interessen berücksichtigen. Im Hause Europa zieht es gewaltig, weil Fensterscheiben eingeworfen wurden und sich die Baumeister auf keinen gemeinsamen Reparaturauftrag einigen können.
Umso drängender stellt sich die Frage: Wie soll unsere Zukunft aussehen? Wollen wir wirklich das Europa der inneren Abschottung mit Zöllen, Grenzkontrollen und wachsendem Misstrauen? Dann würden wir denen Recht geben, die auf allen Ebenen versuchen, mit geschürter Angst, mit falschen Fakten von den eigentlichen Problemen abzulenken, um Partikularinteressen durchzusetzen.
Visionen dürfen freilich nicht blauäugig machen. Und wo Euphorie sich dauerhaft des Verstandes bemächtigt, gilt es ebenso wachsam zu sein. Doch wer die guten Erfahrungen eines freien Europas jetzt über Bord wirft, verspielt die Zukunft seiner Staatsbürger für viele Jahre. Möge erneuert werden, was dem Leben dient und zwar derjenigen, die hier sicher wohnen, wie auch derer, die sich momentan auf der Verliererseite globalisierter Machtmechanismen wiederfinden. Die Verständigung auf eine Wertegemeinschaft, in der Demokratie, Freiheit, Bildung und Toleranz zum Maßstab gemeinsamen Lebens werden, ist schwieriger geworden, weniger wichtig allerdings nicht.
So wie die Väter der Europäischen Union aus den Eindrücken des vergangenen Krieges handelten, so prägte den Textdichter des Chorals „Jesu, meine Freude“, Johann Franck, die Erfahrungen des 30-jährigen Krieges. Das Hauen und Stechen, sinnloses Morgen und Schänden völlig verrohrter Menschen hinterließ tiefe Spuren bei der damaligen Generation.
Worauf noch hoffen, wenn alles hoffnungslos zerstört ist? Woran sich festhalten, wenn jeglicher Halt in den Auseinandersetzungen wegrutscht? Als fromme und gläubige Christen haben Franck wie auch der Zeitgenosse Paul Gerhardt Lieder geschrieben, um die Menschen aufzubauen. An vielerlei Abgründen stehend, entdeckten sie, dass nichts die Beziehung zu einem freundlich entgegenkommenden Gott kaputt machen kann, kein Elend, keine noch so große Not und auch der Tod nicht.
Johann Franck übernahm später selber politische Verantwortung als er in seiner Geburtsstadt Guben Ratsherr und später bis zu seinem Tod 1677 Bürgermeister wurde. Tagtäglich umgeben von Problemen des politischen Alltags, von Entscheidungen, die es zu treffen galt, hielt er daran fest, dass sein Kompass sich nicht an Umfragewerten ausrichtet, sondern an demjenigen, der sein Leben in den Händen hält – Jesus Christus.
Wenn er in der fünften Strophe des Liedes schreibt: „Gute Nacht o Wesen, das die Welt erlesen, mir gefällst du nicht“, so macht er deutlich: mit weltlich-politischen Maßstäben lässt sich ein Menschenleben nicht allein messen. Denn diese anfällig für Verschiebungen je nach Interessenlage. Was aber feststeht, ist der Maßstab göttlicher Liebe, die auch vor Tod und Gewalt nicht kapituliert, sondern sich hingibt, um zu erlösen.
Und im weiteren Verlauf heißt es „dir sei ganz, du Lasterleben, gute Nacht gegeben“, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass nicht Stolz und politische Macht das Leben eines Menschen ausmachen, sondern einzig und allein die Würde, die er aufgrund seines Menschseins hat. Dabei spielt es keine Rolle, ob er gesund oder behindert ist, ob er klug oder weniger begabt ist. Denn als Geschöpf Gottes ist er es wert, geachtet zu werden. Wenn nun heutzutage viel darauf abgehoben wird, dass wir uns auf die christlichen Werte des europäischen Abendlandes besinnen sollen, dann liegen diese Werte genau darin begründet.
Ob jeder, der in Betrübnis, im Gefängnis oder in tiefer Trauer steckt, aus voller Kehle singen kann, dass auch „denen, die Gott lieben, muss auch ihr Betrüben lauter Freude sein“, stelle ich gerne ein wenig in Frage. Was aber außer Frage steht ist dies: Nichts kann mich trennen von Christus, weil er mich für würdig befindet, geliebt zu werden.
Die Trauergeister müssen weichen. Ihre Macht ist begrenzt. Angst wird nicht gewinnen – das zeigt jeder Sonntag, wenn wir das Auferstehungsfest Christi feiern. Jesus ist der Freudenmeister. Sich ihm anzuvertrauen, ist der Beginn einer wunderbaren, tiefgründigen und spannenden Freundschaft. Amen.
Pfarrer Martin Hundertmark (hundertmark@thomaskirche.org)